Sechzig

Am Mittwoch, dem 3. Februar, rief Biden sein Team für Nationale Sicherheit für eine umfassende Revision des 20 Jahre dauernden Krieges in Afghanistan zusammen.

Biden plante einen großen Schritt: Er wollte den endlosen Krieg beenden. Damit würde er der amerikanischen Außenpolitik seinen Stempel aufdrücken. Er hatte sich schon als Obamas Vizepräsident stark gegen eine umfangreiche Truppenstationierung in Afghanistan ausgesprochen. Aber damals hatte nicht er die Entscheidungen getroffen. Jetzt schon.

Er kannte die Männer und Frauen aus seinem Team für Außenpolitik, die nun vor ihm saßen, die meisten von ihnen sehr gut. Viele waren Veteranen der Obama-Administration. Die Gruppe verachtete Trump weitgehend für seine Außenpolitik, lehnte sie als zusammenhanglos, amateurhaft und unnötig isolationistisch ab. Sie waren entschlossen, die traditionellen Abläufe und Systeme der Außenpolitik der Obama-Jahre wiederzubeleben und wieder in Kraft zu setzen, die sie noch persönlich mitgestaltet hatten.

»Ich sage Ihnen ganz direkt, wo ich stehe«, kündigte Biden an. Er erinnerte sie daran, dass er einer Fortsetzung dieses Krieges, der nach den Terrorangriffen auf die USA am 11. September 2001 begonnen hatte, schon lange skeptisch, wenn nicht gar zynisch, gegenüberstand.

»Aber ich werde Ihnen zuhören«, versprach er. Er habe den Nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan gebeten, ihnen einen umfassenden Überblick zu geben und den ehrlichen Vermittler zu spielen, der jeden Stein umdrehte und sicherstellte, dass jedes Argument von jedem gehört wurde. Eine vollständige und faire Debatte könne vielleicht verhindern, dass während des Vorgangs etwas nach außen drang, weil jeder seine Argumente gegenüber Biden vorbringen konnte und daher nicht an die Öffentlichkeit gehen musste, um sich Gehör zu verschaffen.

Biden fügte hinzu: »Ich will unbedingt Gegenargumente hören und werde aufgeschlossen bleiben, weil ich auf jeden Fall zuhören und berücksichtigen werde, falls es einen überzeugenden Grund gibt, dort zu bleiben.«

Trump hatte einen vollständigen Abzug aller US-amerikanischen Truppen für den 1. Mai 2021 angekündigt, aber Biden wollte seine eigene Entscheidung nach seinem eigenen Zeitplan treffen.1

Langjährige Biden-Berater wie der Außenminister Blinken und Bidens Stabschef Klain wussten, dass Biden alle Truppen nach Hause bringen wollte. Er hatte sie seit 2009 abziehen wollen, seit er glaubte, das Militär und später Außenministerin Hillary Clinton hätten Obama in seinem ersten Jahr bedrängt und bestürmt. Sie hatten darauf bestanden, dass Obama weitere Zehntausende US-Truppen nach Afghanistan entsandte. Ihr Widerstand gegen jede andere Option war, oft öffentlich, so stark gewesen, dass Obama, der nur wenig Erfahrung mit Außenpolitik und dem Militär gehabt hatte, kaum eine andere Wahl geblieben war.

Der Verteidigungsminister unter Präsident George W. Bush, Robert Gates, den Obama damals überraschend gebeten hatte, das Amt weiterhin zu übernehmen, hatte angedeutet, dass er zurücktreten werde, falls Obama keine weiteren Truppen genehmigte. Obama hatte damals geglaubt, er könne es sich nicht leisten, eine derart etablierte Persönlichkeit der nationalen Sicherheit zu verlieren.

Blinken hatte Biden im persönlichen Gespräch im Jahr 2009 sogar sagen hören, dass die Vereinigten Staaten einen brutalen Bürgerkrieg in Kauf nehmen müssten, falls die US-Truppen abzogen. »Wie schlimm kann es schon werden?«, hatte Biden gefragt. Als man ihn mit der Frage bedrängte, ob zwischen den ethnischen Gruppen der Paschtunen, die fast die Hälfte der afghanischen Bevölkerung ausmachen, ein Bürgerkrieg ausbrechen würde, war Biden fast von seinem Stuhl aufgesprungen.

»Bingo, bingo, bingo, bingo!«, hatte er zuversichtlich gerufen, grimmig einen seiner Lieblingsausdrücke wiederholend.

Biden hatte Obama damals seine Meinung kundgetan, auch dass er darüber enttäuscht war, wie das Militär den Präsidenten in seinen Augen manipuliert hatte. Anderen gegenüber hatte Biden 2009 anvertraut: »Mich kann das Militär nicht so herumschubsen«, und ließ damit mehr als durchscheinen, dass genau das mit Obama geschehen sei.

Jetzt, bei der Revision im Jahr 2021, vermutete der Verteidigungsminister Lloyd Austin, der Biden noch aus den Obama-Jahren kannte, gegenüber seinen Mitarbeitern, Biden meine es ernst und daher werde die US-amerikanische Beteiligung an dem Krieg sehr wahrscheinlich enden. Doch seiner Meinung nach sprachen gute militärische, nachrichtendienstliche und strategische Argumente dafür, wenigstens eine kleine Militärpräsenz im Land zu belassen.

