Kurz nach 16 Uhr, während weitere Randalierer ins Kapitol eindrangen und dabei die Beamten der Capitol Police überrannten, rief Pence Christopher Miller, den amtierenden Verteidigungsminister, an und befahl ihm: »Räumen Sie das Kapitol.«1
Miller versicherte Pence, er sei bereits dabei, dies zu veranlassen, und es seien Vorbereitungen dafür im Gange.
Im Weißen Haus blieb Kellogg nahe beim Präsidenten, der sich weiterhin im Oval Office befand. Meadows war auch nicht weit entfernt.
Dann kam der stellvertretende Nationale Sicherheitsberater Matthew Pottinger vorbei, ein ehemaliger Journalist und einer der wichtigsten Ratgeber von Trump in Bezug auf China und die Pandemie.
Meadows ließ seine schlechte Laune an Pottinger aus. Die Nationalgarde ließ zu lange auf sich warten.
»Verdammt noch mal«, fluchte Meadows. Er sagte, er habe Miller aufgetragen, sich zu beeilen. »Wo ist die Garde?«
Pottinger, der Kontakte zum Pentagon und zu verwandten Behörden hatte, berichtete, Miller würde die Garde nur äußerst ungern zur gewaltsamen Niederschlagung der Unruhen einsetzen. Das erscheine Miller zu militarisiert und zu brutal.
Meadows wollte diese Ausrede nicht gelten lassen.
Ich habe ihn doch aufgefordert, die Garde in Bewegung zu setzen. Gehen Sie los und sorgen Sie dafür, dass das geschieht, sagte Meadows. Er befahl Pottinger, Miller anzurufen und ihn zu drängen.
Kellogg wollte mithelfen und rief Millers Stabschef Kash Patel an.
»Was zum Teufel treibt ihr da?«, fragte Kellogg ihn. »Meadows ist ganz aufgebracht, weil die Garde noch nicht auf dem Weg ist.«
»Oh, sie ist schon unterwegs, jetzt kommt sie«, erwiderte Patel. Anthony Ornato, ein Secret-Service-Beamter, der zu Trumps Einsatzleiter im Weißen Haus geworden war, erinnerte Kellogg an eine andere Möglichkeit.
»Wir haben 2000 Marshals, die wir sofort anfordern können, um sie dort einzusetzen«, sagte Ornato.
»Das ist vermutlich keine schlechte Idee. Schicken Sie sie zusätzlich dorthin«, antwortete ihm Kellogg.
Es kamen immer mehr Leute ins Oval Office. Vorschläge zur Schadensbegrenzung machten die Runde. Der Präsident könnte noch mehr Tweets verfassen. Eine Videobotschaft aufnehmen. Eine Pressekonferenz abhalten.
»Das wäre wahrscheinlich das Dümmste, was er in diesem Augenblick tun könnte«, sagte Kellogg. »Wenn man bei einer Pressekonferenz auftritt, bedeutet das, dass man Fragen gestellt bekommt, über die man keine Kontrolle hat. Man muss sicherstellen, dass man die Situation im Griff hat.«
Dann gingen Meadows und Kellogg sowie weitere Berater hinein zum Präsidenten, um mit ihm zu sprechen. Gemeinsam beschloss man, einen Videoclip aufzuzeichnen.2 Er wurde kurz danach vor dem Weißen Haus gedreht, mit Trump vor einer einzigen Kamera. Er enthielt keine Entschuldigung und kein Zugeständnis und wurde um 16:17 Uhr veröffentlicht.
»Bei dieser Wahl wurde betrogen, aber wir dürfen diesen Leuten nicht in die Hände spielen«, sagte Trump. »Wir müssen es friedlich lösen. Geht also nach Hause. Wir lieben euch. Ihr seid etwas ganz Besonderes.«
Sieben Minuten später veröffentlichte der U. S. Marshals Service einen Tweet: »Der U. S. Marshals Service schließt sich mit anderen Sicherheitsbehörden zusammen, um die U. S. Capitol Police beim Einsatz in Washington, D. C. zu unterstützen.«3
In einem riesigen Raum in einem Bürogebäude des Senats wurden die Senatoren beider Parteien aufgefordert, diese Örtlichkeit nicht zu verlassen, während die Capitol Police die Tür bewachte. Es gab dort nur wenig zu essen, und die Senatoren murrten, dass sie Hunger hätten. Während sie auf ihren Handys die neuesten Nachrichten verfolgten und sich in kleine Gruppen verteilten, kam es unter ihnen zu Spannungen. Dabei forderte Senator Sherrod Brown aus Ohio, ein Demokrat, Lindsey Graham auf, gefälligst den Mund zu halten.
