Fünfunddreißig

Meadows rief FDA-Commissioner Stephen Hahn eines Morgens Mitte Dezember an und beschuldigte ihn und Peter Marks, Hahns für den Impfstoff zuständigen Stellvertreter, sie würden nicht genug tun, um den Genehmigungsprozess für den Impfstoff zu beschleunigen. Sie würden die Sache nicht ausreichend ernst nehmen und nicht genug Ressourcen dafür investieren.

Dem Durchschnittsbürger ist es egal, ob sich die FDA dieses oder jenes Prozesses bedient, sagte Meadows. Das hätte mit dem Vertrauen in den Impfstoff als solchen nichts zu tun.

Hahn war schockiert. Er hatte bereits zahlreiche Telefonate mit dem Präsidenten und mit Meadows hinter sich — bisweilen drei Mal in der Woche.

»Das ist, als würde man sagen, wir haben nicht genug Gehirnchirurgen, also setze ich einen Assistenzarzt darauf an und sage ihm, er solle Ihre Kraniotomie übernehmen und Ihnen den Gehirntumor herausoperieren«, sagte Hahn später gegenüber anderen. »Das kann man nicht machen.«

Sie wissen überhaupt nicht, was Sie tun, schrie Meadows Hahn an.

Mark, ich bin da vollkommen anderer Ansicht, sagte Hahn. »Sie liegen völlig falsch.«

Danach grummelte Meadows etwas von Rücktritt. »Entschuldigen Sie, was haben Sie gesagt?«, wollte Hahn wissen.

»Nichts, ich habe gar nichts gesagt«, sagte Meadows. »Ich werde die Sache in die Hand nehmen.« Meadows legte auf, rief 30 Minuten später aber wieder an und entschuldigte sich.

Aber Trump ließ schon bald einen Tweet vom Stapel: »Nur mein Drängen hat die Genehmigung ZAHLREICHER fantastischer Impfstoffe durch die in Geld schwimmende, aber extrem bürokratische FDA um 5 Jahre beschleunigt, aber die FDA ist trotzdem noch immer eine große, alte, langsame Schildkröte. Bringen Sie diese verdammten Vakzine JETZT heraus, Dr. Hahn. Hören Sie auf, Spielchen zu spielen, und fangen Sie an, Leben zu retten!!!«1

Pfizer-BioNTech wurde noch am gleichen Tag autorisiert, den Impfstoff bei Personen ab 16 Jahren in den USA anzuwenden.2 Eine Woche später wurde der Impfstoff von Moderna für Personen ab 18 Jahren zugelassen.3 Die Entwicklung zweier hochgradig wirksamer Impfstoffe in Rekordzeit war eine noch nie da gewesene Leistung.

Aber bei der Verteilung hakte es.4

Für Ron Klain, den frischgebackenen Stabschef, türmte sich die Arbeit derweil ungebremst immer weiter auf. Genau dies betrachtete Klain als das prosaische Handwerk des Regierens inmitten der Krise. Sie mussten die Dinge eben irgendwie auf die Reihe kriegen.

Die Zahlen der Corona-Infektionen und der damit verbundenen Todesfälle waren seit November gestiegen und kletterten gerade auf immer neue Rekordwerte.5 Am 2. Dezember erreichte die Hospitalisierungsrate ein Allzeithoch — über 100.000 —, und an dem einen Tag wurden mindestens 2760 Todesfälle registriert, mehr als die bis dahin höchste Opferzahl an einem Tag — das waren 2752 Tote am 15. April gewesen.

Das Vakzin war also in Höchstgeschwindigkeit entwickelt worden, aber wenn es nicht in die Arme der Menschen gespritzt werden konnte, würde der Effekt dieses Erfolgs verpuffen.

Klain sah zu, als die ersten Impfungen am 14. Dezember begannen. Die ersten Empfänger der Spritze waren 3913 Personen, die im Gesundheitsdienst an vorderster Front tätig waren.6 Rund 2,9 Millionen Impfdosen wurden an die Bundesstaaten verteilt, und 12,4 Millionen bis zum 30. Dezember — deutlich weniger als die ursprünglich angepeilten 20 Millionen. Man ging davon aus, dass die meisten Amerikaner erst 2021 geimpft werden konnten. Das Verteilungssystem war entscheidend, und es war nicht ausreichend. Würde sich das beheben lassen?

Und wie konnte man die am Boden liegende Wirtschaft ankurbeln? Die Wirtschaft, die sich im Mai zu erholen begonnen hatte, geriet wieder ins Stocken. Mehr als 140.000 Amerikaner würden im Dezember ihren Job verlieren. Die Angestellten von Restaurants und Bars sahen sich immer wieder mit Entlassungen konfrontiert, weil nur die wenigsten Amerikaner zum Essen ausgehen oder Bars besuchen konnten.7

Klain hatte Stunden mit Biden verbracht und über die wichtigen Lektionen diskutiert, die er in seiner Zeit als Obamas Ebola-Koordinator im Jahr 2014 gelernt hatte. Die Wissenschaft muss von der Politik getrennt werden. Jeder hat in seiner Spur zu bleiben.

