Pelosi und Schumer riefen Pence am Morgen des 7. Januar gemeinsam an, um ihn eindringlich zu bitten, sich auf den 25. Verfassungszusatz zu berufen, der es »dem Vizepräsidenten und einer Mehrheit der wichtigsten Vertreter der Ministerien« gestattet, dem Kongress offiziell mitzuteilen, dass »der Präsident nicht in der Lage ist, die Rechte und Pflichten seines Amtes wahrzunehmen«.1 Ein solches Vorgehen würde es dem Vizepräsidenten ermöglichen, »unverzüglich die Rechte und Pflichten des Amtes als kommissarischer Präsident zu übernehmen«.
»Ich glaube nicht, dass er ans Telefon geht. Jemand sagt ihm nicht, dass es klingelt«, bemerkte Pelosi zu ihren Beratern. Seine wahrscheinlich mangelnde Bereitschaft zu einem Gespräch war für sie ein Zeichen seiner Schwäche.
Pence nahm ihren Anruf tatsächlich nicht entgegen. Aber Short rief stattdessen Schumers Stabschef Michael Lynch an, um sich nach dem Grund ihres Anrufs zu erkundigen. Short wollte Pence abschirmen von allen Initiativen, Trump seines Amtes zu entheben.
»Worum geht es? Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte Short Lynch, während die Führer der im Kongress vertretenen Demokraten in der Warteschleife blieben.
»Sie hielten uns 25 Minuten lang in der Leitung und sagten dann, der Vizepräsident würde nicht ans Telefon kommen«, berichtete Schumer später.
»Wenn der Vizepräsident den Anruf annimmt, dann gehen sie anschließend zu den Stäben«, bemerkte Short zu Kollegen, sich dabei auf die im Plenarsaal befindlichen Mikrofone beziehend, »und sagen, dass sie mit dem Vizepräsidenten über die Anwendung des 25. Verfassungszusatzes gesprochen haben, was den Vizepräsidenten in eine äußerst peinliche Lage bringen würde.«
Pence zog nie in Erwägung, zurückzutreten oder sich auf den 25. Verfassungszusatz zu berufen, um Trump aus dem Amt zu entfernen. Greg Jacob wies ihn darauf hin, dass die Anwendung dieses Zusatzartikels für den Fall gedacht sei, dass ein Präsident handlungsunfähig sei und dass die aktuelle Situation, so schlimm sie auch sei, dieses Kriterium nicht erfülle. Pence gab ihm recht.
Pence arbeitete den ganzen Tag von seiner Amtswohnung aus und begab sich nicht ins Weiße Haus. Er sprach nicht mit Trump, der von einigen Republikanern und sogar von der konservativen Redaktionsleitung des Wall Street Journal zum Rücktritt aufgefordert wurde.2
Trumps Verkehrsministerin Elaine Chao, die Frau von Mitch McConnell, trat zurück und erklärte, sie sei »zutiefst beunruhigt« über die Ereignisse vom 6. Januar.3 Barr sagte in einer öffentlichen Erklärung, Trump habe einen »Mob [orchestriert], um den Kongress unter Druck zu setzen«, und bezeichnete sein Verhalten als »Verrat an seinem Amt und seinen Anhängern«.
Später am Donnerstag rief Pence seinen Anwalt Richard Cullen an und dankte ihm für seine Ratschläge. Er sagte, er befinde sich gerade mit seiner Gattin in der Residenz des Vizepräsidenten.
»Wie ist es Ihnen ergangen?«, fragte Cullen.
Cullen konnte hören, wie Pence sich an seine Frau wandte. »Schatz, hatten wir Angst?« Er konnte ihre Antwort nicht hören.
»Ich bete für den Präsidenten«, sagte Pence.*1
Graham war klar, dass es für Trump sehr schwer sein würde, auf Rache zu verzichten. Im Interesse Trumps und aller anderen Beteiligten hoffte Graham, dass der Streit mit Pence den Präsidenten nicht weiter belasten würde.
Später, am Flughafen, wurde Graham von Trump-Anhängern angeschrien und verfolgt. »Verräter! Verräter!«, brüllten sie, während Graham durch das Terminal schritt und auf sein Telefon starrte.4
»Haben Sie einen Eid geschworen?«, rief ein Mann.
»Das habe ich«, sagte Graham.
»Nun, auf diesen Eid haben Sie geschissen.«
Der Sicherheitsdienst brachte ihn in einen Warteraum, wo er von Pence angerufen wurde, der ihm danken wollte für seine warmen Worte im Senat über den Sohn und Schwiegersohn des Vizepräsidenten.
Graham war der Überzeugung, dass die Art, wie Trump Pence behandelt hatte, zu den schlimmsten Dingen gehörte, die Trump je getan hatte. Graham glaubte, dass jeder vernünftige Demokrat nun verstanden hatte, dass Trump sich selbst viel Schaden zugefügt hatte und die beste Strategie darin bestand, in Deckung zu gehen, während Trump die Personen in seinem Umfeld zur Schnecke machte.
