Achtundfünfzig

Senatorin Collins saß am nächsten Tag, einem Montagmorgen, in ihrem Büro, als einer ihrer Mitarbeiter hereinkam und berichtete, Mehrheitsführer Schumer habe im Senat angekündigt, er werde ein Reconciliation-Verfahren beantragen. Das war ein verfahrensrechtlicher Schritt, aber er zeigte, welche Absichten die Demokraten verfolgten.

»Ich fasse es nicht«, war Collins’ Reaktion. Seit dem Treffen im Weißen Haus mit Biden, das sie so überschwänglich beschrieben hatte, waren noch keine 24 Stunden vergangen. Sie hatte erwartet, dass das Weiße Haus mit einem neuen Vorschlag auf sie zukäme. »Das bedeutet, dass sie kein Gegenangebot machen werden, und wir haben eines erwartet.«

Für Collins war dies der Beweis, dass Biden sich deutlich nach links bewegt hatte. Sie sah sich gern fast perfekt in der politischen Mitte. »Ich glaube, ich bin in der Mitte der Mitte«, sagte sie. Sie war die einzige republikanische Senatorin mit Mandat in einem Staat, den Biden gewonnen hatte.

Collins war überzeugt, dass Schumer bei seinem Schritt in Richtung Reconciliation Bidens Segen hatte. Sie glaubte, dass Bidens Stab, vor allem Klain, und Schumer den Präsidenten dazu gedrängt hatten.

Sie glaubte außerdem, dass Schumer versuchen könnte, damit beim liberalen Teil der Partei Boden gutzumachen, weil er im Jahr 2024 bei einer parteiinternen Wahl wahrscheinlich gegen einen Star der Parteilinken, die Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, antreten musste, die inzwischen so berühmt war, dass man sie nur noch AOC nannte, ein führendes Mitglied der sogenannten »Squad« im Repräsentantenhaus.

Die Parteilinke hatte Schumer seit Tagen bedrängt. Senatorin Elizabeth Warren war auf ihn zugekommen, nachdem sie von dem Angebot der Republikaner erfahren hatte. »Nehmen Sie es nicht an«, beschwor sie ihn.

Am 2. Februar hatte Schumer im Senat erklärt, die Demokraten seien zur Zusammenarbeit mit den Republikanern bereit, aber sie würden es auch allein machen, wenn die Republikaner Bidens Plan blockierten.1

»Wir wünschen uns bei diesem ganzen Bestreben überparteiliche Zusammenarbeit. Wir wünschen uns das wirklich«, sagte Schumer. »Aber dem amerikanischen Volk die große und mutige Hilfe zukommen zu lassen, die es braucht, steht für uns an erster Stelle. Das ist das Wichtigste. Also noch einmal: Wir werden nichts verwässern, nicht zaudern und nichts verzögern.«

Das Weiße Haus schickte verschiedene Dokumente und Unterlagen an Collins, um einige Zahlen zu begründen. Sie hatte den Eindruck, dass eines der Dokumente von der American Federation of Teachers, der Lehrergewerkschaft, zusammengestellt worden war. Nur so ließ sich der Betrag von 170 Milliarden Dollar erklären, mit dem Biden die Schulen unterstützen wollte.

Schumer bestätigte Collins’ Verdacht später an jenem Tag, als er zu Reportern sagte: »Joe Biden ist sehr für ein Reconciliation-Verfahren. Ich habe jeden Tag mit ihm gesprochen. Unsere Mitarbeiter haben mehrmals am Tag miteinander geredet.«

Collins und Schumer sprachen nicht miteinander. Sie hatte es verabscheut, wie die Demokraten sie vor ihrer Wiederwahl 2020 angegriffen hatten. Die Demokraten hatten 180 Millionen Dollar in den Wahlkampf gepumpt, den sie am Ende mit neun Prozentpunkten gewonnen hatte.2 Sie fand die Wahlwerbung der Demokraten unnötig persönlich und schmutzig, sie war damals als Betrügerin bezeichnet worden, die von Trump und McConnell gesteuert war.