Austin war der erste schwarze US-Verteidigungsminister, 1975 Absolvent der Militärakademie West Point aus Georgia, und hatte 40 Jahre lang beim Militär gedient. Im Jahr 2009, während Obamas ursprünglicher Revision des Afghanistan-Einsatzes, war er Direktor des Joint Chiefs of Staff gewesen, ein wichtiger Drei-Sterne-Posten, und war damals mit Bidens Einstellung vertraut geworden. In den folgenden Jahren hatten die beiden Männer noch mehr miteinander zu tun. Austin war 2010 als kommandierender General der US-Streitkräfte in den Irak entsandt worden, als Obama Biden mit der Aufsicht über den Abzug der meisten US-Truppen betraut hatte. Major Beau Biden war Jurist in Austins Stab, und Major und General lernten sich gut kennen.

Biden und Austin waren mit der Geschichte des Afghanistankriegs so sehr verbunden, wie man es nur sein konnte.

Das war der Anfang einer außerordentlichen Reihe von 25 NSC-Treffen, in großer und kleiner Zusammensetzung, Einzelgesprächen mit Biden und Treffen mit seinen Topberatern und Kabinettsmitgliedern. Daneben fanden noch Meetings von NSC-Mitgliedern und Stellvertretern ohne Biden statt. Es war eine der umfangreichsten politischen Revisionen, die je durchgeführt wurden.

Der Präsident war gelegentlich emotional und kampfeslustig und schien größere Sicherheit und klarere Lösungen zu wollen, als zu haben waren. Biden konnte empfindlich und ungeduldig sein. Ein Topberater empfand die Arbeit mit ihm als fast untragbar, als Biden immer mehr Details und nachrichtendienstliche Einschätzungen verlangte.

Andere sahen in der Revision ein Musterbeispiel dafür, wie außenpolitische Entscheidungen getroffen werden sollten.

Bidens Hauptargument, auf dem die Debatte basierte, war, dass die Mission von ihrer ursprünglichen Zielsetzung abgewichen war.

Präsident George W. Bush hatte den Krieg im Oktober 2001 begonnen, um die Terrororganisation al-Qaida auszumerzen, die für die Angriffe auf das World Trade Center in New York City und das Pentagon am 11. September verantwortlich war.

Die Zielsetzung bestand darin, weitere Angriffe zu verhindern. Aber der Krieg hatte sich zu einer staatsbildenden Unternehmung ausgeweitet, um die religiös extremen Taliban zu besiegen, die al-Qaida eine Zuflucht gewährt hatten, von der aus sie ihre Angriffe planen und vorbereiten konnten. Die Taliban hatten Afghanistan vor dem 11. September 2001 fünf Jahre lang mit harter Hand regiert. Das Regime hatte islamisches Recht durchgesetzt, Frauen unterdrückt und Kulturstätten zerstört, darunter Buddha-Statuen aus dem 6. Jahrhundert, die sie als verbotene religiöse Götzenbilder betrachteten.

Eine ursprünglich zur Aufstandsbekämpfung initiierte Aktion namens COIN umfasste am Ende nicht nur die Bekämpfung der Taliban, sondern auch den Schutz der afghanischen Bevölkerung und Regierung. An einem Punkt planten manche leitende US-Militärs, an jeder Straßenecke in der Hauptstadt Kabul Soldaten aufzustellen. Auf dem Höhepunkt des Krieges vor zehn Jahren hatten die Vereinigten Staaten 98.000 Truppen in Afghanistan. Bis 2021 sank diese Zahl auf 3500, einschließlich regulärer und Sondereinsatztruppen.

Diese ganze Revision Bidens stand unter der Fragestellung: Worin besteht die Mission?

Biden empfand besonderen Abscheu gegenüber Missionen zur Aufstandsbekämpfung, weil er darin ein klassisches Beispiel für eine schleichende Ausweitung des Einsatzes sah.

»Unsere Mission in Afghanistan besteht darin zu verhindern, dass Afghanistan weiterhin als Basis für Angriffe auf unser Land und US-Alliierte durch al-Qaida und andere terroristische Gruppen dient, nicht darin, den Taliban den Todesstoß zu versetzen«, erinnerte Biden alle Anwesenden an die ursprüngliche Zielsetzung des Krieges.

Für ihn war aus dem Krieg ein Kampf zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban geworden. Das US-Militär sollte sich nicht an einem Bürgerkrieg in einem anderen Land beteiligen und stattdessen die Truppen nach Hause bringen, sagte Biden gegenüber Beratern.

Als vorbereitenden Schritt in der von Sullivan geleiteten Revision wollte Biden ein paar wenige Fragen beantwortet haben, die deutlich zeigten, in welche Richtung er neigte. Wenn auch nur eine dieser Fragen nicht mit Ja beantwortet werden konnte, mussten sie sich der Realität stellen, dass die Zielsetzung der US-Truppen nicht erreichbar war.

