Anfang Januar begannen Lee und Graham mit getrennten, von ihnen persönlich durchgeführten Untersuchungen zu den Wahlbetrugsvorwürfen des Präsidenten. Wenn daran etwas Wahres wäre, müsste es Beweise dafür geben, das schien ihnen logisch.
Am Samstag, dem 2. Januar, erhielt Lee ein zweiseitiges Memorandum aus dem Weißen Haus, verfasst von dem Rechtsgelehrten John Eastman, der mit Trump zusammenarbeitete.1
EINGESCHRÄNKT UND VERTRAULICH
Szenario für den 6. JanuarSieben Bundesstaaten haben dem Präsidenten des Senats doppelte Wahlleutelisten übermittelt.
Lee war schockiert. Er hatte bis dahin noch nichts von alternativen Listen von Wahlleuten gehört.
Nach dem geheimnisvollen, in der Verfassung festgelegten Verfahren gaben die Wahlmänner und -frauen die endgültigen Stimmen für den Präsidenten so ab, wie sie am 14. Dezember abgestimmt hatten. Und innerhalb von vier Tagen musste der Senat diese Stimmen offiziell auszählen, um die Wahl zu bestätigen.
Die Möglichkeit, dass es zu alternativen oder miteinander konkurrierenden Listen von Wahlleuten kommen könnte, würde landesweit Schlagzeilen machen. Bisher hatte es keine solchen Nachrichten gegeben.
Lee wusste, dass sich einige Trump-Unterstützer in verschiedenen Bundesstaaten seit mehreren Wochen als »alternative Wahlleute« angeboten hatten. Allerdings handelte es sich dabei eher um eine Social-Media-Kampagne, um eine Amateuraktion ohne rechtliche Grundlage.
Es hatte auch Aufrufe von Trump-Anhängern gegeben, die Wahlmänner und -frauen, die Biden ihre Stimmen zugesagt hatten, aus ihrer Pflicht zu entlassen, damit sie für jemand anderen stimmen konnten. Aber dieser Vorstoß in letzter Minute wurde ebenfalls durch die gesetzlichen Rahmenbedingungen erschwert, denn die meisten Staaten verboten sogenannten »treulosen« Wahlleuten, sich bei der Stimmabgabe umzuorientieren.2
Der Trump-Berater Stephen Miller hatte dennoch die Hoffnung auf eine bevorstehende Umkehrung des Wahlausgangs geschürt. Auf Fox News behauptete er im Dezember, dass »eine alternative Gruppe von Wahlleuten aus den umstrittenen Staaten abstimmen wird und wir die Ergebnisse an den Kongress weiterleiten werden«.3
In privaten Gesprächen forderte Eastman, dass Gruppen von Personen aus den Bundesstaaten, die als Wahlmänner und -frauen fungieren wollten, vom Kongress als legitim erachtet werden sollten. Diese Personen seien organisiert und entschlossen, sagte er, und es gebe einen Präzedenzfall für die Anerkennung einer zweiten Wahlleuteliste. Hawaii hatte bei der Wahl von 1960 nach einem Streit zwischen dem republikanischen Gouverneur und den Demokraten dieses Bundesstaates zwei konkurrierende Listen aufgestellt.
Doch anders als im Jahr 1960 gab es diesmal keinen offiziellen Versuch, konkurrierende und zugkräftige Wahlleutelisten auf der Ebene einzelstaatlicher Parlamente zu präsentieren. Aufrufe an die Gouverneure, Sondersitzungen bezüglich der Abstimmung einzuberufen, blieben ungehört. Es gab lediglich einen lautstarken Protest, vor allem von Trump-Anhängern in verschiedenen Bundesstaaten, die die Anerkennung einer anderen Gruppe von Wahlleuten durch den Kongress forderten.
Am 2. Januar war Lee sich sicher, dass bisher nichts geschehen war. Es war alles nur Gerede gewesen, bloßer Lärm in dieser Angelegenheit, deren Rahmenbedingungen in der Verfassung genau festgelegt waren.
»Was ist das?«, fragte sich Lee, während sein Blick auf Eastmans Dokument ruhte.
