Am Freitag, dem 30. Oktober, vier Tage vor der Wahl, ging der Vorsitzende Milley die neuesten sensiblen Informationen der Geheimdienste durch, und was er da las, war alarmierend: Die Chinesen glaubten, die USA würden einen Angriff auf sie planen.
Milley wusste, dass das nicht stimmte. Aber die Chinesen waren auf höchster Alarmstufe, und immer, wenn eine Supermacht auf »Alarmstufe Rot« schaltet, eskaliert die Gefahr eines Krieges. Medienberichte in Asien waren voller Gerüchte und Gerede von Spannungen zwischen den zwei Staaten wegen der Militärübungen unter der Bezeichnung »Freedom of Navigation« im Südchinesischen Meer, bei denen die U. S. Navy regelmäßig Schiffe in bestimmte Zonen dirigierte, um die maritimen Gebietsansprüche der Chinesen infrage zu stellen und die Freiheit der Meere zu propagieren.
Es gab Andeutungen, Trump könnte vielleicht vor der Wahl noch schnell einen Krieg anzetteln — nach dem Vorbild der Filmsatire Wag the Dog — Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt aus dem Jahr 1997 —, um seine Wähler anzustacheln und Biden noch abzufangen.
Misslungene Kommunikation war schon öfter der Auslöser von Kriegen gewesen. 1987 hatte Admiral William J. Crowe, Vorsitzender des Generalstabs unter Präsident Ronald Reagan, einen vertraulichen Kommunikationskanal zur Führung der Streitkräfte der Sowjetunion aufgebaut, um einen versehentlichen Krieg zu vermeiden.1 Crowe hatte Präsident Reagan über die Entscheidung, die nationale Sicherheit in die eigene Hand zu nehmen und direkt mit Marschall Sergei Achromejew zusammenzuarbeiten, dem Chef des sowjetischen Generalstabs, gar nicht erst informiert.
Milley war klar, dass seine unmittelbaren Vorgänger, die Generäle Martin Dempsey und Joseph Dunford, ähnliche Verbindungen zur militärischen Führungsriege in Russland und China arrangiert hatten.
Und Milley wusste, dass er in Krisenzeiten beim russischen General Waleri Gerassimow oder General Li Zuocheng von der Volksbefreiungsarmee anrufen konnte.
Dies war ein solcher Moment. Zwar hatte er schon öfter verschiedene taktische oder routinemäßige US-Militärmanöver auf Eis gelegt oder abgesagt, die von der anderen Seite als Provokation verstanden oder falsch interpretiert werden konnten, aber das war nicht die Zeit, um nur etwas auf Eis zu legen. Er arrangierte ein Gespräch mit General Li. Trump griff China im Wahlkampf bei jeder Gelegenheit an, gab dem Land die Schuld am Coronavirus. »Ich besiege dieses verrückte, furchtbare China-Virus«, sagte er gegenüber Fox News am 11. Oktober.2 Milley wusste, dass die Chinesen unter Umständen nicht wussten, wo das politische Gerede endete und das Handeln begann.
Damit der Anruf bei Li ein wenig routinemäßiger wirkte, brachte Milley zuerst alltägliche Dinge wie die Kommunikation zwischen den jeweiligen Mitarbeiterstäben und Methoden zur Sprache, die sicherstellen sollten, dass die andere Seite stets rasch zu erreichen war.
Schließlich kam Milley auf den Punkt und sagte: »General Li, ich möchte Ihnen versichern, dass die US-Regierung stabil ist und alles gut werden wird. Wir werden Sie nicht angreifen oder irgendwelche ›kinetischen Militäraktionen‹ gegen Sie durchführen. General Li, wir beide kennen uns jetzt seit fünf Jahren. Wenn wir Sie angreifen, dann werde ich Sie rechtzeitig vorher anrufen. Es würde keinen Überraschungsangriff geben, keinen Blitz aus heiterem Himmel. Wenn es einen Krieg gäbe oder irgendeine Art von militärischen Aktionen zwischen den USA und China, dann hätte dies zwangsläufig einen Vorlauf, so wie es in der Geschichte schon immer gewesen ist. Und es wird Spannungen geben. Und ich werde ziemlich regelmäßig mit Ihnen kommunizieren«, sagte Milley. »Solche Zeiten haben wir im Moment aber nicht. Alles wird gut werden. Es wird keinen Kampf zwischen uns geben.«
»Okay«, antwortete General Li, »Ich nehme Sie beim Wort.«
Milley erkannte sofort, welch wertvollen und wichtigen Kanal er hier hatte. In wenigen Minuten war es ihm gelungen, die Situation zu deeskalieren und Missverständnisse zu vermeiden, die zu einem Zwischenfall oder gar einem Krieg zwischen den USA und China hätten führen können.
Milley konnte von seiner Wohnung in Quarters 6 aus das Lincoln Memorial sehen. Der Nationalfriedhof Arlington war ganz in der Nähe.
»Ich habe 242 Kids dort begraben«, erzählte er anderen später, an einem Sonntagmorgen. »Ich bin an keinem Krieg interessiert, mit wem auch immer. Ich werde das Land verteidigen, wenn es sein muss. Aber Krieg, das militärische Instrument, muss das absolut letzte Mittel sein, nicht die erste Option.«
Trump erzählte er nichts von seinem Gespräch mit General Li.
Unmittelbar vor der Wahl erinnerte Milley die Chiefs, dass die Periode nach dem Wahltag — in den hektischen Monaten zuvor hatte er diese als »Phase 2« tituliert — die gefährlichste Periode für das Land sein würde, mit einer entnervenden Wartezeit zwischen den Wahlen und der Bestätigung des Wahlergebnisses am 6. Januar.
»Wenn Präsident Trump gewinnt, werden die Straßen mit Aufruhr und Unruhen geradezu explodieren. Wenn Präsident Trump verliert, wird es große Diskussionen wegen der Anfechtung der Wahlen geben«, sagte Milley in einem Meeting.
Es gab Hinweise auf anstehende Tumulte auf den Straßen. In den sozialen Medien tönte Trumps Wahlkampagne von der Idee einer politischen Auseinandersetzung in militärischem Stil. Die Briefwahl, die in vielen Staaten wegen der Pandemie genutzt wurde, wurde als betrügerisch und als Werkzeug einer Verschwörung gebrandmarkt.
»Wir brauchen euch in der ›Operation Sichere Wahlen‹ der ARMY FOR TRUMP!«, lautete ein offizieller Post der Trump-Kampagne Ende September. Donald Trump jr. flehte darin »alle körperlich fähigen Männer und Frauen« an, sich dem Bemühen des Präsidenten um »Sicherheit« anzuschließen.3
»Erlaubt ihnen nicht, die Wahl zu stehlen«, sagte Trump jr. »Meldet euch noch heute an.«