Im November begannen Milley, Pompeo und Meadows mit regelmäßigen Telefonkonferenzen unter sechs Augen. Alle paar Tage besprach das Trio ab 8 Uhr morgens über eine gesicherte Verbindung die internationale diplomatische und militärische Situation.
Zweck dieser Konferenzen war es, in einer Phase potenzieller Instabilität Stabilität zu wahren und jedwede unangemessene oder provokative Aktion zu vermeiden.
Chris Miller wurde nicht zur Teilnahme eingeladen. Milley hatte auch Vorbehalte gegenüber Meadows, der zu der Gruppe zu gehören schien, die Trumps Behauptungen wegen der angeblich gestohlenen Wahl unterstützte.
»Wir müssen diesen Flieger irgendwie sicher runterbringen«, sagte Milley vorsichtig bei einer der ersten Telefonkonferenzen dieser neuen Troika. »Wir müssen sicherstellen, dass es eine friedliche Machtübergabe gibt.«
Milley arrangierte eine Rede zur Feier des Veterans Day im Army Museum am 11. November.1
»Wir leisten weder einen Eid auf einen König oder eine Königin«, erzählte Milley den Zuhörern, »noch auf einen Tyrannen oder einen Diktator. Wir leisten keinen Eid auf eine bestimmte Einzelperson. Nein, wir leisten auch keinen Eid auf ein Land, einen Volksstamm oder eine Religion. Wir leisten einen Eid auf die Verfassung.« Weiter sagte er: »Jeder von uns wird dieses Dokument schützen und verteidigen, wie hoch auch immer der Preis sein mag, den jeder Einzelne von uns dafür zu bezahlen hat.«
Nach seiner Rede meinte Ryan McCarthy, der Secretary of the Army, zu ihm: »Sie haben ungefähr fünf Stunden« — spätestens dann würde Trump von der Rede erfahren und ihn feuern.
Hollyanne, Milleys Ehefrau, ging vom gleichen Szenario aus. »Und wir haben noch nicht einmal ein Haus gekauft!«2
Offenbar erfuhr Trump jedoch nicht von diesen Einlassungen. Er sagte nichts zu Milley und schritt auch nicht zur Tat.
Später am Tag, gegen 13 Uhr, ging Milley nach oben zum Büro des kommissarischen Ministers Miller und nahm Platz. Hinzu kam Millers Stabschef Kash Patel, ein Anwalt und kaum bekannter, aber höchst umstrittener ehemaliger Geheimdienstberater des kalifornischen Kongressabgeordneten Devin Nunes, einer von Trumps entschiedensten Gefolgsleuten. Kolumnist David Ignatius bezeichnete Patel als »beinahe eine ›Zelig‹-Figur, ein menschliches Chamäleon« in den Reihen der Trump-Administration, einer, der glaubte, ein »tiefer Staat« würde gegen den Präsidenten intrigieren.3 Nach der Tätigkeit für Nunes hatte sich Patel Trumps National Security Council angeschlossen und nahm einen weiteren geheimdienstlichen Spitzenposten ein, bevor er am Ende zu Millers Stabschef wurde.
Bei einem Gespräch mit Barr brachte Mark Meadows einmal die Idee ins Spiel, Trump dazu zu bewegen, Patel zum stellvertretenden FBI-Direktor zu ernennen. Meadows, ein heftiger Kritiker der Russland-Untersuchungen und des Vorgehens des FBI in dieser Sache, meinte, Patel könnte als Verbündeter innerhalb des FBI agieren, dessen Führung er für korrupt hielt.
»Nur über meine Leiche«, sagte Barr dazu.
»Sie müssen eines verstehen«, ergänzte er. »Jeder in diesem Gebäude ist ein Agent. Sie haben alle die Akademie durchlaufen. Sie alle haben den Dienst in Städten geleitet, sie haben sich mit dem Kampf gegen Terrorismus und Verbrechen beschäftigt. Sie haben alle den gleichen Hintergrund. Der Einzige beim FBI, der kein Agent ist, ist der Direktor.«
Barr fragte Meadows: »Denken Sie etwa, dieser Drecksack geht da hin und fordert Respekt von diesen Jungs ein? Die werden ihn bei lebendigem Leib auffressen.«
Meadows setzte hartnäckig seine Bemühungen fort, Patel auf diesem FBI-Posten unterzubringen. Aber das war Barrs Welt, und der würde nicht klein beigeben. Meadows ließ das Thema letztendlich wieder fallen. Als Nächstes versuchte Meadows, Patel bei der CIA einzuschleusen.