Lee wusste auch, dass jeder Versuch, den Vizepräsidenten zum entscheidenden Akteur bei der Bestätigung der Wahl zu machen, eine absichtliche Verzerrung der Verfassung darstellen würde.
Lee hatte Mark Meadows und andere Personen im Weißen Haus und bei den Republikanern wiederholt darauf hingewiesen, dass der Vizepräsident nur die Rolle eines Gehilfen bei der Auszählung spielte. Das war alles, was ihm zustand. Es war eine Befugnis, die in diesen sechs Worten des 12. Zusatzartikels genau beschrieben und beschränkt wurde: »und dann werden die Stimmen gezählt«.
Eastmans zweiseitiges Memo stellte das übliche Zählverfahren auf den Kopf. Lee war überrascht, dass eine derartige Stellungnahme von Eastman kam, einem Juraprofessor, der für den Richter des Obersten Gerichtshofs Clarence Thomas gearbeitet hatte.
Lee las weiter. »Hier ist das Szenario, das wir vorschlagen.« Das Memo enthielt sechs mögliche Schritte für den Vizepräsidenten. Der dritte Punkt fiel dem Senator besonders auf.
3. Am Ende gibt er bekannt, dass aufgrund der anhaltenden Streitigkeiten in den sieben Bundesstaaten keine Wahlleute aus diesen Staaten als rechtskräftig ernannt gelten können. Das bedeutet, dass die Gesamtzahl der »ernannten Wahlmänner« — so die Formulierung des 12. Verfassungszusatzes — 454 beträgt. Diese Lesart des 12. Zusatzartikels wurde auch vom Harvard-Juraprofessor Laurence Tribe vertreten (hier). Eine »Mehrheit der ernannten Wahlmänner« wäre demnach 228. Beim jetzigen Stand liegen 232 Stimmen für Trump vor und 222 Stimmen für Biden. Pence erklärt daraufhin Präsident Trump für wiedergewählt.
Er las es sicherheitshalber noch einmal. Pence »gibt bekannt, dass aufgrund der anhaltenden Streitigkeiten in den sieben Bundesstaaten keine Wahlleute aus diesen Staaten als rechtskräftig ernannt gelten können«. Damit würde Pence die Zahl der Staaten, deren Stimmen bei der Wahl gezählt werden, auf nur noch 43 Staaten reduzieren, sodass 454 Wahlleute übrig bleiben würden, die entscheiden würden, wer gewinnt.
»Beim jetzigen Stand liegen 232 Stimmen für Trump vor und 222 Stimmen für Biden«, schrieb Eastman über dieses Szenario. »Pence erklärt daraufhin Präsident Trump für wiedergewählt.«
Eine Maßnahme des Vizepräsidenten, um Dutzende von Millionen rechtmäßig abgegebener Stimmen zu annullieren und einen neuen Sieger zu verkünden? Lee wurde ganz schwindelig. Eine derartige Vorgehensweise wurde weder durch die Verfassung noch durch ein Gesetz oder eine frühere Praxis gestützt. Eastman hatte sich diese Idee offenbar aus den Fingern gesaugt.
Eastman hatte auch die zu erwartende Empörung und die Befürchtung eines Staatsstreichs antizipiert.
4. Natürlich gibt es einen Aufschrei vonseiten der Demokraten, die nun entgegen Tribes zuvor erwähnter Position behaupten, dass 270 Stimmen erforderlich seien. Also sagt Pence: In Ordnung. Gemäß dem 12. Verfassungszusatz hat kein Kandidat die erforderliche Mehrheit erreicht. Damit wird die Angelegenheit an das Repräsentantenhaus verwiesen, wo »die Abstimmung nach Bundesstaaten erfolgt, wobei die Vertretung jedes Staates eine Stimme hat […]«. Die Republikaner kontrollieren derzeit 26 der bundesstaatlichen Delegationen, gerade genug für die Mehrheit, die nötig ist, um diese Abstimmung zu gewinnen. Auch auf diese Weise wird Präsident Trump somit wiedergewählt.
