Am Montag, dem 4. Januar, war Graham im Weißen Haus, wo er einige Memos erhielt, die Trumps Behauptungen stützten. Er beauftragte seinen Fahrer, sie zu Lee Holmes zu bringen, Grahams Hauptanwalt im Justizausschuss, der seit sieben Jahren für ihn tätig war.
Das erste Memo von Giuliani an Graham enthielt 20 Seiten mit jeweils 39 Namen plus 9 weitere Namen.1 Es sah beeindruckend aus.
Bei der Lektüre erfuhr Holmes, dass ein Team von Buchprüfern »789 tote Personen identifiziert hatte, die in Georgia bei den Parlamentswahlen 2020 gewählt hatten«. Die Untersuchung bezog sich auf per Briefwahl und durch Bevollmächtigte abgegebene Stimmen.
Für Holmes war es unklar, wie jemand eine so umfangreiche Liste von Verstorbenen zusammenstellen und sie auf aussagekräftige Weise mit deren kurze Zeit zurückliegendem Wahlverhalten abgleichen konnte. Aber vielleicht waren einige der Namen auf Giulianis Liste tatsächlich für Wahlbetrug verwendet worden.
Auf jeden Fall fand Holmes, nachdem er begonnen hatte, Hunderte von Namen zu überprüfen, keine glaubwürdigen Beweise für Betrug.
Robert Drakeford zum Beispiel war 88 Jahre alt, als er am 18. September einen Stimmzettel erhielt. Der Stimmzettel wurde fünf Tage später zurückgeschickt. Den Unterlagen zufolge starb Drakeford am 2. November. Eine weitere betagte Person hatte gewählt und war gestorben, womit nichts bewiesen war, selbst wenn das Dokument der Wahrheit entsprach.
Aber Giuliani hatte in seinem Memo an Graham geschrieben, dass die Angaben »sicher feststehend« seien. Das war eine gewagte Behauptung.
Holmes war fassungslos angesichts der eklatanten Unstimmigkeiten in Giulianis Bericht. Soweit er es beurteilen konnte, hatten fast alle der 789 Toten, die angeblich in Georgia gewählt hatten, ihre Stimmzettel ordnungsgemäß erhalten, bevor sie starben. Die Quellenlage war unklar. Er konnte nicht erkennen, welche Regierungsdokumente verwendet worden sein könnten.
Zweifellos hatten einige Menschen in Georgia erst gewählt und waren dann gestorben. Dieser Bericht bewies gar nichts, er war lächerlich. Holmes konnte nachvollziehen, warum die Gerichte in Georgia Trumps Beanstandungen zurückgewiesen hatten.
In einem zweiten Memo von Giuliani über Georgia hieß es:2
Dann sah sich Holmes einen PowerPoint-Ausdruck an, der ihm von Giuliani geschickt worden war:3 »Unabhängige Analysen, die von fachkundigen Buchprüfern und Ivy-League-Statistikern durchgeführt wurden, zeigen eine hinreichende Zahl illegaler Stimmen. […] In Georgia wurden bei der Wahl mindestens 27.713 illegale Stimmen abgegeben und mitgezählt.«
Holmes fragte sich, wer diese nicht namentlich genannten superschlauen Experten sein konnten. Diese Gesamtzahl war mehr als doppelt so hoch wie die 11.779 Stimmen, die Biden den Sieg in diesem Bundesstaat bescherten.
Die »vertrauliche« Analyse des Memos besagte auch, dass 18.325 Wähler sich »mit einer Wohnadresse registriert hatten, die vom USPS, dem United States Postal Service, als leerstehend gekennzeichnet ist«.
Wie könnte irgendjemand, und sei es ein Team von Spitzenklasse-Statistikern, 7,6 Millionen registrierte Wähler durchgehen und diese mit den Postverzeichnissen abgleichen, um 18.325 an unbewohnten Adressen registrierte Personen zu finden?
Holmes war geschickt dabei, Informationen im Internet zu finden, und klickte sich durch die große Zahl der öffentlich zugänglichen Wählerdaten. Er konnte keine Website entdecken, die jemandem Zugang zu Angaben verschafft hätte, die eine derartige Ermittlung möglich gemacht hätten. In den Memos von Giuliani wurde aber behauptet, dass alle Informationen aus öffentlichen Verzeichnissen stammten.
In Giulianis Analyse wurde überdies erwähnt, es habe »305.701« Fälle gegeben, in denen »das Datum der Beantragung einer Stimmabgabe durch Bevollmächtigte vor dem frühesten nach den Gesetzen von Georgia zulässigen Datum« gelegen habe.
Aber dafür hätte man wiederum 7,6 Millionen Karteikarten von Wählern durchsehen müssen. Soweit Holmes das beurteilen konnte, waren die Angaben zu den Anträgen auf Wahl durch Bevollmächtigte nur in einigen Bezirken Georgias verfügbar. Folglich wäre es nahezu unmöglich gewesen, dies bei 7,6 Millionen Wählern zu überprüfen.
