Ende Dezember rief Pence den ehemaligen Vizepräsidenten Dan Quayle an. Mit 74 genoss der einst jungenhaft wirkende Quayle das Privatleben in Arizona mit seinem geliebten Golfspiel.
Die beiden Männer besaßen eine einzigartige Gemeinsamkeit: Beide waren Republikaner aus Indiana, und beide hatten es bis zum Vizepräsidenten gebracht.
Pence wollte Ratschläge haben. Obwohl das Electoral College am 14. Dezember seine Stimmen für Biden abgegeben hatte, war Trump überzeugt, dass Pence am 6. Januar die Wahl noch kippen und Trump zum Sieger erklären könnte, wenn der Kongress zusammentrat, um die Auszählung endgültig zu bestätigen.
Pence erklärte seinem Landsmann aus Indiana, Trump würde ihn unter Druck setzen, er solle intervenieren und dafür sorgen, dass Biden nicht die notwendigen 270 Stimmen bei der Bestätigung bekommt, und stattdessen die Wahl zur Abstimmung im Repräsentantenhaus bringen.
Wenn das Repräsentantenhaus abstimmen würde, gäbe es eine besondere Regel, einen Trick. Und Trump war fixiert auf diesen Trick, sagte Pence. Es war die Klausel, die Trump an der Macht halten konnte.
Die Demokraten hatten zwar aktuell die Mehrheit im Repräsentantenhaus, der 12. Verfassungszusatz der Verfassung sieht allerdings vor, dass im Fall einer umstrittenen Wahl nicht die einfache Mehrheitsabstimmung im Haus zum Tragen kommen würde.
Vielmehr hieß es in dem Verfassungszusatz, bei der Wahl würden blockweise die Delegationen der Einzelstaaten ausgezählt, wobei jeder Bundesstaat nur eine Stimme erhält:1
… wenn niemand eine derartige Mehrheit erreicht hat, soll das Repräsentantenhaus sogleich … den Präsidenten wählen. Bei dieser Präsidentschaftsstichwahl wird jedoch nach Staaten abgestimmt, wobei die Vertretung jedes Staates eine Stimme hat.
Die Republikaner kontrollierten inzwischen mehr Delegationen im Repräsentantenhaus, was bedeutet, dass Trump wahrscheinlich gewinnen würde, wenn es am Ende dieser Kammer obliegen sollte, den Sieger zu bestimmen.2
Quayle hielt Trumps Vorschlag für hanebüchen und gefährlich. Er erinnerte sich an seinen eigenen 6. Januar — den 6. Januar 1993 — vor 28 Jahren. Als Vizepräsident und Präsident des Senats hatte er den Wahlsieg von Bill Clinton und Al Gore zu bestätigen, die Bush senior und Quayle bei den Wahlen deutlich geschlagen hatten.
Er hatte seine Hausaufgaben gemacht. Er hatte wieder und wieder den 12. Verfassungszusatz gelesen. Alles, was er zu tun hatte, war das Zusammenzählen der Stimmen.
Der Präsident des Senats öffnet vor Senat und Repräsentantenhaus alle diese beglaubigten Listen; anschließend sind die Stimmen zu zählen.
Das war alles.
Trumps Bemühungen, Pence zu umschmeicheln, waren nach Quayles Überzeugung eine finstere Fantasie à la Rube Goldberg, die unversehens in eine Verfassungskrise münden konnte.
»Mike, Sie haben hier keinerlei Spielraum. Nicht den geringsten. Null. Vergessen Sie’s. Haken Sie das ab«, sagte Quayle.
»Ich weiß, das habe ich Trump auch schon zu erklären versucht«, sagte Pence. »Aber er glaubt ernsthaft, er könnte das machen. Und es gibt noch andere Figuren dort, die sagen, ich hätte diese Machtbefugnis. Ich habe —«
Quayle unterbrach ihn.
»Sie haben sie nicht, lassen Sie es sein«, sagte er.
Pence ließ noch nicht locker. Aus seinem politischen Altenteil heraus konnte Quayle natürlich leicht pauschale Aussagen treffen. Er, Pence, wollte wissen, von Vize zu Vize, ob es da nicht irgendeinen Hauch von Licht am Ende des Tunnels gebe, juristisch und verfassungsmäßig, um vielleicht die Zertifizierung auf Eis zu legen, wenn noch laufende Gerichtsverfahren und juristische Anfechtungen anhängig waren.