Diese Dinge sind wie Waldbrände, sagte Klain zu Biden: Selbst wenn nur fünf Glutnester übrig blieben, würden die Brände wieder aufflackern. Man musste die Sache wirklich gründlich zu Ende bringen.

Als Ebola-Koordinator erinnerte Klain Biden daran, dass er entschieden hatte, 17 Stationen für die Ebola-Behandlung in Westafrika einzurichten, an jedem potenziellen Standort, an dem die Seuche aufflammen könnte.8 Von diesen 17 Stationen, meinte er, wurden neun niemals genutzt. Ich bekam später Prügel, weil ich Geld verschwendet hätte. Aber da es zwei Monate dauerte, diese Zentren aufzubauen, wäre es zu spät gewesen, wenn sie erst einmal hätten abwarten wollen, um zu sehen, ob sie überhaupt gebraucht wurden. So läuft das eben bei einer Epidemie. Du musst der Sache vorausbleiben.

Aufrüsten war nun an allen Fronten das A und O, sagte Klain. Aufrüsten und vorbereitet sein. Alles einkaufen, was die USA vielleicht brauchen konnten, oder eben riskieren, dass die Ware nicht zur Verfügung steht, wenn es darauf ankommt. Die anfänglichen Engpässe — bei Masken, Ausrüstung für Mitarbeiter im Gesundheitswesen, Beatmungsgeräten — waren zweifellos ein Faktor bei dieser virulenten Ausbreitung des über die Atemluft übertragenen Virus in den ersten Monaten der Pandemie gewesen.

Biden beherzigte Klains Lehren und wies sein Team wiederholt an, keine halben Sachen zu machen. Biden zeigte seine Verärgerung, wann immer er von Störungen im Ablauf erfuhr.

»Wie viele Impfdosen werden wir brauchen?«, fragte Biden. »Wie viele Menschen müssen eingestellt werden, um den Leuten ihre Impfdosen zu verabreichen?« Er wollte alles wissen.

»Sehen Sie«, sagte Biden bei einem Treffen zur Machtübergabe, »unterschätzen Sie die Sache nicht. Überschätzen Sie sie besser. Wenn wir am Ende zu viel Impfstoff haben, zu viele Impfstandorte, zu viel von allem, werde ich es auf meine Kappe nehmen. Was ich jedoch nicht auf meine Kappe nehmen werde, ist ein Zustand des Mangels.«

Anfang Dezember hatte Biden seinen 54-jährigen Vorsitzenden des Übergangsteams, Jeff Zients, zum Koordinator des Weißen Hauses für den Umgang mit dem Coronavirus ernannt.

Zients war weder Mediziner noch Wissenschaftler, er war ein Management-Guru, der auch in der Amtszeit Obamas führende Wirtschaftspositionen im Weißen Haus eingenommen hatte. So diente er etwa als kommissarischer Direktor des Amts für Verwaltung und Haushalt (Office of Management and Budget — OMB).

Zu seinen früheren Aufgaben hatten die Aufräumarbeiten nach dem verhängnisvollen Zusammenbruch der Website Healthcare.gov gehört, die zur Registrierung für Obamacare dienen sollte. Dann hatte ihn der damalige Vizepräsident Biden zur Seite genommen. »Das ist Stress«, sagte Biden, »und es kann klappen, es kann aber auch schiefgehen. Sagen Sie uns einfach immer die unverblümte Wahrheit, und wir werden mit allem fertig.«

Zients war klar, dass das Koordinieren der Reaktion auf Covid-19 um Längen komplizierter und wichtiger war.

Als Geschäftsmann lief Zients’ Philosophie darauf hinaus, ein Problem regelrecht zu erschlagen, wie verrückt zu planen, Mittel zuzuweisen, Dinge neu zu evaluieren und anzupassen, Tag für Tag, wenn es sein musste, und dann die Mittel neu zu verteilen.9 Diese Herangehensweise hatte ihm ein Privatvermögen von mindestens 100 Millionen Dollar eingebracht.

Zients und sein Team machten sich sofort an die Ausarbeitung von Bidens nationaler Strategie zur Reaktion auf das Virus und eventuell notwendiger Dekrete, um die Umsetzung dieser Strategie zu beschleunigen. Sie mussten am Mittag des 20. Januar vollständig startklar sein. Der Plan wurde 200 Seiten lang.

