Siebenundzwanzig

Die Wahlnacht im Weißen Haus des Donald Trump begann wie alle anderen Trump-Partys der vergangenen vier Jahre zuvor: mit der Bestellung von Fast Food.1 Pizzakartons und Tüten von Chick-fil-A stapelten sich im Roosevelt Room. Der Map Room, wo Franklin Roosevelt die Schlachten des Zweiten Weltkriegs verfolgt hatte, war als Schaltzentrale eingerichtet worden.

Trumps Familie und wichtige Helfer tigerten nervös auf und ab. Auf den TV-Bildschirmen im gesamten West Wing lief Fox News.

In den Monaten vor der Wahl hatte Trump systematisch behauptet, das Ergebnis wäre verfälscht. Wenn er nicht gewönne, wäre es eine gestohlene Wahl. Entweder gehörte ihm der Sieg, oder es war ein einziger Betrug.

Am 22. Juni twitterte er: »MILLIONEN BRIEFWAHLSTIMMEN WERDEN VOM AUSLAND UND ANDEREN QUELLEN GEDRUCKT. DAS WIRD DER GROSSE SKANDAL UNSERER ZEIT2

In seiner eigenen Rede vor der Republican National Convention am 27. August erklärte Trump: »Die einzige Möglichkeit, mit der sie uns diese Wahl nehmen können, ist eine manipulierte Wahl.«3

Früh am Abend des 3. November waren Trumps Verbündete obenauf. Trump gewann eine Reihe roter Bundesstaaten gegen 20 Uhr — Kentucky, West Virginia und Tennessee, unter anderem. Gegen 23 Uhr hatte er Missouri und Utah sicher. Dann, 19 Minuten nach Mitternacht, meldete die Associated Press Ohio als Sieg für Trump.4 Dann Iowa, dann Florida und Texas. Im East Room, wo sich Hunderte Anhänger versammelt hatten, kam Jubel auf.

James Clyburn saß zu Hause nervös vor dem Fernseher. Als Biden anrief, meinte Clyburn, was er da sehe, gefalle ihm gar nicht.

Biden war zuversichtlich. Er sagte, seine Berater wüssten, dass viele Staaten mit dem Auszählen der Briefwahlstimmen im Rückstand waren. Die Biden-Kampagne hatte zur Nutzung der Briefwahl aufgerufen, Trump dagegen hatte immer auf die persönliche Stimmabgabe gedrängt, damit die frühen Ergebnisse in jedem Fall zugunsten des Präsidenten tendieren mussten.

»Ich denke, wir liegen gut im Rennen«, sagte Biden.

Die Stimmung im Map Room verfinsterte sich allmählich.

Drei von Trumps Kindern — Donald Trump jr., Eric Trump und Ivanka Trump, seine Chefberaterin — schauten immer wieder vorbei und nervten die Helfer. Eric fragte nach Daten, die sein Vater in einer Rede zitieren könnte. Er wurde zusehends verärgert, als man ihm sagte, die Zahlen würden sich weiterhin verändern. Viele Staaten zählten noch aus.

Der sogenannte »Decision Desk« von Fox News schlug Arizona kurz vor 23:30 Uhr Biden zu, und den Trump-Fans verschlug es die Sprache.5 Trump drängte seine Familie und Berater, auf den Sender einzuwirken, sie müssten diese Prognose zurückziehen. Fox weigerte sich, der Präsident geriet in Rage und sagte, nun wäre auch Fox News Komplize bei der gestohlenen Wahl.

Biden begann, Siege anzuhäufen. Associated Press meldete, er hätte Wisconsin und Michigan gewonnen. In Pennsylvania und Georgia, zwei der am heißesten umkämpften Swing States dieser Wahlnacht, war der Stand noch zu knapp, um einen Sieger zu verkünden. Um 0:26 Uhr am 4. November hatte Biden 214 Wahlmännerstimmen auf dem Konto, Trump 210. Beide Kandidaten waren vermutlich nur Stunden davon entfernt, in die Nähe der benötigten 270 Stimmen des Wahlmännergremiums zu kommen und damit die Wahl zu gewinnen.

Kurz vor 0:45 Uhr betrat Biden die Bühne in Wilmington. Er sagte voraus, dass er gewinnen würde, erklärte sich jedoch nicht direkt zum Wahlsieger.6 Die Menschen saßen größtenteils in ihren geparkten Autos vor dem Chase Center, wegen der Regeln zum Social Distancing. Die Fahrer ließen ihre Hupen ertönen.

»Danke für eure große Geduld«, sagte Biden. »Aber seht, wir fühlen uns gut, so wie es jetzt aussieht. Ganz ehrlich. Ich bin heute Abend hier, um euch zu sagen, wir glauben, wir sind auf Kurs, diese Wahl zu gewinnen.« Er bat dringend um Geduld, während alle auf die Ergebnisse der Briefwahlstimmen und das Auszählen absolut aller Stimmen warteten.