»Vergessen Sie’s«, wiederholte Quayle.
Pence stimmte letztendlich zu, dass das Kippen der Wahl seiner eigenen, traditionellen Sicht des Konservatismus widersprechen würde. Es konnte nicht sein, dass ein Mann im Alleingang die Wahl dem Repräsentantenhaus vor die Füße legt.
Quayle sagte zu Pence, er solle es gut sein lassen.
»Mike, reden Sie am besten gar nicht mehr darüber«, sagte er.
Pence hielt inne.
»Sie wissen nicht, in welcher Lage ich mich befinde.«
»Ich kenne Ihre Lage sehr genau«, meinte Quayle. »Und ich kenne auch das Gesetz. Sie hören einfach nur zu, was die Stimmenzähler im Kongress verlesen. Das ist alles, was Sie tun. Sie haben diese Macht nicht. Vergessen Sie’s einfach.«
Pence erzählte Quayle, er hätte das Video vom 6. Januar 1993 studiert.3 Es war im Archiv der Website C-SPAN.org abrufbar. Viele der Menschen, die dort zu sehen sind, waren inzwischen tot, darunter auch der damalige Sprecher des Repräsentantenhauses, Tom Foley, ein Demokrat, der Quayle die Hand reichte, als der Vizepräsident die Sitzung eröffnete.
»Meine Sitzung war ziemlich einfach«, kicherte Quayle. »Du verkündest das Ergebnis, und weiter geht’s.«
Quayle wandte sich Trumps Behauptung zu, die Wahl wäre ihm gestohlen worden. Er sagte zu Pence, diese Aussagen seien lächerlich und würden das Vertrauen der Öffentlichkeit untergraben.
»Es gibt keinerlei Beweis«, sagte Quayle.
»Na ja, da gab es so einige Dinge in Arizona«, sagte Pence und brachte Quayle auf den neuesten Stand, was die juristischen Bemühungen der Trump-Kampagne in dem Bundesstaat anging. Es gab eine Klage beim Bundesgericht, mit der der Gouverneur von Arizona gezwungen werden sollte, Bidens Sieg in dem Staat zu »annullieren«. Trump hatte sich über dieses Ergebnis aufgeregt, seit Fox News Arizona in der Wahlnacht um 23:20 Uhr als Sieg für Biden gemeldet hatte.
»Mike, ich lebe in Arizona«, sagte Quayle. »Da ist nichts im Busch.«4
Quayle spürte, dass Pence dies wusste, aber Pence achtete sorgfältig darauf, ein paar Punkte direkt aus Trumps Argumentation wiederzugeben, wie der Prozess vor den Gerichten abzulaufen hatte. Quayle hatte den Verdacht, Pence hätte einen regelrechten Marathon an Gesprächen mit Trump vor sich.
Dennoch sagte Quayle, die Behauptung mit der gestohlenen Wahl sei Unsinn, ebenso selbst der bloße Gedanke daran, Bidens Amtsübernahme im Januar zu blockieren.
Bald wandten sie sich angenehmeren Themen zu, etwa der Frage, wie es sich denn so lebe als Ex-Vizepräsident.
Quayle blickte nach draußen, nicht weit vom satten Grün der Golfplätze von Scottsdale und den Klippen des McDowell-Gebirgszugs, und versicherte Pence, alles stehe zum Besten. Sie waren Konservative. Halten Sie sich einfach an die Verfassung.
Etwa zur gleichen Zeit im Dezember sprach Senator Mike Lee aus Utah mit Senatsführer McConnell und fasste zusammen, was er seinen Kollegen seit Wochen über Versuche erzählte, die Zertifizierung der Wahlergebnisse zu verweigern: »Wir haben nicht mehr Machtbefugnisse als die Königin von England. Nicht die Spur.«
»Ich stimme Ihnen zu«, sagte McConnell. »Ich sehe es genauso.«
Als einer der konservativsten Senatoren hatte sich Lee einen Schreibtisch im Senat ausgesucht, an dem einst Senator Barry Goldwater aus Arizona gesessen hatte, der zum Gewissen der Republikanischen Partei während der Watergate-Affäre geworden war. Er war eine der treibenden Kräfte dabei gewesen, Nixon zum Rücktritt zu überreden.