Natalie Quillian, eine Expertin für nationale Sicherheit und ehemalige leitende Beraterin des Weißen Hauses und des Pentagons, wurde zu Zients’ Stellvertreterin ernannt. Die beiden verbrachten mehrere Wochen mit dem Versuch zu verstehen, wie Trump plante, die Impfungen wirklich an die Leute zu bringen, aber die Kooperationsbereitschaft und die Weitergabe von Informationen seitens der Trump-Administration waren lückenhaft und unzureichend. Und was noch schlimmer war: Das Trump-Team schien überhaupt keinen umfassenden Plan zur Verteilung des Impfstoffs zu haben.

Angesichts der Dimension des Problems gingen Zients und Klain davon aus, es müsste einen Geheimplan geben, den das Trump-Team nicht herausrücken wollte. Am Ende kamen sie zu dem Schluss, dass es schlicht nichts herauszurücken gab, sei es nun öffentlich oder geheim.

Klain brachte Biden auf den neusten Stand. »Sie haben es vollkommen in den Sand gesetzt«, sagte Klain.

Für den Aufbau ihrer nationalen Strategie teilte Quillian danach die Aufgabe in drei Bereiche auf.

Erstens: Steigerung von Impfstoffproduktion und -angebot. Zweitens: ausreichend Impfpersonal bereithalten, um die Impfungen zu den Menschen zu bringen. Drittens: Beschaffen der Standorte, Kliniken oder Impfzentren, an denen die Menschen geimpft werden konnten.

Die Trump-Administration hatte die Entwicklung des Impfstoffs angeregt und gefördert, eine immerhin beachtliche Errungenschaft in Rekordzeit, aber sie hatte auch vor, die Fläschchen den einzelnen Staaten sozusagen vor die Tür zu stellen und es dann jedem Einzelstaat selbst zu überlassen, sich einen Verteilungsplan zurechtzulegen.

»Das war die denkbar schlechteste Entscheidung«, sagte Dr. Anthony Fauci dem Zients-Team bei einer Zoom-Konferenz. Die Staaten blieben so auf sich allein gestellt.

Fauci war das Gesicht des medizinischen Teils der US-amerikanischen Antwort auf das Coronavirus. Biden hatte dem 80 Jahre alten Wissenschaftler den Job des leitenden medizinischen Beraters angeboten.

Fauci sagte, die Hauptaufgabe bestünde darin, um die 70 bis 85 Prozent der Bevölkerung geimpft zu bekommen und damit eine »Herdenimmunität« zu erreichen. Das war ein Punkt, an dem Infektionen begannen, rasch zurückzugehen, ohne dass zusätzliche drastische Maßnahmen zum Eindämmen der Verbreitung notwendig wurden. Es würde ein effizientes Impfen über mehrere Monate brauchen, um dieses Ziel zu erreichen. Er warnte vor einem »Anstieg nach dem Anstieg« nach den Ferien, wenn die Krankenhäuser möglicherweise an ihre Belastungsgrenze kommen könnten.

Wir müssen auf jeden Fall dafür sorgen, dass die Bundesregierung partnerschaftlich mit den Einzelstaaten kooperiert, sagte Fauci.

»Sagt nicht einfach bloß den Staaten: Hier ist das Geld, kümmert euch selbst um den Rest«, sagte er. »Sie brauchen oft eine gewisse Anleitung. Und sie brauchen Ressourcen.«

An welchen Stellschrauben würde Biden drehen können, um die Maßnahmen des Bundes in die Gemeinden zu bringen und vor Ort wirkungsvoll zu helfen? Zients’ Team stellte eine umfassende Liste mit allen Agenturen und Unteragenturen auf Bundesebene zusammen.

FEMA! Das war der große »Aha«-Moment, sagte Zients zu seinem Team. Die Federal Emergency Management Agency war exakt dafür konzipiert, auf Notfälle wie die Pandemie zu reagieren. Während Trump die FEMA und ihren Finanzierungspool früher im Jahr mit präsidialen Verfügungen quasi angezapft hatte, war Zients überzeugt, diese Institution würde viel zu wenig genutzt.

Er setzte sich mit Tim Manning in Verbindung, der als stellvertretender Administrator der FEMA während der acht Jahre der Regierung Obama gearbeitet hatte. Zients fragte Manning, ob es möglich wäre, dass die FEMA dazu beiträgt, im ganzen Land Standorte für Massenimpfungen in den Gemeinden hochzuziehen und zu betreiben.

Die FEMA konnte das, sagte Manning. Kurz darauf wurde er zu Zients’ Beschaffungskoordinator.

Zients und Quillian war klar, dass sie während der Übergangsphase die FEMA nicht anweisen konnten, mit den Vorbereitungen zu beginnen. Stattdessen begannen sie, die FEMA mit Fragen zu bombardieren und dabei den Plan zu signalisieren, den die FEMA am Mittag des 20. Januar in die Tat umsetzen sollte.