In einem weiteren »vertraulichen« Memo hieß es, es hätten »4502« Personen eine Stimme abgegeben, die »nicht in den Wählerverzeichnissen des Bundesstaates aufgeführt sind«.4 Wie konnten nicht registrierte Personen eine Stimme abgeben? Und wie konnte man das herausfinden?
Dann erhielt Holmes eine E-Mail von einem Team erfahrener konservativer Anwälte, die mit Giuliani in Georgia zusammenarbeiteten.5 In der E-Mail stand:
Dann widmete sich Holmes wieder den Memos von Giuliani und stellte fest, dass ein Großteil der neuesten Daten aus den journalistischen Recherchen von Christina Bobb vom One America News Network stammte, einem Pro-Trump-Fernsehsender, der Verschwörungstheorien über »Wahlmaschinen« verbreitete, die für Betrug »berüchtigt« seien.6 Er hatte den Eindruck, dass die Zahl der angeblich minderjährigen Wähler in Georgia außergewöhnlich hoch war.
In Bezug auf Nevada hieß es in dem Memo, dass »42.284 registrierte Wähler mehr als einmal gewählt haben«.
Holmes fragte sich, wie dies möglich gewesen sein sollte. In mehreren Wahlbezirken? In denselben Wahlbezirken? Eine doppelte Stimmabgabe war eindeutig illegal, aber wer würde das denn in laut Giuliani öffentlich zugänglichen Listen verfolgen und aufzeichnen?
In Nevada, so stand weiter in dem Memo, waren »2468 Wähler 30 Tage vor der Wahl aus dem Bundesstaat Nevada weggezogen und daher nicht wahlberechtigt«. Und 1506 waren als »verstorben [gemeldet] vom Hauptsterberegister der Sozialversicherungsverwaltung, von Konsumentendaten-Verkäufern, durch Erwähnungen in öffentlichen Todesanzeigen, in den Daten über verstorbene Kreditnehmer«.
»8111 Wähler hatten sich mit nicht existierenden Adressen registriert«, so Giulianis Bericht. »15.164 Wähler aus anderen Bundesstaaten haben [in Nevada] gewählt.«
Holmes konnte keine öffentlich zugänglichen Verzeichnisse finden, die es jemandem erlauben würden, derartige Schlussfolgerungen zu ziehen.
In Bezug auf Arizona stand in dem Memo, es habe »36.473 Personen [gegeben], die ihre Staatsbürgerschaft nicht nachweisen konnten, deren Stimmzettel aber akzeptiert und mitgezählt wurden«.
Holmes wusste, dass eine Überprüfung der Staatsbürgerschaft bei landesweiten Parlamentswahlen nicht erforderlich war; sie war sogar nicht einmal zulässig. Er stieß auf einen Fall des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 2013, Arizona vs. Inter Tribal Council, bei dem die Auffassung vertreten wurde, dass das Gesetz zur Registrierung bei nationalen Wahlen von 1993 den Bundesstaaten verbietet, bei landesweiten Stimmabgaben einen Nachweis der Staatsbürgerschaft zu verlangen.7 Holmes rief Wahlbeamte in Arizona an, die ihm sagten, dass sie keine Staatsbürgerschaftsnachweise verlangten und dass sie sich an die Rechtsprechung in dem vom Obersten Gerichtshof entschiedenen Fall hielten.
Es handelte sich um eine weitere Zahl ohne faktische Grundlage und vor allem auch ohne Namen.
Eine wirkliche Täuschung war die Behauptung, es habe in Arizona 11.676 Stimmüberschreitungen gegeben. Von »Stimmüberschreitungen« sprach man, wenn ein Wähler für mehr als die erlaubte Anzahl von Kandidaten stimmte. Der Vorwurf stützte sich auf einen fünfseitigen Bericht, in dem die Stimmüberschreitungen bei 220 verschiedenen Wahlen im Bundesstaat aufgelistet waren, darunter für den Richter des Berufungsgerichts, den Constable, den County Assessor sowie für das Amt des Stadtrats und des Bürgermeisters von Phoenix. In Giulianis Memo wurden dann alle diese Fälle addiert, um auf die Gesamtzahl von 11.676 zu kommen.
Bei der Präsidentschaftswahl gab es jedoch nur 180 Stimmüberschreitungen; nur sie konnten eine Rolle spielen im Duell zwischen Trump und Biden. Dieser einzige relevante Bereich mit 180 Fällen würde am Wahlausgang in Arizona nichts ändern, da Biden laut der letzten Auszählung mit 10.457 Stimmen gewonnen hatte.
In Wisconsin gaben laut dem Memo 226.000 Menschen ihre Stimme ab, die möglicherweise »lebenslänglich inhaftiert« waren, und weitere »170.140 Personen gaben ihre Stimme über eine Vollmacht ab, ohne sich zuvor für diese Art der Stimmabgabe registriert zu haben«.