Um 2:30 Uhr morgens am 4. November, während seine Führung in anderen Staaten zerrann, trat Präsident Trump an ein Rednerpult im East Room. Er trug einen dunklen Anzug, eine blaue Seidenkrawatte und einen Anstecker mit der US-Flagge. First Lady Melania Trump und Vizepräsident Pence waren an seiner Seite. »Hail to the Chief« war laut aus den Lautsprechern zu hören, bevor er seine Ausführungen vor einer Wand aus amerikanischen Flaggen und einer Menschenmenge begann, die eigentlich eine Siegesfeier erwartet hatte.

»Dies ist ein Betrug an der amerikanischen Öffentlichkeit«, sagte er.7 Trumps Tonfall war verächtlich, indigniert. »Dies ist eine Peinlichkeit für unser Land. Wir waren dabei, diese Wahl zu gewinnen. Offen gesagt, wir haben diese Wahl sehr wohl gewonnen.« Und er ergänzte: »Also werden wir vors Oberste Gericht ziehen.«

»Wie zum Teufel konnten wir die Wahl gegen Joe Biden verlieren?«, fragte Trump Kellyanne Conway ein paar Stunden später am 4. November. Conway, die altgediente Meinungsforscherin, hatte das Weiße Haus im August verlassen, hielt aber engen Kontakt zu Trump.

Trump weigerte sich, öffentlich seine Niederlage einzuräumen, aber er schien zumindest im privaten Kreis bereit zu sein, die Wahlniederlage anzuerkennen.

Es waren die Briefwahlstimmen, sagte sie. Covid. Ihrer Kampagne ging das Geld aus. Die TV-Debatten.

»Jaja«, sagte er genervt. »Das macht einfach bloß keinen Sinn. Es ist furchtbar.«

Man konnte die Zahlen auf zwei Arten deuten. Einerseits hatte Biden um 7 Millionen Stimmen gewonnen — 81 Millionen für Biden, 74 Millionen für Trump. Andererseits hätte ein Kippen von 44.000 Stimmen in Arizona, Wisconsin und Georgia zugunsten Trumps ein Unentschieden zwischen Trump und Biden im Wahlmännergremium herbeigeführt.8

Eine Analyse in der Washington Post bemerkte, Biden hätte am Ende das geschafft, was Hillary Clinton 2016 nicht geschafft hatte, nämlich sich einige Stimmen aus der amerikanischen Arbeiterklasse zu sichern, die sich nur selten politisch beteiligten.9

Einige davon hatten beim letzten Mal für Trump gestimmt. Außerdem hatte Biden unter den traditionellen Demokraten landesweit für eine hohe Wahlbeteiligung gesorgt.

»Diese Wechselwähler, die von Trump zu Biden gingen, sorgten sich ganz überwiegend wegen Covid-19. Etwa 82 Prozent von ihnen betrachteten die Pandemie als ›bedeutenden Faktor‹ bei ihrer Wahlentscheidung«, schloss die Analyse auf der Basis von Nachwahlbefragungen.

Die Berater versuchten, ihn bei Laune zu halten.

Brian Jack, Trumps 32-jähriger politischer Direktor aus Georgia, der ihn über die Ergebnisse jedes einzelnen Kongressmitglieds auf dem Laufenden hielt, informierte den Präsidenten in dessen privatem Speisezimmer am 5. November.

Die Republikaner im Repräsentantenhaus hatten netto zehn Sitze dazugewonnen: 13 Sitze konnten sie den Demokraten abjagen, verloren aber nur drei eigene Sitze an die Demokraten, sagte Jack und ging die einzelnen Zahlen durch.10 Eine Rekordzahl republikanischer Frauen war gewählt worden, insgesamt gab es nun über 25 Frauen der Grand Old Party im Repräsentantenhaus.

Sie haben ihnen geholfen, mit Ihren TV-Town-Hall-Auftritten, mit Ihrer Unterstützung per Twitter, sagte Jack. Trump war bedient.

»Waren sie dankbar?«, fragte er. »Waren sie dankbar?« Jack versicherte ihm, sie wären es.

Trump führte Dutzende weiterer Telefonate mit vielen Verbündeten in den folgenden Tagen und beharrte leidenschaftlich darauf, dass er gewonnen hatte. Der Sieg wurde Ihnen einfach gestohlen, erzählten ihm viele seiner Unterstützer. Wir hören verrückte Geschichten aus Pennsylvania und Michigan.

Einige langjährige Verbündete gingen danach bei Fox News auf Sendung und hielten das Getrommel am Laufen. Alles gefälscht. Alles Betrug.

Einer davon war Rudy Giuliani, der ehemalige Bürgermeister von New York und Trumps persönlicher Anwalt. Einst der Held des Big Apple nach den Anschlägen vom 11. September, war er nun ein streitlustiger Stammgast in Trumps Orbit, der regelmäßig Zigarren paffte. Er sagte dem Präsidenten, er brauche eine bessere Strategie. Und er bot seine Hilfe an.

Trump sprach im privaten Kreis nicht mehr davon, dass er die Abstimmung verloren hätte. Und er gab Giuliani seinen Segen: Dieser sollte beginnen, nach Verwertbarem herumzustochern.