Graham sagte zu Trump: »Dadurch haben Sie Ihren Kritikern mehr recht als unrecht gegeben.« Später bemerkte er: »Ich glaube nicht, dass er sich bis heute über die Wirkung seiner Worte im Klaren ist.«
Ich habe gerade eine völlig unglaubliche, beunruhigende Erfahrung gemacht, sagte der Kongressabgeordnete Adam Smith am 8. Januar um 11:30 Uhr in einem Telefonat mit dem Generalstabschef Milley.
Smith, der Vorsitzende des für die Streitkräfte zuständigen Ausschusses des Repräsentantenhauses, war ein Abgeordneter aus dem Bundesstaat Washington mit 24 Jahren Kongresserfahrung. Er war ein gemäßigter Demokrat, kaum bekannt in der Öffentlichkeit, der keinen Wert darauf legte, in die Schlagzeilen zu kommen. Aber in Militär- und Pentagonkreisen war er hinter den Kulissen ein einflussreicher Abgeordneter.
Der 55-jährige Smith berichtete, am Tag nach den Unruhen im Kapitol sei er auf dem Alaska-Airlines-Flug, der um 17 Uhr vom Washingtoner Reagan National Airport nach Seattle startet, auf einem Gangplatz in Reihe 26 gesessen. Dort sei er umringt worden von etwa 100 Trump-Anhängern, die alle Mützen mit der Aufschrift »Make America great again« trugen.
Smith, der an Wochenenden oder während der Sitzungspausen des Kongresses regelmäßig diesen fast sechsstündigen Rückflug nach Hause antrat, hatte im vergangenen Jahr das Flugzeug aufgrund der Pandemie meist nahezu leer vorgefunden. Doch dieses Mal hatte er Glück, überhaupt einen Platz zu bekommen. Während die Menge allmählich lauter wurde, schien niemand zu bemerken, dass dieser Mann, der wie ein freundlicher Geschäftsreisender aussah, ein Parlamentarier war.
Das Flugzeug war voll mit hässlichem Gerede über angebliche Verschwörungen, um Trump die Wahl zu stehlen. Ebenso häufig wurde die QAnon-Gruppe erwähnt, von der die Passagiere überzeugt behaupteten, sie sei ein Bollwerk gegen eine Bande kannibalistischer, Trump feindlich gesinnter Pädophiler, allesamt Satansanbeter und internationale Vertreiber von Kinderpornografie.
Mehrere Passagiere erwähnten auch »6MWE«. Smith wusste nicht, wovon sie sprachen. Er war entsetzt, es zu erfahren, als er Passagieren zuhörte, die ungerührt erklärten, es bedeute »6 million weren’t enough« (»6 Millionen waren nicht genug«), was sich auf die in den Konzentrationslagern der Nazis umgebrachten Juden bezog.
Sie äußerten ihre tiefe Enttäuschung darüber, dass der Aufstand das Ergebnis der Präsidentschaftswahl nicht umgekehrt habe. Dies sei der Endkampf für eine neue Ordnung gewesen. Zustimmendes Kopfnicken.
Smith, der schweigend mit einer Mundschutzmaske dasaß, fühlte sich wie in der Umkleidekabine einer Mannschaft, die ein Spiel verloren hatte. Diese Leute waren so niedergeschlagen, dass sich Smith dabei paradoxerweise gut fühlte. Das Land ist zum Teufel gegangen, sagten sie, es ist schrecklich, ein furchtbarer Ort.
Amerika sei so schlecht drauf, in einer so verfahrenen Lage, behauptete ein junger Mann. »Deswegen werde ich nach Südkorea ziehen.«
Südkorea?, dachte Smith und war verwirrt. Warum ausgerechnet dorthin? Der junge Mann beantwortete Smiths unausgesprochene Frage, indem er zu den anderen Passagieren sagte: »Südkorea ist zu 90 Prozent christlich.« In Wirklichkeit gibt es in Südkorea nur 29 Prozent Christen.5
»Sie sollten nach Idaho ziehen«, schlug eine Frau vor.
»Ich glaube allerdings nicht, dass es in Idaho anständige Fischgerichte gibt«, erwiderte der junge Mann.
Smith hatte den Eindruck, dass dieser junge Mann eine faschistische Machtübernahme in den Vereinigten Staaten anstrebte, aber wenn er kein ordentliches Sushi bekommen konnte, lohnte sich das für ihn vielleicht doch nicht.
Die Menschen, die am Vortag im Kapitol randaliert hatten, mussten ja von irgendwoher kommen, aber er war überrascht, dass so viele von ihnen in seinen traditionell den Demokraten nahestehenden Bundesstaat zurückkehrten.