Weiterhin wurde behauptet, dass in Pennsylvania »682.777 Briefwahlstimmen mitten in der Nacht vom 3. auf den 4. November ausgewertet wurden, entgegen den Gesetzen des Bundesstaates«, die vorschreiben, dass die Auszählung von Vertretern beider Parteien überwacht wird. Dieser Vorwurf stützte sich auf die eidesstattliche Erklärung eines einzigen Wahlbeobachters.
»Alle betrügerischen Stimmen müssen abgezogen werden«, hieß es in dem Memo. Holmes war erneut erstaunt angesichts der Übertreibung. Betrügerisch? Dafür gab es keine Beweise.
Anschließend wurde behauptet: »Wenn man nur diese Zahl abzieht, dann gewinnt Präsident Trump den Staat mit [einem Vorsprung von] Hunderttausenden [von Stimmen]«.
Holmes fand die Schludrigkeit, den anmaßenden Ton vorgeblicher Gewissheit und die Ungereimtheiten dieser Argumentation disqualifizierend. Die drei Memos ergaben keinen Sinn.
Nichtsdestotrotz hatte in einem der für Graham bestimmten Memos gestanden: »Die detaillierten Informationen in diesem Memorandum sind eine einfache Momentaufnahme der überprüfbaren Angaben, die zur Verfügung stehen. Auf Ihren Wunsch hin haben wir die Anzahl der Namen und Identitäten auf eine kleine Auswahl beschränkt, und dieses Memorandum soll die Tatsache veranschaulichen, dass die illegalen Stimmen nachweisbar, dokumentiert und identifizierbar sind.«
Holmes berichtete Graham, die Daten in den Memos seien ein Fantasieprodukt, vorgetragen in einem anmaßenden Tonfall und einem Sprachstil wie in der achten Klasse.
Graham sah sich die Memos an.
»Dritte Klasse«, sagte er. Holmes fügte hinzu, ein Teil der Vorwürfe beruhe auf einer eidesstattlichen Erklärung.
Graham erwiderte: »Ich kann mir bis morgen eine eidesstattliche Erklärung beschaffen, in der steht, dass die Welt eine Scheibe ist.«
Obwohl Trump weiterhin wütend über die Entscheidung von Arizona und Fox News war, Biden frühzeitig in der Wahlnacht zum Sieger auszurufen, war Graham überzeugt, dass der Gouverneur von Arizona, Doug Ducey, der Republikaner war, für eine faire Wahl gesorgt hatte und über ein effektives System zur Überprüfung der Unterschriften verfügte.
Graham sagte zu Trump, er habe Arizona wegen seiner Angriffe auf den verstorbenen John McCain verloren, der in seinem Heimatstaat nach wie vor beliebt sei. Dessen Witwe Cindy hatte Biden unterstützt, der mit ihr gut befreundet war und bei McCains Beerdigung gesprochen hatte.
»Ich glaube, der Grund für Ihre Niederlage in Arizona ist, dass Sie auf einem Toten herumgehackt haben«, bemerkte Graham.
Senator Lee und seine Frau Sharon flogen nach Georgia, um an Trumps Kundgebung am 4. Januar für die republikanischen Senatoren Loeffler und Perdue vor deren jeweiligen Wahlen teilzunehmen.
Lee traf sich dort mit Trumps in Georgia operierendem Anwaltsteam, das das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in diesem Bundesstaat anzweifelte. Die Anwälte waren eifrig bei der Sache und argumentierten, sie hätten zahlreiche Beweise dafür, dass viele Briefwahlstimmen an Adressen geschickt worden seien, die keine Wohnadressen seien und keine legitimen Adressen für einen Wähler in Georgia. Sie sagten, es seien so viele Stimmen auf unrechtmäßige Weise für Biden abgegeben worden, dass Trump nun zum Wahlsieger erklärt werden müsse.
»Wenn Sie recht haben«, sagte Lee, »warum sind Sie dann nicht vor Gericht, um eine einstweilige Verfügung zu erwirken? Oder um eine Vorausklage einzureichen? Oder warum bringen Sie diese Argumente nicht gegenüber den Wahlbeamten in Georgia vor? Gegenüber dem Wahlleiter? Gegenüber dem Gouverneur oder dem Generalstaatsanwalt oder Ihrem Parlament?«
Die Legislative des Bundesstaates hatte alle nötigen Befugnisse. Deshalb fragte er sie: »Warum erzählen Sie das mir? Sie könnten Ihr Problem genauso gut der englischen Königin vortragen. Der Kongress kann nichts für Sie tun. Sie verschwenden Ihre Zeit.«
Die Anwälte wiesen ihn darauf hin, dass ein Gericht oder das bundesstaatliche Parlament immer noch einschreiten könnten.
»Ich bin mir sicher, dass das in die Schlagzeilen kommen wird,« sagte Lee, »sodass ich es nicht verpassen werde.«