Niemand sprach mit Senator Hawley, dem viele im Raum die Schuld gaben, den Aufstand angezettelt zu haben, weil er eine Woche zuvor seinen Widerstand gegen die Bestätigung des Wahlergebnisses angekündigt hatte.
Ein Foto von Hawley mit erhobener und geballter Faust vor dem Kapitol, als wolle er seine Solidarität mit den Trump-Anhängern bekunden, kursierte im Internet.4 Er wurde zum Gesicht von Trumps Blockadestrategie im Senat.
Nach einer Weile sahen die Senatoren, dass Senator Cruz zu Hawley hinüberging. »Wie werden Sie sich verhalten?«, fragte Cruz.
Fast ein Dutzend Republikaner im Senat hatten ursprünglich geplant, Einspruch gegen die Teilnahme der Wahlleute von Arizona an der Abstimmung zu erheben. Doch angesichts der anhaltenden Unruhen waren einige Senatoren der Grand Old Party, darunter die unterlegene Senatorin Kelly Loeffler aus Georgia, dazu bereit, dieses Theater nun zu beenden und Bidens Sieg zu bestätigen.5
McConnell äußerte gegenüber mehreren Senatoren, er wolle schneller vorankommen. Die Sitzung wieder aufnehmen und Arizona abhaken, um weitermachen zu können. Aber er wusste, dass ein schnelles Vorankommen unmöglich sein würde, wenn Hawley fortfahren würde, Einspruch gegen die Zählung von Pennsylvania zu erheben. Nach den Senatsregeln würde jeder Widerspruch eine weitere Debatte auslösen.
Hawley sagte wenig zu Cruz und zu Senator Roy Blunt, seinem republikanischen Parteikollegen aus Missouri, der sich ebenfalls an ihn wandte und ihn nach seiner aktuellen Haltung fragte.
Trotz des Blutvergießens im Kapitol und trotz des Drängens einiger seiner Kollegen, nicht länger im Weg zu stehen, entschied Hawley schließlich, dass er seinen Einspruch sowohl bei Arizona als auch bei Pennsylvania aufrechterhalten würde. Er würde auf einer Linie mit Trump bleiben.
Als sie von Hawleys Entschluss erfuhren, ächzten viele seiner republikanischen Kollegen. Was sie als politisches Spektakel für einen Präsidenten betrachteten, der seine Niederlage nicht akzeptieren konnte, sollte nun bis nach Mitternacht andauern. Andere Republikaner würden jedoch sicherlich auf Hawleys Seite stehen, da sie befürchteten, es sich ansonsten mit Trumps Wählerschaft zu verscherzen.
Während es langsam Abend wurde, twitterte Trump weiter, und zur gleichen Zeit bemühten sich die Polizei und die Soldaten darum, das Kapitol zu sichern. Gewalttätige Mitglieder extremistischer Milizen und weiße Rassisten, die später vom FBI identifiziert wurden, zerschlugen Glas und zerrissen Schilder beim Durchqueren der Flure. Büromaterial wurde auf dem Boden verstreut. Bunte Flaggen mit den Aufschriften »TRUMP« und »AMERICA FIRST« wurden neben den Büsten der Vizepräsidenten in der Nähe des Senats gehisst.
Truppen der Nationalgarde, die inzwischen eingetroffen war, patrouillierten auf dem Gelände und vertrieben Eindringlinge, während die Polizei Verhaftungen vornahm. Man hörte Schreie und trotzige Sprechchöre.
»Solche Sachen und Vorfälle passieren, wenn ein heiliger und erdrutschartiger Wahlsieg großen Patrioten, die seit Langem schlecht und unfair behandelt wurden, derart grob & bösartig entrissen wird«, twitterte Trump eine Minute nach 18 Uhr. »Kehrt zurück nach Hause in Liebe & Frieden. Dieser Tag soll nie vergessen werden!«6
Kurz nach 20 Uhr kehrte der Senat in seinen Plenarsaal zurück.
Senator Tim Scott aus South Carolina, der einzige schwarze Republikaner im Senat, wandte sich an Pence.
»In einem Moment wie diesem würde ich gerne beten«, sagte Scott.
»Nur zu«, sagte Pence. »Tun wir es.« Senator Steve Daines aus Montana, ein weiterer Republikaner, schloss sich ihnen an.
Als Arizona zur Abstimmung kam, lehnten 93 Senatoren die Einwände von Hawley und fünf Gleichgesinnten ab — neben Cruz die Senatoren Cindy Hyde-Smith aus Mississippi, Tommy Tuberville aus Alabama, Roger Marshall aus Kansas und John Kennedy aus Louisiana.
Loeffler stimmte nicht mit dieser Gruppe ab.
