»Ich habe das Unmögliche geschafft«, witzelte Biden am Telefon mit seinem alten Freund, Senator Lindsey Graham, in den Tagen nach der Wahl.
Graham lachte laut.
»Wir waren mal Freunde«, sagte Biden.
»Joe, wir sind immer noch Freunde«, sagte Graham. »Du weißt, dass ich dir helfen werde, wo ich kann.«
Graham ging davon aus, mehrere von Bidens Nominierungen für das Kabinett zu unterstützen, vor allem die Spitzenpositionen im Bereich nationale Sicherheit.
Ein Dutzend Jahre zuvor hatte der damalige Vizepräsident Biden zu Präsident Obama gesagt: »Lindsey Graham hat im Senat das größte Fingerspitzengefühl.«1 Obama sah es ebenso, und Graham, der unverheiratete Jurist und Oberst der Reserve in der Air Force, war gemeinsam mit Biden auf mehreren diplomatischen und militärischen Missionen während Obamas Präsidentschaft um die Welt gereist. Es war eine echte, parteiübergreifende Verbindung.
Die Freundschaft war während Trumps Präsidentschaft in die Binsen gegangen, weil Graham sich hinter Trumps Attacken auf Hunter Biden und dessen Geschäfte gestellt hatte.
Graham dachte nicht daran, sich dafür zu entschuldigen.
Bei dem Telefonat mit Biden sagte er: »Ich habe kein Problem mit dir. Aber Joe, wenn der Sohn von Mike Pence oder jemand von den Trump-Leuten tun würde, was Hunter getan hat, dann wäre Feierabend.«
Für Biden war alles, was mit der Familie zu tun hatte, etwas zutiefst Persönliches.2
Graham, der selbst keine Kinder hatte, hatte eine rote Linie überschritten.
Biden und Graham redeten monatelang nicht mehr miteinander — und wenn es nach Biden ginge, würden sie wahrscheinlich nie wieder ein Wort miteinander wechseln.
Hope Hicks, ein ehemaliges Model, das 2017 im Alter von 28 Jahren Direktorin für strategische Kommunikation im Weißen Haus wurde und die engste Mitarbeiterin Trumps während der Wahlkampagne 2016 gewesen war, war im Februar 2020 wieder zum Weißen Haus gestoßen, nach einem Intermezzo als Kommunikationschefin bei Fox.
Aufgrund ihrer Vorgeschichte und der früheren engen Arbeitsbeziehung glaubte Hicks, offen sprechen zu können. Anders als die meisten anderen Helfer hatte sie keine Agenda. Am Morgen des 7. November, dem Tag, an dem die Medien Biden zum Wahlsieger erklärten, traf sich Hicks mit Trumps Schwiegersohn und Chefberater Jared Kushner und mehreren weiteren Wahlkampfberatern des Trump-Lagers im Wahlkampf-Hauptquartier in Arlington. Trump spielte derweil Golf in seinem nahe gelegenen Club in Virginia.
Wer sagt dem Präsidenten, wenn er mit Golfen fertig ist, dass das Rennen gelaufen ist? Niemand meldete sich freiwillig.
Kushner, schlank und mit weicher Stimme, der als Vertrauter des Präsidenten gedient hatte, meldete sich zu Wort. »Es gibt eine Zeit für den Doktor und eine Zeit für den Priester«, sagte er. Er sah mehrere leitende Wahlkampfhelfer direkt an. Vielleicht könnten sie den Part des Doktors übernehmen und dem Präsidenten die ernste Diagnose nahebringen.
Das Erteilen der politischen Sterbesakramente wäre dann, wenn überhaupt, eine Sache der Familie, deutete Kushner an.
»Die Familie wird handeln, wenn die Familie handeln muss«, sagte Kushner. »Aber so weit sind wir noch nicht.«
Andere argumentierten, die juristischen Auseinandersetzungen stünden gerade erst am Anfang. Vielleicht konnte Trump ja ein paar Erfolge einfahren. Aber keiner war zuversichtlich, dass Trump die Präsidentschaft für sich würde reklamieren können.
Hicks meldete sich. »Wieso sagen wir ihm nicht einfach die Wahrheit?«, fragte sie.