So würden sie ihr Spiel aufziehen. Entweder würde Pence persönlich Trump zum Sieger erklären, oder er würde dafür sorgen, dass die Wahlentscheidung im Repräsentantenhaus getroffen würde, wo Trump die Garantie hätte zu gewinnen.
Der Kongress hatte die Präsidentschaftswahlen erst zweimal zuvor in der amerikanischen Geschichte entschieden. Lee verschlang den Rest von Eastmans Memo, in dem außerdem stand: »Pence sollte dies tun, ohne um Erlaubnis zu fragen.«
»Tatsache ist, dass die Verfassung dem Vizepräsidenten die Befugnisse eines endgültigen Schiedsrichters erteilt«, hieß es darin.
Lee wusste, dass nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein konnte als dies. Der Vizepräsident war keineswegs der »endgültige Schiedsrichter«. Wie Quayle hatte er sich die Zeile des 12. Verfassungszusatzes eingeprägt, die besagte, dass der Präsident des Senats einfach »alle Bescheinigungen öffnet und die Stimmen dann gezählt werden«.
Was für ein Chaos. Lee hatte fast zwei Monate lang versucht, Trump und Meadows klarzumachen, dass sie Rechtsmittel einlegen sowie Unterlagenprüfungen, Neuauszählungen oder andere Schritte fordern konnten. Sie konnten Dutzende von Klagen einreichen. Aber ihre Zeit war begrenzt. »Denken Sie stets daran, dass die Stoppuhr läuft«, sagte er.
Wenn nichts davon klappte, würde Pence nur die Stimmen zählen können. Das war’s.
Mark Meadows war in seiner Jugend, wie er selbst sich nannte, ein »fetter Nerd« und ein Außenseiter gewesen.4 Nunmehr 61 Jahre alt, war er etwas schlanker geworden, aber stämmig geblieben; er war stolz darauf, der Trump-Insider zu sein. Er war zu der Person geworden, die Trump zu jeder Tageszeit anrief. Seine Kollegen kommentierten unter vier Augen, wie begeistert er war, wenn er von den Anrufen des »POTUS« erzählte, wie er den Präsidenten nannte.
Meadows konnte auch sehr diskret arbeiten; er liebte es, Leute beiseitezunehmen und Besprechungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit abzuhalten. Aber er war keineswegs reserviert. Wenn es etwas an ihm auszusetzen gab, dann fanden ihn einige von Trumps Mitarbeitern eher zu emotional. Bei mehreren Gelegenheiten hatte er im Westflügel in aller Öffentlichkeit geweint, wenn es um heikle personelle und politische Entscheidungen ging.5
Meadows berief am Samstag, dem 2. Januar, ein Treffen in seinem Büro im Weißen Haus ein, damit Graham in seiner Rolle als Anwalt und Vorsitzender des Justizausschusses des Senats von Giuliani und dessen Mitarbeitern über die Wahlprobleme und den Wahlbetrug informiert werden konnte, die sie angeblich gefunden hatten.
Ihre Erkenntnisse seien ausreichend, um die Wahl zu Trumps Gunsten zu kippen, behauptete Giuliani unter Berufung auf Beweise, die ihm vorgelegt worden seien.
Giuliani bot einen Computerexperten auf, der eine mathematische Formel vorstellte, die zeigen sollte, dass ein Sieg Bidens nahezu ausgeschlossen war. Mehrere Bundesstaaten hatten mehr Stimmen für Biden registriert, als zuvor in den Jahren 2008 und 2012 für Obama abgegeben worden waren.6 Da die Umfragen aber zeigten, dass Obama in diesen Staaten beliebter als er gewesen sei, sei es für Biden rechnerisch fast unmöglich gewesen, Obama bei den Präsidentschaftswahlen 2020 auf rein numerischer Ebene zu überholen, versicherte Giulianis Experte.
Das sei zu abstrakt, bemerkte Graham. Der Ausgang einer Präsidentschaftswahl lasse sich nicht auf der Grundlage irgendeiner Theorie beeinflussen. Er misstraue zwar den Mainstream-Medien, die kategorisch behaupteten, dass die Vorwürfe von Trump falsch seien, aber er wolle mehr Belege. Zeigen Sie mir ein paar konkrete Beweise, sagte Graham.