»Als ich heute Morgen in Washington ankam, hatte ich die feste Absicht, gegen die Bestätigung der Wahlleutestimmen Einspruch zu erheben«, sagte sie und blickte nach unten.7 »Was heute geschehen ist, hat mich jedoch gezwungen, meine Entscheidung zu überdenken, und ich kann jetzt nicht mehr mit gutem Gewissen der Auszählung widersprechen.«
Aber dann lehnte Hawley auch noch die Wahlleutestimmen Pennsylvanias ab, was stundenlange weitere Diskussionen nach sich zog. Senator Romney, der hinter dem 41-jährigen Hawley saß, schien seinen Kollegen mit seinen Blicken töten zu wollen, was der Aufmerksamkeit der Millionen von Zuschauern, die die Übertragung des Verfahrens verfolgten, nicht entging.
Als die Debatte fortgesetzt wurde, ergriffen zahlreiche Senatoren das Wort. Viele von ihnen sahen erschöpft und zerknittert aus.
In feierlichem, aber bestimmtem Ton rief Senator Mike Lee: »Wir müssen uns alle daran erinnern, dass wir einen Eid geschworen haben, dieses Schriftstück zu wahren, zu schützen und zu verteidigen«, und hielt dabei eine Kopie der Verfassung empor.8
»Der Vizepräsident der Vereinigten Staaten wird die Stimmzettel öffnen, und die Stimmen werden dann gezählt. Diese Worte begrenzen, definieren und beschränken jedes Quäntchen an Autorität, das wir bei diesem Vorgang besitzen. Unsere Aufgabe ist es, zu öffnen und dann zu zählen. Genau das. Mehr steht uns nicht zu. Ich habe sehr viel Zeit aufgewandt, um mit den örtlichen Regierungsvertretern in jenen Bundesstaaten in Kontakt zu treten, aber in keinem der umstrittenen Staaten — nein, nicht einmal in einem einzigen — habe ich Anzeichen dafür gefunden, dass ein Parlament oder ein Minister oder ein Gouverneur oder ein Vizegouverneur die Absicht hätte, die Liste der Wahlleute zu ändern. Unsere Aufgabe ist es, hier zusammenzukommen, die Stimmzettel zu öffnen und sie dann auszuzählen. Das ist alles.«
Lindsey Grahams Auftritt im Plenum war eine ungefiltert vorgebrachte Mischung aus persönlicher Betroffenheit und politischem Realismus.9
»Trump und ich hatten zusammen eine fantastische Zeit. Es tut mir leid, dass sie auf diese Weise endet. Um Himmels willen, ich bedauere es wirklich. Aus meiner Sicht war er ein konsequent handelnder Präsident, aber der heutige Tag wird als Erstes erwähnt werden in seinem Nachruf.« Der 6. Januar würde für immer mit Trumps Vermächtnis verbunden bleiben.
»Ich kann nur sagen: ›Ich bin raus‹«, erklärte Graham. »Was genug ist, ist genug. Es wurde behauptet, in Georgia hätten 66.000 Menschen unter 18 Jahren gewählt. Wie viele Leute glauben das? Ich bat darum, zehn Namen genannt zu bekommen, und erhielt einen einzigen. Es wurde behauptet, in Arizona hätten 8000 inhaftierte Straftäter gewählt. Auch hier habe ich zehn Namen verlangt; man konnte mir keinen einzigen nennen.«
»Wir müssen es zu Ende bringen«, sagte er.
»Mike, Mr. Vice President«, fügte er hinzu, »halten Sie einfach durch. Sie haben einen Sohn, der F-35-Kampfflugzeuge steuert. Sie haben einen Schwiegersohn, der mit F-18-Jets fliegt. Beide sind da draußen in der Luft, damit wir es hier richtig machen können. Was Joe Biden betrifft, so habe ich ihn auf vielen seiner Reisen um die ganze Welt begleitet. Ich habe gehofft, dass er verlieren würde. Ich habe sogar darum gebetet, dass er verliert. Aber er hat gewonnen.«
Wie zuvor bei Arizona wies der Senat den Einspruch gegen die Wahlleutestimmen Pennsylvanias zurück, diesmal mit 92 zu 7 Stimmen. Das Repräsentantenhaus hatte den Pennsylvania betreffenden Einspruch mit 282 zu 138 Stimmen abgelehnt.
Kurz nach 3:40 Uhr am frühen Donnerstag, dem 7. Januar, verkündete Pence, dass Biden als Sieger bestätigt worden war.10
Pence machte sich auf den Weg nach draußen zu seiner Wagenkolonne.11 Short schickte dem Vizepräsidenten eine Textnachricht: »2. Timotheus 4:7«.
Pence war diese Bibelstelle vertraut.
»Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten«, lauten die Worte in der deutschen Fassung der Lutherbibel.