Smith, der gerade seine erste Impfdosis erhalten hatte, saß mit seinem Mund-Nasen-Schutz da und sagte kein Wort, während weiter heftige Sprüche geklopft wurden. Wenn ich mich jemals mit dem Coronavirus anstecken sollte, dann jetzt, dachte er.
Auf dem mittleren Sitz neben ihm saß eine zierliche Frau, etwa 50 Jahre alt und mit Trump-Utensilien geschmückt, die offensichtlich dieselben Bedenken hatte. Sie wischte eifrig die Umgebung ihres Sitzplatzes ab.
Da er Vorsitzender des Streitkräfteausschusses war, hatten sich seit dem 6. Januar mehrere Kongressmitglieder an ihn gewandt und ihre Besorgnis über die Sicherheit der streng geheimen Codes für den Abschuss von Atomwaffen zum Ausdruck gebracht. Trump hatte diese Codes. Gab es eine Möglichkeit, den Präsidenten in Zaum zu halten? Smith hatte diese Bedenken an die Parlamentssprecherin Pelosi weitergeleitet.
Ein Abgeordneter sagte, er sei besorgt, dass Trump kurz vor seinem Abschied die Air Force One stehlen, nach Moskau fliegen und US-Geheimnisse an Putin verkaufen könne. Eine weitere Befürchtung der Parlamentarier war, dass das Kapitol während Bidens Amtseinführung angegriffen werden könnte. Wie würden sie sicherstellen können, dass Trump die Ordnungskräfte nicht daran hindern würde, Biden zu schützen?
Während der Flug weiter das Land überquerte, hielt das rassistische und antisemitische Gerede unvermindert an. Es war eine Sache, den ganzen Tag von etwas zu lesen oder darüber zu sprechen, aber eine andere, stundenlang mittendrin zu sitzen. Es war eine äußerst unangenehme Erfahrung, so wie der Aufstand selbst. Smith war überzeugt, dass viele der Personen auf diesem Flug und im Kapitol eindeutig versucht hatten, den Wahlsieg eines rechtmäßig gewählten Präsidenten wieder rückgängig zu machen. Daran bestand für ihn kein Zweifel.
Aber Smith hatte auch den Eindruck, dass dieser Aufruhr auf Realitätsverweigerung beruhte. Es war, als würde jemand versuchen, über die Distanz von mehr als 80 Metern ein Feldtor im American Football zu erzielen. Ist solch ein unrealistischer Spielzug tatsächlich ein versuchter Torschuss? Man könnte es zweifellos so nennen, aber es hätte keine Aussicht, erfolgreich zu sein. Trump und seine Anhänger hatten keine Chance, das Ergebnis einer rechtmäßigen Wahl umzustoßen, aber das hieß nicht, dass sie es nicht versuchen konnten. Ave Maria.
Smith pflegte Donald Trump als eine selten eintretende Naturkatastrophe in der Geschichte der amerikanischen Demokratie zu betrachten. Aber er sagte seinen Kollegen, es gebe für den Kongress keine Möglichkeit, gesetzliche Vorkehrungen zu treffen, um das Land für den Fall zu schützen, dass ein Verrückter ins Weiße Haus einziehen sollte. Die Befugnis zur Kriegsführung war an den Präsidenten als Oberbefehlshaber abgetreten worden. Die einzige Macht, die der Kongress in praktischer Hinsicht hatte, war, den Geldhahn zuzudrehen. Er hielt das System zur Kontrolle des Einsatzes von Atomwaffen für verwundbar.
»Das Hauptaugenmerk muss darauf liegen, dass wir nicht wieder einen Irren ins Weiße Haus lassen«, sagte Smith. »Unsere zweihundertjährige Geschichte lehrt uns, dass der Präsident der Vereinigten Staaten das Militär so einsetzt, wie er es will.«
»Trump ist psychisch instabil«, stellte er fest. »Er ist ein narzisstischer Psychopath. Man musste befürchten, dass er das Pentagon und das Verteidigungsministerium dazu benutzen würde, einen Staatsstreich durchzuführen.«
Diese ebenso bestürzende wie düstere Einschätzung machte am 8. Januar im Kongress die Runde. Einen Tag zuvor hatte Trump ein Video veröffentlicht, in dem er erklärte, dass »am 20. Januar eine neue Regierung ihre Arbeit aufnehmen wird« und dass er eine »reibungslose, geordnete und nahtlose Amtsübergabe« wünsche. Aber das Video wirkte wortkarg, ausdruckslos und unüberzeugt. Es konnte nur wenige Abgeordnete beruhigen.
»Meine Sorge bei Trump war immer, dass er eine faschistische Machtübernahme des Landes in die Wege leiten würde«, sagte Smith. »Ich habe nie wirklich befürchtet, dass er einen Krieg beginnen würde. Er ist ein Feigling. Ein derartiges Maß an Verantwortung will er nicht übernehmen.«