Sidney Powell hatte eine neue Idee, wie man die Macht des Präsidenten ausdehnen könnte: Trump könnte mit einem Präsidentenerlass die Kontrolle über die Stimmenauszählung an sich ziehen. Die Bundesstaaten waren manipuliert, die Medien waren manipuliert. Trump musste zur Tat schreiten.
Powell erläuterte Trump am Abend des 18. Dezember ihre Strategie. Mit dabei waren ihr früherer Mandant, der von Trump ganz frisch begnadigte ehemalige nationale Sicherheitsberater Michael Flynn, sowie Patrick Byrne, der frühere Vorstand von Overstock.com. Das Treffen war nicht geplant, die drei hatten an dem Abend lediglich dem Weißen Haus einen Besuch abgestattet, angeblich hätte sie ein ihnen bekannter rangniedriger Mitarbeiter durch das Haus führen sollen. Stattdessen winkte sie Trump kurzerhand ins Oval Office.
Byrne, eine rothaarige Nervensäge aus der Businesswelt, war 2019 aus seiner eigenen Firma ausgestiegen, nachdem er eine Beziehung zu einer Frau eingeräumt hatte, die später in den USA wegen Tätigkeit als nicht registrierte Agentin Russlands verhaftet wurde.1
Er behauptete in einer Erklärung außerdem, das FBI hätte ihn in eine »politische Spionage« gegen Hillary Clinton und Donald Trump während der Wahlen von 2016 eingespannt.2
»Haben Sie irgendeine Vorstellung, wie einfach es für mich wäre, am 20. Januar einfach zu gehen, in Marine One einzusteigen und wegzufliegen?«, fragte Trump die drei. Er wirkte müde. »Ich habe meine Golfplätze. Ich habe meine Freunde. Ich hatte und habe ein richtig gutes Leben.« Aber er sagte auch, die Präsidentschaft wäre ihm gestohlen worden, und deshalb würde er kämpfen.
Das Trio versuchte, dem Präsidenten die Idee schmackhaft zu machen, Powell zur Sonderermittlerin für eine Untersuchung der Wahlen anzuheuern, vielleicht innerhalb des Büros der Berater des Weißen Hauses oder vielleicht sogar unter dem Dach des Justizministeriums.
Trump nickte. Er schien die Idee ernsthaft zu erwägen. Er rief weitere Berater herein. Meadows und Pat Cipollone, Rechtsberater des Weißen Hauses, rieten von dem Vorschlag ab, ebenso wie weitere Juristen aus Trumps Wahlkampfteam. Insgeheim hielten sie Powells Ideen für irrsinnig und gefährlich, und sie fürchteten, sie würde das Übelste in Trumps Charakter zum Vorschein bringen.
Trump wollte nicht von der Idee ablassen. Er wollte Action sehen. Powell sagte, er könnte die Wahlcomputer beschlagnahmen. Sie sagte, das wäre nötig, weil diese Maschinen von korrupten, gegen Trump eingestellten Kräften manipuliert worden wären.
Mehrere Anwälte wandten aufgeregt ein, Trump könne das nicht machen. Eric Herschmann, ein Rechtsanwalt und leitender Berater im West Wing, warnte den Präsidenten davor, sein ganzes politisches Kapital auf die Karte Powell zu setzen. Es wäre reine Verschwendung.
»Sidney Powell verspricht viel und liefert nie«, meinte Herschmann und sah Powell dabei an — eilfertig sprangen ihr Flynn und andere zur Seite.
»Juristen«, seufzte Trump, »ich habe nichts als Juristen, die mich an allem hindern wollen.«
»Ich stehe ganz schlecht da wegen meiner Juristen und wegen des Justizministeriums«, fügte er hinzu.
Trump sah Powell an. »Sie gibt mir immerhin eine Chance.« Sirenengesang im Ohr des Präsidenten: Handle per Dekret!
Trump rief Meadows über die Freisprechfunktion an. Machen Sie Powell zur Sonderberaterin, sagte er. Meadows antwortete ausweichend, signalisierte zwar Unterstützung für Trumps Kampf, wollte aber nichts versprechen.
»Sie müssen es richtig anstellen. Sie müssen das über das Justizministerium laufen lassen«, sagte er. »Sie können nicht, Sie können das nicht einfach heute Abend per Dekret durchsetzen.«
»Mir ist es wichtig, an diese Maschinen ranzukommen«, sagte Trump zu seiner Truppe. »Ich will diese Maschinen haben, und ich habe nach dem Gesetz auch das Recht dazu«, ein Verweis auf den National Emergencies Act, der die Rechte des Präsidenten im Fall eines Notstands regelt.
FDR hatte sich auf das Gesetz berufen, um die Große Depression in den Griff zu bekommen, und Truman hatte versucht, es gegen einen Streik der Stahlarbeiter während des Koreakriegs einzusetzen. Der Supreme Court beschied Truman allerdings letztendlich in einem richtungsweisenden Verfahren, Youngstown Sheet & Tube Co. v. Sawyer, dass ein Präsident nicht das Recht hatte, die Stahlfabriken oder irgendwelches anderes Privateigentum zu requirieren.3
Trumps Wahlkampfjuristen und die Rechtsberater des Weißen Hauses sahen sich gegenseitig an. Eine Beschlagnahme der Wahlcomputer durch Maßnahmen der Exekutive könnte drastische Konsequenzen nach sich ziehen. Wie sollte man dabei vorgehen? Etwa mit dem Militär? In einem Interview mit Newsmax am Vortag hatte Flynn das »Kriegsrecht« als mögliche Option ins Spiel gebracht.