Die Katholikin Collins hatte gegenüber Freunden später gewitzelt: »Zur Fastenzeit habe ich auf meine Wut auf Chuck Schumer verzichtet. Ich musste mich zwischen der Wut und Wein entscheiden und habe beschlossen, dass mir ein Glas Wein am Abend lieber ist.«

Beim Mittagessen der Senats-GOP später am Tag sprach sie McConnell an. Diese Mittagessen waren in aller Regel eine geschlossene Gesellschaft, bei der jede Woche ein anderer Senator das Essen wählte, meist etwas aus dem jeweiligen Heimatstaat. Wenn ein Südstaaten-Senator für das Essen zuständig war, konnten Besucher im Kapitol und die Reporter auf den Gängen gegrillte Rinderbrust und Maisbrot riechen.

Collins erzählte McConnell, dass das Treffen mit Biden am Tag zuvor gut verlaufen sei, Schumers Ankündigung eines Reconciliation-Verfahrens sie aber völlig überrascht habe. Sie sei überrumpelt gewesen. Das sei so hinterlistig gewesen. Zehn Republikaner dazu zu kriegen, dass sie sich auf 618 Milliarden Dollar einigten und öffentlich zu einer Ausgabe in dieser Höhe standen, sei nicht einfach gewesen. Ob das dem Weißen Haus nicht klar sei?

McConnell war nicht überrascht. Er hatte nicht erwartet, dass Biden und Schumer so schnell handeln würden, dass sie so schnell die Reconciliation-Karte ausspielen würden. Aber er hatte damit gerechnet, dass sie es am Ende tun würden.

»Joe Biden hat eine tadellose Persönlichkeit«, sagte McConnell wenige Minuten später zu einer größeren Gruppe Republikaner bei dem Mittagessen. »Aber man darf nicht glauben, dass er zur politischen Mitte gehört.«

Das wurde zum Motto bei den Republikanern. Biden sei ein netter Typ, mit vielen befreundet, aber kein Gemäßigter — und sein Stab lenkte ihn noch weiter nach links.

Als das Reconciliation-Verfahren anlief, äußerte McConnell gegenüber anderen Senatoren und seinen Mitarbeitern, er glaube nicht, dass Biden in der Sache nachgeben würde. Er wollte Geschichte schreiben.

»Er hat eine Vision, wie Amerika aussehen soll, und ich habe auch eine, aber eine andere«, sagte McConnell. »Der Grund, warum wir dieses Jahr noch nicht miteinander gesprochen haben, ist, dass er tut, was jeder demokratische Präsident machen will: das Land so weit wie möglich nach links pushen, so schnell wie möglich.«

»Sie alle wollen der nächste Roosevelt sein«, sagte er und bezog sich damit auf eine lange Reihe von demokratischen Präsidenten. »Sie wissen alle, dass sie keine drei Amtszeiten haben können, aber hoffen auf ein Denkmal.«

Zu anderen sagte er: »Wer es in der Politik so weit gebracht hat, denkt als Erstes: ›Mein Gott, ich kann nicht glauben, dass ich Präsident der Vereinigten Staaten geworden bin.‹ Und als Zweites: ›Ich möchte ein großer Präsident der Vereinigten Staaten werden.‹«

Am Ende des Mittagessens am 2. Februar drehte Collins ihre Runde durch den Raum und gab den Republikanern ihren persönlichen Bericht ab: Ihr alter Freund schien zu Verhandlungen bereit zu sein, aber die Leute in seinem Umfeld waren es nicht.

Collins erzählte von Klains Kopfschütteln und schüttelte dabei selbst den Kopf über den Stabschef. Sie fand einen sichtbaren und negativen Kopfschüttel-Kommentar, während der Präsident mit der politischen Opposition sprach, für einen Stabschef unpassend. Sie empfand es als Beleidigung für die Republikaner und Biden selbst. Es war plump und unhöflich.

Im Rahmen seines weiteren Vorgehens rief Biden McConnell an, vorgeblich wegen Myanmar. Der Fraktionssprecher der Republikaner im Senat hatte die demokratischen Bemühungen in dem vormals Burma genannten Land seit Langem unterstützt. Es war eines der wenigen politischen Felder, wo sie sich tatsächlich einig waren.

Biden bat McConnell um strategische Empfehlungen und Rat und wechselte dann kurz das Thema zum 1,9-Billionen-Dollar-Rettungsplan. Was hielt er davon?

McConnell hielt es für unwahrscheinlich, dass der Präsident für ein derart großes Ausgabenpaket republikanische Unterstützung im Senat bekommen würde. Etwas in diesem Umfang konnten sie keinesfalls unterstützen.