CIA-Direktorin Gina Haspel erzählte Barr, dass Meadows, offenbar de facto der Chef-Jobvermittler für Patel, sie anwies, ihren derzeitigen Stellvertreter Vaughn Bishop zu feuern, um Platz für ihren neuen Deputy zu schaffen. Man wollte sie vor vollendete Tatsachen stellen.
Sie beschrieb ihr Treffen mit Meadows im Weißen Haus.
»Okay, ich muss los«, sagte sie ihm.
»Wieso?«, fragte Meadows.
»Ich muss dem Präsidenten sagen, dass ich das nicht tolerieren werde«, sagte sie. »Eher würde ich meinen Hut nehmen.«
Daraufhin zog Meadows ein zweites Mal zurück.
Am 11. November schob Patel ein Memo von nur einer Seite über den Tisch zu Milley.
Darin stand: »11. November 2020, Memorandum für den geschäftsführenden Verteidigungsminister: Rückzug aus Somalia und Afghanistan.«
»Ich weise Sie hiermit an, alle US-Truppen bis spätestens zum 31. Dezember 2020 aus der Bundesrepublik Somalia und bis spätestens zum 15. Januar 2021 aus der Islamischen Republik Afghanistan abzuziehen. Informieren Sie sämtliche Streitkräfte von Alliierten und Partnern über diese Direktiven. Bitte bestätigen Sie den Eingang dieser Anordnung.«
Gezeichnet war das Ganze mit »Donald Trump«, in den großen, dicken Strichen seines berühmten schwarzen Markers.
»Hatten Sie damit irgendwas zu tun?«, fragte Milley Patel.
»Nein, nein«, sagte Patel. »Ich habe das auch nur gesehen, Herr Vorsitzender.«
»Stecken Sie hinter dem da?«, fragte Milley den geschäftsführenden Verteidigungsminister.
»Nein, nein, nein«, wehrte Miller ab.
Trump hatte schon während seiner gesamten Präsidentschaft versucht, einen vollständigen Rückzug aus Afghanistan hinzubekommen. Die Militärs hatten dem Jahr um Jahr widerstanden. Jetzt, in seinen letzten fünf Monaten, gab Trump einfach den Befehl dazu — wenn das Memorandum denn echt war.
Einerseits war es verdächtig, weil es das falsche Format hatte und nicht im Stil eines traditionellen »NSM« — National Security Memorandum — gehalten war. Diese waren meist lang und sehr formell. Andererseits bezweifelte Milley, dass man ihm im Büro des Verteidigungsministers eine Fälschung vorsetzen würde, wenngleich Miller ganz frisch im Amt und ohnehin nur geschäftsführender Verteidigungsminister war.
»Nun, ich ziehe meine Uniform an«, sagte Milley, weil er gerade Tarnkleidung trug. »Ich gehe zum Präsidenten, weil er etwas unterschrieben hat, das militärische Operationen betrifft, und er tat dies gänzlich ohne die angemessene Sorgfalt und ohne die militärische Beratung, die ich ihm nach dem Gesetz zu geben habe. Das ist wirklich total daneben, und ich werde deshalb mit dem Präsidenten reden. Ich gehe rüber. Ihr könnt mitkommen, ihr könnt es aber auch bleiben lassen.«
Sie beschlossen, ihn zu begleiten. Nachdem sich Milley in seine übliche Uniform geworfen hatte, wurden alle drei vom Security-Personal zum Weißen Haus gefahren — ein ungewöhnlicher Auftritt und ohne vorherige Terminvereinbarung.
»Robert, was zum Henker soll das sein?«, sagte Milley, nachdem er, Miller und Patel in das Büro des Nationalen Sicherheitsberaters O’Brien in einer Ecke des West Wing marschiert waren. Keith Kellogg, der nationale Sicherheitsberater von Pence und ein Gefolgsmann Trumps, war auch da.
Milley reichte O’Brien, der an seinem Schreibtisch stand, das Blatt mit dem Befehl.
»Wie ist das denn passiert?«, fragte Milley. »Gab es hier überhaupt irgendeinen Prozess? Wie kann ein Präsident einfach so etwas machen?«
O’Brien blickte auf das Memo und las. »Ich habe keine Ahnung«, meinte er.