Trump tobte. »Ich brauche Juristen im Fernsehen. Ich brauche Leute, die vor die Kameras gehen. Sidney geht vor die Kameras. Rudy geht vor die Kameras. Holt mir Rudy ans Telefon.«
Herschmann, Powell und Flynn begannen lebhaft zu diskutieren.
Trump wies die Vermittlung des Weißen Hauses an, Giuliani anzurufen.
»Erst einmal beruhigt sich bitte alles!«, sagte Giuliani über die Freisprechanlage. Er konnte den lauten Streit im Hintergrund mithören.
Lautes Klirren und andere Geräusche waren aus dem Hintergrund zu vernehmen. Trump fragte Rudy, was das für ein Lärm sei. »Rudy? Sind Sie das?«
Am anderen Ende der Leitung wies Giuliani seine Leute an, sie sollten leiser sein. »Ich habe gerade einen Anruf.«
»Soll ich ins Weiße Haus rüberkommen?«
Ja, sollte er, sagte Trump. »Sind Sie in der Nähe?«
»Na ja, ich bin in Georgetown.« Er war zum Dinner in einem italienischen Restaurant. »Ich kann in vielleicht 15 Minuten da sein. Ich habe einen Fahrer.«
»Alles klar«, sagte Trump. »Kommen Sie her.«
Trump wandte sich wieder der Gruppe im Oval Office zu. Giuliani blieb in der Leitung. Trump sah Powell an. »Ich finde sie großartig im TV«, sagte er. »Sie wird sich hervorragend für unsere Sache starkmachen.« Er sprach mit Meadows, der ebenfalls dazukam.
»Ich mache Sidney zur Sonderberaterin des Präsidenten. Mark, Sie erledigen die Formalitäten«, sagte Trump. »Geben Sie ihr die Dokumente, damit sie an Bord kommen kann.«
Als Giuliani Trumps Anweisung vernahm, meldete er sich augenblicklich zu Wort. Er war stolz darauf, Trumps Chefanwalt zu sein. Was sollte das mit der Sonderberaterin denn werden? Das passte ihm überhaupt nicht.
»Ich bin unterwegs«, sagte Giuliani.
Okay, sagte Trump, dann beschied er die anderen, die Versammlung würde in ca. 30 Minuten in der Residenz fortgesetzt. Bevor er nach oben ging, wandte sich Trump an das Trio. Damit diese Sache klappt, müssen Sie gut mit Rudy zusammenarbeiten.
Nachdem die anderen gegangen waren, blieben Powell, Flynn und Byrne im Cabinet Room und warteten auf Giuliani, bevor sie wieder zu Trump gingen. Während Giuliani in der Leitung der Freisprechanlage war, konnte Byrne spüren, dass der Ex-Bürgermeister nicht glücklich über Powells Versuch war, die Verantwortung an sich zu ziehen. Er war der juristische Boss. Byrne hoffte, es gäbe nun eine Gelegenheit, sich zu unterhalten und einen Weg zur Zusammenarbeit zu finden.
Nachdem Giuliani eingetroffen war, immer noch dabei, seine Krawatte zu binden, war schnell klar, dass sich keine Harmonie einstellen würde. Giuliani ließ Powell schroff wissen, sie müsse ihn ab jetzt über ihre juristische Tätigkeit auf dem Laufenden halten. Es dürfe keine weiteren Überraschungen mehr geben. Sie reagierte nicht minder scharf: Sie melden sich doch nie bei mir, wenn ich Sie über etwas informiere. Lesen Sie erst mal Ihre Nachrichten.
Giuliani schüttelte den Kopf. Stimmt nicht, behauptete er. Sie sind es, die mich immer im Dunkeln lässt!
»Unterstehen Sie sich, von oben herab mit mir zu reden, Rudy Giuliani!«, protestierte Powell und wurde immer lauter.
Beim Treffen in der Präsidentenwohnung kam man nie auf einen gemeinsamen Nenner. Giuliani und Powell nahmen sich gegenseitig kaum zur Kenntnis. Aus einer Sonderberaterin Powell wurde nie etwas.
An jenem Montag, dem 21. Dezember, sagte Attorney General Barr, der eine Woche zuvor seinen Rücktritt für Ende Dezember angekündigt hatte, zu Reportern, es gebe keinen Bedarf für einen Sonderermittler und er könne keinen Beweis für »systemischen oder großflächigen« Betrug bei der Wahl erkennen.4
»Wenn ich der Ansicht wäre, ein Sonderermittler wäre in dieser Phase das richtige und angemessene Mittel, dann würde ich einen ernennen, aber dieser Ansicht bin ich nicht, also ernenne ich auch keinen«, sagte Barr und fügte gleich hinzu, er würde auch keinen Sonderermittler auf Hunter Biden ansetzen. Hunter Biden hatte im Dezember öffentlich gemacht, dass er Gegenstand von Untersuchungen der Bundesanwaltschaft in Delaware war.
Trump war erzürnt. Keine Sorge, beschwichtigten ihn Giuliani und andere, wir haben noch ein weiteres Ass im Ärmel.
Mike Pence.