»Erstens: Glauben wir, dass unsere Anwesenheit in Afghanistan die Wahrscheinlichkeit für eine dauerhafte, verhandlungsbasierte politische Übereinkunft zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban grundlegend erhöht?«

»Zweitens: Glauben wir, dass die Bedrohung durch al-Qaida und ISIS aus Afghanistan die Stationierung von Tausenden Bodentruppen dort auf unbegrenzte Zeit erfordert?«

»Drittens: Welches Risiko bedeutet es für die militärischen Kräfte und die Mission, wenn wir den Abzugstermin am 1. Mai aufheben und sagen, dass wir unbefristet bleiben? Und muss ich dann wieder mehr Truppen nach Afghanistan schicken?«

Im Gegenzug für den mit der Trump-Administration ausgehandelten Abzugstermin am 1. Mai hatten die Taliban sich bereit erklärt, keine US-Truppen mehr anzugreifen. Seit einem Jahr hatte es keine Angriffe mehr gegeben. Aber geheimdienstliche Erkenntnisse wiesen darauf hin, dass es auf jeden Fall neue Angriffe geben würde, falls Biden beschloss, die US-Truppen auf unbestimmte Zeit im Land zu belassen.

Er sagte auch, er wolle eine gründliche Untersuchung der humanitären Konsequenzen für die afghanische Zivilbevölkerung für den Fall, dass die US-Streitkräfte sich zurückziehen.

Im persönlichen Gespräch sagte Sullivan: »Wenn man als Präsident der Vereinigten Staaten eine solche Entscheidung treffen muss, dann muss man sich der Tatsache stellen, dass diese Entscheidung Menschenleben kosten kann und wird.«

Obama berichtet in seinen Memoiren Ein verheißenes Land aus dem Jahr 2020 von einem Ratschlag, den Biden ihm bei der ersten Überprüfung der Afghanistan-Politik im ersten Jahr von Obamas Präsidentschaft erteilt hatte: »Hören Sie mir zu, Boss. Vielleicht bin ich schon zu lange in dieser Stadt, aber eines erkenne ich, nämlich wenn diese Generäle versuchen, einen neuen Präsidenten an die Leine zu nehmen.« Bidens Gesicht war nur wenige Zentimeter von Obamas entfernt, als er gut hörbar flüsterte: »Lassen Sie sich von denen nicht blockieren.«2

Jetzt wollte sich Biden auf keinen Fall blockieren lassen.

Im Verlauf von zwei Monaten voller Meetings und vertraulicher Gespräche im Rahmen der Sullivan-Revision legte das Pentagon schließlich zwei Hauptoptionen vor. Minister Austin sagte, Biden könne entweder so schnell und sicher wie möglich einen geordneten Abzug aller Truppen durchführen, oder er könnte der Stationierung von US-Truppen in Afghanistan auf unbestimmte Zeit zustimmen.

US-Truppen lieferten entscheidende Beiträge zur Koordinierung von Überwachungen und nachrichtendienstlichen Tätigkeiten, die die afghanische Regierung von Ashraf Ghani stabilisierten, einem Akademiker, der seit sechs Jahren Präsident von Afghanistan war. Laut Austin lieferten die US-Truppen außerdem eine Einschätzung der Lage, die man nur vor Ort bekam. Die Anwesenheit dort, auf dem Boden, konnte bei der Früherkennung von Problemen entscheidend sein.

Während des Sullivan-Verfahrens bemerkte Biden: »Wenn das Ziel darin besteht, die Ghani-Regierung zu halten, würde ich meinen eigenen Sohn nicht hinschicken.«

Das war ein heikles Thema. Der Präsident erwähnte seinen verstorbenen Sohn Beau mehrfach, wenn es um die Einschätzung ging, ob die Mission notwendig und lohnenswert war.

Biden war der erste US-Präsident seit Jahrzehnten, der ein Kind bei den Truppen in einem Kriegsgebiet gehabt hatte, und Beaus Erfahrungen schien Biden empfindlicher für Opfer und Risiken gemacht zu haben.3

Wenn die USA in Afghanistan blieben, prognostizierten die Nachrichtendienste, würden die Taliban ihre Angriffe wieder aufnehmen.4 Wenn das geschah, so Biden, würde er wahrscheinlich aufgefordert werden, noch mehr Truppen zu schicken. »Wenn wir 3000 Truppen dort haben und sie angegriffen werden, dann werden Sie« — er zeigte auf Austin und Milley — »zu mir kommen und sagen, okay, wir brauchen 5000 weitere Truppen.«

Diesen Teufelskreis wollte er vermeiden. Eine Truppenpräsenz würde zum Magneten für weitere Truppen werden, weil militärische Befehlshaber ihre eigenen Soldaten natürlich beschützen wollten. Und die Lösung dafür war, kaum überraschend, weitere Truppen zu schicken.

Sullivan kam zu dem Schluss, dass die Frage nicht war, ob man blieb oder abzog, sondern, ob man weitere Truppen schickte oder abzog.

Das lieferte ein schwerwiegendes Argument für einen Abzug, weil Biden ganz offensichtlich keine weiteren Truppen entsenden würde. Das war keine Option.