Lee war einer von Trumps verlässlichsten Anhängern in der GOP, außerdem ein Streber als Jurist und ehemaliger Mitarbeiter von Richter Samuel Alito am Supreme Court. Er hatte auf Trumps engerer Kandidatenliste für die Nominierung zum Obersten Gericht gestanden und wies einen makellosen juristischen Stammbaum auf. Sein Vater, Rex Lee, war Generalstaatsanwalt unter Präsident Reagan gewesen und war Gründungsdekan an der juristischen Fakultät der Brigham Young University.
Er sah sich selbst als strikten Konstruktionisten, sprich: Er war überzeugt, dass die Verfassung dem Kongress bestimmte Machtbefugnisse verlieh, aber nicht mehr als diejenigen, die im ursprünglichen Wortlaut festgeschrieben waren.
Vor Weihnachten traf sich Lee mit Ted Cruz. Beide hatten früher als Mitarbeiter am Supreme Court gedient, beide waren strikte Konstruktionisten — »Jura-Nerds«, wie Lee das nannte. Sie liebten diese Thematik — wer besaß die Macht und warum?
In einer langen Diskussion kamen sie nach dem Eindruck Lees zur exakt gleichen Schlussfolgerung: Der Kongress hatte hier keine Befugnisse.
Cruz glaubte allerdings, einen alternativen Weg finden zu können, um die Zertifizierung des Wahlergebnisses aufzuhalten. Er hörte auf Trump-Gefolgsleute wie den Kongressabgeordneten Mo Brooks aus Alabama, der zusammen mit gleichgesinnten Konservativen gelobte, am 6. Januar Einspruch zu erheben. Sie brauchten nur einen einzigen Senator.
Wenn auch nur ein Senator formell der Zertifizierung widersprach, mussten alle 100 Senatoren über diese Zertifizierung abstimmen. Statt einer routinemäßigen Bestätigung, die innerhalb weniger Stunden abgeschlossen wäre, könnte sich diese Übung zu einem politischen Albtraum auswachsen, an dessen Ende die Republikaner im Senat gezwungen sein könnten, sich zwischen der Verfassung und Trump zu entscheiden. Cruz bat seinen Mitarbeiterstab, sich in die Recherche zur Auszählung der Wahlleute, zur Geschichte des Electoral Count Act zu vertiefen. Er hörte Dinge von Leuten daheim in Texas. Sie vertrauten dem Ausgang der Wahl nicht. Aber McConnell und andere in der Führung des Senats machten Druck auf die Mitglieder im Senat. Legt keinen Widerspruch ein.
Lee schwankte zu keinem Zeitpunkt. Er sagte immer wieder im Verlauf des Dezembers mit wachsender Dringlichkeit zu Mark Meadows und zu jedem, der ihn nach seiner Meinung fragte: »Der Präsident sollte niemals behaupten, dass der Kongress alleine dies in seinem Sinn korrigieren kann. Wir haben nicht die Macht dazu. Sie müssen erkennen, dass Sie diese Sache im Prinzip verloren haben, es sei denn, es geschieht etwas wirklich sehr Ungewöhnliches«, sagte Lee. Damit bezog er sich auf ein wenig wahrscheinliches Szenario oder einen Skandal bei der Abstimmung, »etwas, das an sich schon Stirnrunzeln hervorrufen würde und sehr, sehr besorgniserregend wäre«.
Aber auf der Grundlage der Fakten und der Beweislage, ergänzte er stets, sehe ich dieses Szenario einfach nicht.
Lee begab sich über Weihnachten in die Heimat nach Utah. Genau wie Cruz begann auch er, von Freunden, Nachbarn und Verwandten zu hören, die Wahl wäre gestohlen worden. Er erkannte, welche suggestive Macht Trump besaß.
Menschen, von denen man gewiss nicht behaupten würde, sie bewegten sich am Rand der Gesellschaft — Bürgermeister, Stadt- und Gemeinderäte, Landräte, Sheriffs —, sagten, sie würden von ihm erwarten, nach Washington zurückzugehen und — »Stop the Steal!« — dem Diebstahl Einhalt zu gebieten. In Textnachrichten, Posts in den sozialen Medien und Telefonanrufen wollten die Leute von ihm wissen, was da los war. Wie konnte es passieren, dass die Wahl gestohlen wurde? Was werden Sie unternehmen?
Lee wurde an John Eastman verwiesen, einen weiteren Trump-Anwalt.
Die beiden redeten miteinander.
»Es wird gerade an einem Memo gearbeitet«, sagte Eastman. »Ich lasse es Ihnen so bald wie möglich zukommen.«