»Was soll das heißen, keine Ahnung? Sie sind der nationale Sicherheitsberater des Präsidenten. Und Sie wollen mir erzählen, Sie wussten davon nichts?«
»Nein, ich wusste davon wirklich nichts«, sagte O’Brien.
»Und der Verteidigungsminister wusste auch nichts? Und der Stabschef des Verteidigungsministers wusste nichts? Der Vorsitzende wusste nichts? Wie zum Teufel kann so etwas passieren?«
»Geben Sie mir das Papier«, sagte Kellogg, ein pensionierter Generalleutnant.
Er nahm das Memo und überflog es.
»Das ist kompletter Stuss«, sagte Kellogg. »Die Kopfzeile ist falsch. Das wurde nicht korrekt gemacht. Das war nicht der Präsident.«
»Keith«, sagte Milley zu Kellogg, »wollen Sie mir erzählen, jemand hätte die Unterschrift des Präsidenten der Vereinigten Staaten auf einer militärischen Direktive gefälscht?«
»Ich weiß nicht«, sagte Kellogg. »Ich weiß es nicht.«
Geben Sie mir das, sagte O’Brien. »Ich bin gleich wieder da.«
Er verließ für ein paar Minuten den Raum. Nach allem, was O’Brien wusste, waren der Nationale Sicherheitsrat, der Stabssekretär und der Rechtsberater des Weißen Hauses weder eingeweiht noch konsultiert worden.
»Mr. President, Sie müssen sich mit den obersten Militärberatern treffen«, sagte O’Brien. Der Präsident behauptete nicht, die Unterschrift wäre eine Fälschung. Er hatte das Papier unterschrieben. Aber er erklärte sich zu einem Gespräch mit den führenden Beratern bereit, bevor in der Sache eine formelle und endgültige politische Entscheidung getroffen wurde.
»Alsdann«, sagte O’Brien, als er in sein Büro zurückkam, »die Sache ist vom Tisch. Es war ein Fehler. Das Memo wurde annulliert.« Es war nichts weiter als ein fehlerhaftes Memo und würde keinen Bestand haben. Der Präsident würde sich später mit den obersten Militärberatern treffen, um eine Entscheidung über die Truppen in Afghanistan zu erreichen.
»Okay, schön«, sagte Milley und akzeptierte diese Zusicherungen. Dann zogen er, Miller und Patel wieder ab, ohne den Präsidenten getroffen zu haben.
Fall abgeschlossen.
Die beiden Axios-Reporter Jonathan Swan und Zachary Basu fanden im Mai 2021 heraus, dass John McEntee, der ehemalige persönliche Assistent des Präsidenten und ein früherer College-Quarterback, der nun für das Personal zuständig war, sowie der pensionierte Army-Oberst Douglas Macgregor, ein leitender Berater Millers, beim Aufsetzen und Signieren dieses Memos die Hände im Spiel gehabt hatten.4
Am nächsten Tag, Donnerstag, 12. November, gaben mehrere für die Sicherheit der Wahlen zuständige Gruppen eine gemeinsame Erklärung heraus. Dazu zählten Beamte aus der Abteilung Cybersecurity and Infrastructure Security Agency im Heimatschutzministerium und der National Association of State Election Directors. In der Erklärung hieß es: »Die Wahl vom 3. November war die sicherste in der Geschichte Amerikas.5 Sämtliche Bundesstaaten mit knappem Wahlausgang in der Präsidentschaftswahl 2020 haben gedruckte Aufzeichnungen jeder einzelnen Stimme. Auf diese Weise lässt sich bei Bedarf jede einzelne Wählerstimme rückwirkend erneut zählen. Dies ist ein zusätzlicher Vorteil im Sinne von Sicherheit und Resilienz. Dieses Prozedere ermöglicht das Rückverfolgen und die Korrektur aller denkbaren Fehler oder Versäumnisse.« In Fettdruck folgte die Ergänzung: »Es existiert kein Beweis, dass irgendein Wahlsystem Stimmen gelöscht oder verloren hat, Stimmen verändert hat oder in irgendeiner Weise kompromittiert wurde.«
Trump feuerte alsbald Chris Krebs, den Chef für Cybersicherheit im Heimatschutzministerium, per Tweet.6
Am 12. November um 17 Uhr bestellte Trump sein Nationales Sicherheitsteam zu einem weiteren Meeting in Sachen Iran ein.