Aus seiner Sicht drückte McConnell damit nur das Offensichtliche aus. Er war nicht unhöflich. Es war nur eine kurze Einschätzung. Er wiederholte nur eine öffentliche Äußerung.

McConnells einflussreiche Stabschefin Sharon Soderstrom, die zugeschaltet war, hatte sich bei persönlichen Gesprächen Anfang Februar gegenüber hohen Biden-Mitarbeitern ähnlich geäußert. Sie nannte ihnen keine genaue Stimmenzahl, sagte ihnen aber, dass die republikanischen Senatoren einem erweiterten Arbeitslosengeld misstrauisch gegenüberstünden, weil das schlecht für Geschäfte sei, die wieder öffnen wollten. Zu viele Menschen bekamen dadurch mehr Geld, wenn sie nicht arbeiteten und zu Hause blieben, als durch Arbeit.

Klain bemerkte, dass Biden über keine besonderen Überredungsfähigkeiten bei McConnell verfügte, keine magischen Kräfte eines »McConnell-Flüsterers«, als den manche Biden während der Obama-Jahre bezeichnet hatten. Aber er wusste, wie man mit McConnell umgehen musste.

»Zum Beispiel wird man Mitch McConnell niemals davon überzeugen, dass er bei der Erbschaftsteuer falschliegt«, erklärte Klain einmal. »Dass er an der Kennedy School nicht die richtigen Kurse belegt hat, um den regressiven Steuertarif zu verstehen. Das versucht Joe Biden gar nicht. Er sagt eher: ›Okay, sagen Sie mir, was Sie brauchen, damit das funktioniert. Und ich sage Ihnen, was ich brauche.‹«

Im Weißen Haus war man zunehmend der Ansicht, dass McConnell und die Republikaner im Senat aus einem bestimmten Grund blockierten und auf ihrer Position beharrten: Sie bezweifelten, dass Biden den Antrag durchbringen und alle 50 Demokraten auf seiner Seite halten konnte.

Mit ihren Handlungen schienen sie zu sagen: Soll er es doch versuchen, und dann werden wir sehen, ob er Manchin und die Parteilinken mit ihren so unterschiedlichen Ideologien für die Abstimmung zusammenhalten kann. Und wenn er es nicht kann, wird Biden vielleicht zu uns zurückkriechen müssen und einen kleineren Deal aushandeln, um so die Bilanz seiner ersten 100 Tage zu retten.

»Er hat seine Truppen dagegen aufgestellt«, urteilte Klain im Weißen Haus. »Vielleicht bekommen wir eine republikanische Stimme, vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Aber das Grundproblem, das die Republikaner haben, ist, dass das Vorhaben populär ist« bei der Bevölkerung, auch bei republikanischen Wählern.

Im Westflügel warb Klain für das, was er als seine »Theorie von der kleinen roten Henne« zu Bidens Rettungsplan nannte — und zu den Wahlen 2022. Er legte eine Namensliste an.

»Wenn wir das Ding durchbekommen, Covid besiegen und die Wirtschaft wieder in Gang bringen, dann bekommen diejenigen, die geholfen haben, die Weizenkörner aufzupicken und das Brot zu backen, einen Anteil an den Lorbeeren«, sagte Klain. »Wer nicht geholfen hat, bekommt nichts.«

»Wir beteiligen uns erst, wenn das Ding durchfällt«, sagte McConnell zu seinen Mitarbeitern. Vielleicht schaffte es Biden, sein Notfallpaket durchzubekommen, aber irgendwann, jetzt oder später, würde er die Republikaner am Verhandlungstisch brauchen. Das war sein Hebelpunkt.

»Dann erst werden wir miteinander verhandeln«, erklärte McConnell seine Strategie. »Ich nehme es ihm nicht übel, dass er jetzt nicht mit mir verhandelt, weil mir nichts von dem gefällt, was er macht.«

McConnell glaubte, die Wirtschaft käme wieder in Schwung, die Impfstoffe wurden ausgeliefert. Die Republikaner würden im Senat abwarten und so für die Wähler, die sie im Jahr 2022 für sich gewinnen würden, nicht wie Pfennigfuchser aussehen. Es war nicht wie im März 2020, als die Pandemie begann, oder der beängstigende Schlingerkurs in die Finanzkrise Ende 2008.