»Er kann aus einem schlechten Ausgang immer noch das Beste machen. Das war ja kein Desaster. Er wurde schließlich nicht mit Schimpf und Schande aus dem Amt gejagt«, sagte Hicks und verwies auf mehr als ein Dutzend Sitze, die die Partei im Repräsentantenhaus den demokratischen Abgeordneten abgejagt hatte. Die Mehrheit der Demokraten — zuvor 232 Sitze — war auf eine Handvoll Sitze über der Grenze von 218 zusammengeschmolzen, sie haben ihre Mehrheit in der Kammer nur mit Mühe und Not halten können.
»Das war auch eine Zustimmung zu seiner Politik, wenn nicht sogar zu ihm persönlich, und manchmal laufen die Dinge eben anders, als man denkt«, sagte sie.
Hicks meinte, es gäbe eine Möglichkeit, die Sache in Würde zum Abschluss zu bringen, zumindest einigermaßen. Die Buchverträge, Comeback-Auftritte, spritzige Fernsehshows und gut bezahlte Reden würden Trump das Eingeständnis der Niederlage vielleicht etwas versüßen. Er könnte als König von Palm Beach die Führung der GOP an sich nehmen.
Mehrere weitere leitende Wahlkampfhelfer erklärten sich bereit, an diesem Nachmittag mit Trump zu reden, darunter Jason Miller, der Berater für Kommunikation, und Wahlkampfmanager Bill Stepien, die nach Parscales Degradierung in die erste Reihe aufgerückt waren.
Trump jedoch wollte von einem Eingeständnis der Niederlage absolut nichts wissen.
Rudy Giuliani hielt eine Pressekonferenz in Northeast, einem Arbeiterviertel in Philadelphia, bekannt für seine Autohändler und preiswerten Cheesesteak-Sandwiches, auf dem Parkplatz einer Landschaftsgärtnerei namens Four Seasons Total Landscaping.
Fotos von Giuliani und ernst dreinblickenden Trump-Beratern, die auf einem Parkplatz in irgendeinem Gewerbegebiet herumstanden, machten zügig die Runde auf Twitter und in diversen Nachrichtenkanälen.3
Giuliani stand vor dem Garagentor der kleinen Firma und einem Gebäude mit verblassendem grünem Anstrich und neben einem selbst ernannten Wahlbeobachter, der sich später als verurteilter Sexualstraftäter herausstellte. Er ramenterte unentwegt über allerlei Verschwörungsvorwürfe und ließ billige Witzchen vom Stapel.4
»Joe Frazier geht hier immer noch zur Wahl — nicht so einfach, wenn man bedenkt, dass er vor fünf Jahren gestorben ist«, scherzte Giuliani über die verstorbene Boxlegende. »Aber Joe wählt immer noch. Wenn ich mich richtig erinnere, war Joe Republikaner. Also sollte ich mich vielleicht besser nicht beklagen. Aber wir sollten wohl nachschauen, ob Joe heute, von seinem Grab aus, republikanisch oder demokratisch wählt.«
Er behauptete auch, der Vater des Schauspielers Will Smith, der 2016 starb, hätte seit seinem Ableben zwei Mal an Wahlen teilgenommen. »Ich weiß nicht, wen er wählt, die Stimmabgabe ist schließlich geheim. In Philadelphia halten sie die Stimmen von Toten geheim.«
Als ein Reporter Giuliani erzählte, Biden sei zum Wahlsieger erklärt worden, lachte er nur. »Kommen Sie, machen Sie sich nicht lächerlich«, sagte er. »Wahlen werden nicht von den Medien entschieden, sondern von Gerichten.«5
An jenem Abend erzählte Trump in der Residenz des Weißen Hauses einer Gruppe von Verbündeten und Beratern, er wäre über Giulianis Auftritt und die billige Location, über die sich die Nachrichtensender lustig machten, gar nicht glücklich. Er wäre davon ausgegangen, Rudy hätte seinen Auftritt im Luxushotel »Four Seasons« organisiert.
Die Berichterstattung der Medien über Bidens Sieg und die Sache mit dem Gartenbaugeschäft »Four Seasons Total Landscaping« schien Trump in seinem aktionistischen Eifer nur noch zu bestärken. Er fragte, was denn der Plan sei? Welchen Plan haben wir in den einzelnen Staaten? Welche Optionen haben wir?
Er war darauf fokussiert, wie sich in mehreren Staaten ein paar Zehntausend Wählerstimmen an Land ziehen lassen könnten. Das würde ihm eine zweite Amtszeit sichern, noch einmal vier Jahre.