Die Internationale Atomenergieagentur hatte tags zuvor erst gemeldet, dass der Iran 2443 Kilogramm niedrig angereichertes Uran gelagert hatte, das Zwölffache dessen, was im Rahmen von Obamas Atomabkommen mit dem Iran erlaubt war, aus dem Trump ausgestiegen war.7
Das war genug Uran, um am Ende zwei Atombomben damit herzustellen, der Iran würde allerdings Monate brauchen, um das Uran bis zur Waffenfähigkeit weiter anzureichern.
CIA-Direktorin Haspel bestätigte, dass der Iran nach den Erkenntnissen ihres Geheimdiensts noch viele Monate vom Besitz einer Atomwaffe entfernt war.
Milley prüfte die übliche Liste der Optionen, von verstärkten Cyberattacken bis zum Einsatz von US-Bodentruppen.
Hier sind die Kosten, in Menschenleben und in Dollars, sagte er: Sie sind hoch, und es nicht sicher, dass es dabei bleibt. Hier sind die Risiken: sehr hoch, und sehr ungewiss. Und hier sind die möglichen Ergebnisse am Ende.
Militärschläge innerhalb des Iran bedeuten Krieg, sagte Milley. »Es bedeutet, dass wir in den Krieg ziehen. Wir begeben uns auf eine Leiter der Eskalation, von der wir nicht wieder herunterkommen. Und den Ausgang der Geschichte haben wir möglicherweise nicht unter Kontrolle.«
Milley erkannte als eine der permanenten unbekannten Größen in seiner Abwägung, dass er den Triggerpunkt welches Präsidenten auch immer nicht genau kannte — vielleicht kannte diesen Punkt überhaupt niemand. Vielleicht kannte ihn nicht einmal der Präsident selbst — vor allem Trump nicht.
Ich empfehle, alle diese Optionen zu verwerfen, sagte Milley. Zu riskant und unnötig.
Milley wandte sich an Pompeo. »Was denken Sie, Mike?« Pompeo war seit langer Zeit ein Fürsprecher militärischen Handelns gegen den Iran.
»Mr. President«, sagte Pompeo, »das Risiko ist es nicht wert.« Pompeo und Milley bewegten sich hin und her wie ein Team beim Tauziehen und betonten immer wieder die Gründe gegen das Ergreifen militärischer Maßnahmen.
Vizepräsident Pence und der kommissarische Verteidigungsminister Miller, der erst seit drei Tagen im Amt war, schienen ebenfalls der Auffassung zu sein, dass die USA von militärischen Aktionen Abstand nehmen sollten.
Okay, danke, sagte Trump. Er sagte nicht »Macht es«, und er sagte nicht »Lasst es sein«. Die Entscheidung blieb in der Schwebe, ein unerträgliches und unklares Szenario, zumal angesichts der frischen Erfahrung mit dem annullierten Afghanistan-Memo. Milley drückte es einmal gegenüber einem Berater so aus: »Die ganze Iran-Sache kommt und geht und kommt und geht und kommt und geht.«
Haspel bereitete das Fehlen einer klaren Entscheidung Kopfschmerzen. Sie rief Milley an: »Das ist eine hochgefährliche Situation. Werden wir zuschlagen, um sein Ego zu befriedigen?«
Später am gleichen Abend rief Pompeo Milley an und dankte ihm für sein Eintreten gegen einen Militärschlag und die Betonung der damit verbundenen Nachteile.
»Alles ist im Lot«, sagte Milley und betonte, wie wichtig es war, die Ruhe zu bewahren, mit einer ganzen Serie von Metaphern. »Einfach standhaft bleiben. Durch die Nase atmen. Standhaft wie ein Fels. Wir werden diesen Flieger sicher landen. Wir haben hier ein Flugzeug mit vier Triebwerken, und drei sind ausgefallen. Wir haben kein Fahrwerk. Aber wir landen diese Maschine, und wir werden sie sicher landen.«
Milley sagte noch: »Erklimmen wir den Suribachi«, eine Anspielung auf den 170 Meter hohen Hügel auf der Insel Iwojima, auf dem U. S. Marines im Jahr 1945 die amerikanische Flagge hissten, wie es auf einem weltberühmten Foto zu sehen ist. In der legendären Schlacht starben fast 7000 Marines, 20.000 wurden verwundet.
Pompeo sagte, die Zeit für militärische Maßnahmen sei vorbei.
»Wir sind zu spät dran«, sagte er. »Wir können nicht jetzt gegen den Iran losschlagen. Überlassen wir es dem Nachfolger. Ich will das Wort Iran verdammt noch mal nie wieder hören.«