Giuliani und sein Team erklärten, sie hätten überwältigende, unanfechtbare Belege dafür, dass Stimmen gezählt worden seien, die von Toten, von Jugendlichen unter 18 Jahren und von inhaftierten Schwerverbrechern stammten.
Graham entgegnete, zweifellos sei einiges davon zutreffend, aber er benötige Beweise.
»Ich bin ein schlichter Mensch«, sagte er. »Wenn man tot ist, darf man nicht wählen. Wenn man unter 18 ist, darf man nicht wählen. Wenn man im Gefängnis sitzt, darf man nicht wählen. Konzentrieren wir uns auf diese drei Aspekte.«
Etwa 8000 Verbrecher haben in Arizona gewählt, antworteten sie ihm.
»Nennen Sie mir einige Namen«, verlangte Graham.
Sie erwiderten, sie wüssten von 789 Toten, die in Georgia gewählt hätten. Namen, sagte Graham. Sie versprachen, ihm die Namen bis zum Montag zu nennen. Dann erzählten sie ihm, sie hätten 66.000 Personen unter 18 Jahren gefunden, die illegal in Georgia gewählt hätten.
Wissen Sie, wie schwer es ist, jemanden, der 18 Jahre alt ist, zur Stimmabgabe zu bewegen? Und Sie haben 66.000 junge Leute unter 18 entdeckt, die gewählt haben, ist das richtig?
Ja, das ist richtig.
»Geben Sie mir ein paar Namen. Ich benötige es schriftlich von Ihnen. Sie müssen mir handfeste Beweise zeigen.«
Sie stellten ihm dies für Montag in Aussicht.
»Sie sind dabei, Ihre Prozesse zu verlieren«, fügte Graham hinzu.
Trumps Anwälte hatten mittlerweile bei fast 60 Wahlanfechtungen verloren.7 Am Ende würden etwa 90 Richter, darunter auch von Trump ernannte, gegen die von Trump veranlassten Klagen entscheiden.
Vizepräsident Pence ging am späten Sonntagabend, dem 3. Januar, nach der Vereidigung der neuen Senatsmitglieder in sein Büro in der Nähe des Senatssaals, um sich mit der Verhandlungsleiterin des Senats, Elizabeth MacDonough, unter vier Augen zu treffen.
McConnell und seine Stabschefin Sharon Soderstrom, eine Expertin für Richtlinien und Verfahrensweisen, hatten Pence zu diesem Schritt geraten. Sie wollten keine Überraschungen erleben und waren der Auffassung, dass sich Pence vorbereiten sollte, selbst wenn er einen vorab verfassten Text vortragen würde.
Begleitet von seinem Stabschef Marc Short und seinem Anwalt Greg Jacob bat Pence MacDonough, ihm den Plan für den 6. Januar zu erläutern. Erzählen Sie mir, wie das ablaufen wird. Er machte sich Notizen, während MacDonough ihm erklärte, wie er auf Schwierigkeiten reagieren konnte und welche Möglichkeiten er als Vorsitzender hatte.
Pence überhäufte sie mit hypothetischen Fragen: Was geschieht, wenn dieser Einspruch erhoben wird? Wie geht das vonstatten? Welche Redepassagen muss ich genau einhalten und bei welchen Teilen meiner Rede habe ich vielleicht ein wenig Spielraum?
Short und Pence hatten wochenlang darüber diskutiert, ob es für Pence möglich sein würde, den in den Fernsehnachrichten ideal verwertbaren Augenblick zu vermeiden, in dem er der Welt Trumps Niederlage würde verkünden müssen. Ein gefundenes Fressen für einen Rivalen von Pence im Jahr 2024.
»Darf ich vielleicht Verständnis für einige der Einwände äußern?«, fragte Pence.
MacDonoughs Antwort war knapp und sachlich. Halten Sie sich an das vorgegebene Skript, riet sie ihm. Ihre Aufgabe ist die eines Stimmenzählers. Pence gab ihr recht.