»Wissen Sie, das wird schwierig werden«, sagte ihm sein externer politischer Berater David Bossie. »Wir müssen es richtig anstellen, auf methodische Weise, und daran müssen wir hart arbeiten. Aber wir können die Sache auskämpfen, und wir können gewinnen.«
»Aber«, betonte Bossie, »es wird schwierig werden. Wir müssen uns gegen große Widerstände durchsetzen.«
Bossie, ein erfahrener politischer Streiter, war 2016 Trumps stellvertretender Wahlkampfmanager gewesen.
»Oh?«, wunderte sich Trump. »Finden Sie nicht, dass wir kämpfen sollten?«
»Doch, doch«, sagte Bossie. »Wir müssen um jede korrekt abgegebene Stimme kämpfen.«
Bedienstete trugen Platten mit Fleischbällchen und Würsten im Teigmantel herein. Trump trank dazu Cola light, wie üblich.
»Wie finden wir die 10.000 Stimmen, die wir in Arizona brauchen? Wie finden wir die 12.000, die wir in Georgia brauchen?«, fragte Trump. »Was ist mit den Briefwahlstimmen der Soldaten, sind die schon alle eingerechnet?«
Am nächsten Morgen, dem 8. November, bestellte Trump Bossie wieder ins Weiße Haus ein. Vielleicht sollte er Bossie die Federführung überlassen, und Rudy soll eben machen, was Rudy macht. Bossie konnte die Sache am Laufen halten. So etwas konnte er gut.
Als Bossie am gleichen Nachmittag eintraf, wurde er zuerst auf das Coronavirus getestet und machte sich danach auf in Richtung Residenz. Aber bevor er die Treppen hinaufstieg, um sich mit Trump zu treffen, nahm ihn ein Mitarbeiter des Weißen Hauses abrupt beiseite. Er müsse sofort zurück in die medizinische Abteilung. Sein Testergebnis war zurück.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße«, dachte Bossie, als er das medizinische Büro betrat. Sein Corona-Test war positiv. Damit reihte er sich in eine lange Liste von Helfern des Weißen Hauses und Trump-Loyalisten ein, die sich mit dem Virus infiziert hatten.
Bossie machte noch einige weitere Tests, nur zur Sicherheit. Er saß auf den Stufen des Old Executive Office Building und vertrieb sich die Zeit mit Peter Navarro, Trumps Berater für Handelspolitik und bekannter Hardliner. An einem verschlafenen Sonntag unterhielt man sich über Politik.
Bossie war sauer. Er wusste, dass Trump fast so weit war, ihm für den Kampf um die Wahlen die Zügel in die Hand zu geben. Es wäre eine Aufgabe mit enormer Öffentlichkeitswirkung. Jetzt aber musste er sich isolieren und sich vom Gelände des Weißen Hauses fernhalten. So waren die Regeln.
Von den Stufen aus sah er in der Abenddämmerung Giuliani und Sidney Powell. Powell, eine ernste, politisch rechts stehende Juristin, war einst eine angesehene Rechtsanwältin gewesen. Zuletzt hatte sie allerdings mit bizarren Behauptungen über angeblich manipulierte Wahlmaschinen von sich reden gemacht.
Im Gespräch mit Lou Dobbs, dem Moderator von Fox Business, dessen Sendung Trump regelmäßig verfolgte, sprach Powell am 6. November davon, es gäbe eine »Wahrscheinlichkeit, dass 3 Prozent der Gesamtstimmen vor den eigentlichen Wahlen verändert worden seien, nämlich digital erfasste Stimmabgaben.6 Das würde eine massive Veränderung der Wahlergebnisse bedeuten, die das gesamte Land beträfe«, sagte sie, und dies »erklärt eine Menge von dem, was wir gerade beobachten.« Sie behauptete, Hunderttausende von Stimmen wären aus dem Nichts aufgetaucht und hätten Biden auf unrechtmäßige Weise zur Präsidentschaft verholfen.
Bossie beobachtete, wie Powell und Giuliani gemeinsam ins Weiße Haus gingen. Panik stieg in ihm auf.
Powell ging mit »zusammengeschustertem Schwachsinn« hausieren, dachte er. Und er konnte sie nicht aufhalten. Sie und Giuliani waren nun diejenigen, die im Zentrum der Macht waren.