Sie planten überdies, den Defense Production Act zu nutzen, der dem Präsidenten weitreichende Notfallbefugnisse verlieh, mit denen er auf Ressourcen und Fertigungskapazitäten privater US-Unternehmen zurückgreifen konnte. Auf dieser Grundlage sollten dann die Produktion, das Testen und die Versorgung mit Geräten hochgefahren werden. Trump hatte mithilfe dieser Befugnis bei der Produktion von Beatmungsgeräten aufs Tempo gedrückt.

Der 20. Januar sollte den Startschuss für einen neuen nationalen Virusreaktionsplan abgeben. »Fairness und Gleichheit«, das war Bidens Mantra. Das wollte er in den Mittelpunkt seines Plans stellen, zusammen mit der Effizienz.

Sie konnten die 1385 Gesundheitszentren der Gemeinden im ganzen Land nutzen, sagte Zients zu Biden. Das sind von den Einzelstaaten und den Kommunen geführte Organisationen, die eine bezahlbare, hochwertige medizinische Grundversorgung für rund 30 Millionen Amerikaner in den am schwersten betroffenen und am schwierigsten zu erreichenden Communitys bereitstellen.10

Über 91 Prozent der dortigen Patienten leben unterhalb der Armutsgrenze, und über 60 Prozent gehören einer ethnischen Minderheit an, sagte er.11 Die Bundesregierung könnte in Zusammenarbeit mit den Gesundheitszentren für einen direkten Zugang zu Impfstoffversorgung, Finanzierung und Personal sorgen.

Bidens Team legte ihm schon bald die ersten Schätzungen hinsichtlich der Prioritäten vor, die er in seinem ersten Ausgabenpaket abgedeckt wissen wollte: über 150 Milliarden Dollar für den Kauf von Impfstoff, weitere 150 Milliarden für das Impfen selbst, und 150 Milliarden für die Wiedereröffnung der coronabedingt geschlossenen Schulen.

Brian Deese, der im Jahr 2009 mit erst 31 Jahren in führender Position zu Obamas Rettung der Automobilindustrie beigetragen hatte, war nun der designierte Leiter des Nationalen Wirtschaftsrats des Weißen Hauses. Mit seinem Vollbart und der tiefen Stimme wirkte er professorenhaft.

Deese sagte, die Regierung müsse auch die Hilfszahlungen für Arbeitslose verlängern. Die Wirtschaft lag am Boden. Seit dem Sommer waren Millionen in die Armut abgerutscht, und im November hatte es einen weiteren Einbruch bei den Neueinstellungen gegeben. Das kostete rund 350 Milliarden Dollar. Mehr als 400 Milliarden würden gebraucht, um Millionen von Amerikanern Schecks zur Ankurbelung der Wirtschaft zukommen zu lassen. Es wurde weiteres Geld gebraucht, um mit einem Ernährungsprogramm die Nahrungsmittelversorgung der Menschen zu sichern.

Nachdem der Kongress im Dezember ein Stimulus-Paket über 900 Milliarden verabschiedet hatte, klang Trump wie ein Demokrat, als er die neuen Stimulus-Schecks in Höhe von 600 Dollar als »Schande« und »lächerlich wenig« bezeichnete. Er sagte, »die Schecks müssten 2000 bzw. 4000 Dollar für Paare betragen.«12

Biden und Klain begrüßten das, auch wenn Trumps Haltung vor allem von seiner Wut auf McConnell getrieben war, weil dieser sich weigerte, seine Behauptungen über einen gefälschten Wahlausgang zu wiederholen. Chuck Schumer aus New York, Minderheitsführer im Senat, der schon lange davon träumte, McConnell abzulösen und erstmals in seiner Karriere als Mehrheitsführer zu dienen, argumentierte, die Schecks könnten dazu beitragen, Wähler vor den beiden Senatsstichwahlen in Georgia zu motivieren.

Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge hatten die Demokraten 48 Sitze im Senat. Würden jedoch die demokratischen Kandidaten Jon Ossoff und Reverend Raphael Warnock beide in Georgia am 5. Januar gewinnen, kämen sie auf 50 Sitze.

Und nach dem 20. Januar könnte gemäß der Verfassung die Vizepräsidentin Kamala Harris bei einem 50:50-Gleichstand die entscheidende Stimme sein. Es wäre hauchdünn, aber sie hätten dann die Kontrolle über den Senat und die Ausschüsse. Biden und Schumer waren sich einig, Trumps Worte als Wahlkampfmunition zu nutzen und die 2000-Dollar-Schecks zur zentralen Kampagnenbotschaft in Georgia zu machen. Die einzige Möglichkeit, um sicherzustellen, dass diese Schecks kommen, ist eine demokratische Senatsmehrheit, argumentierten sie.