Achtundsechzig

Biden entsandte zum Außenministertreffen der NATO am 23. und 24. März in Brüssel seinen Außenminister Blinken und Verteidigungsminister Austin. Die 36 NATO-Mitglieder hatten noch fast 10.000 Truppen in Afghanistan stationiert. Die USA stellten mit 3500 das größte Kontingent. In den vergangenen 20 Jahren hatten die Verbündeten alle ein beständiges Engagement in Afghanistan gezeigt.

Aufmerksam zuhören und sich beraten, lautete Bidens Leitsatz. Solide, funktionsfähige Allianzen waren ein wesentlicher Bestandteil seiner Weltsicht.

Für Biden hatte einer von Trumps schlimmsten Fehlern darin bestanden, dass er die NATO herabgesetzt und sich vor allem auf die finanziellen Beiträge der Mitgliedstaaten konzentriert hatte.

Bei einer Besprechung hinter verschlossener Tür machte sich Blinken drei Stunden lang Notizen.

»Folgendes habe ich gehört, Mr. President«, sagte er Biden noch am selben Abend bei einem abhörsicheren Telefonat aus Brüssel. Der Inhalt seines Berichts war nicht völlig überraschend, gab jedoch zu denken. Blinken sagte, er habe einen »quadrophonischen« Sturm der Empörung zu hören bekommen, er war also von allen Seiten gewaltig angegangen worden. Blinken war Musiker und hatte eine eigene Band namens Coalition of the Willing, in der er E-Gitarre spielte.

Den anderen Außenministern wäre es am liebsten, berichtete er Biden weiter, wenn die USA den Abzug ihrer Truppen als Druckmittel einsetzen würden, um die Taliban zu konkreten Zugeständnissen in Hinblick auf eine politische Einigung zu bewegen. Im Idealfall sollten die grundlegenden Züge eines zukünftigen afghanischen Staates ausgehandelt werden, eine Verfassung und Reformen. Die Minister hatten sehr ambitionierte Hoffnungen und sprachen von Wahlen, Menschenrechten und den Rechten von Frauen und Mädchen.

Biden und Blinken steckten in einer Zwickmühle.

Zurück in Washington beriet sich Blinken mit den Mitgliedern seines Stabs und Experten aus dem Außenministerium. Anschließend änderte er seine Empfehlung. Zuvor hatte er sich wie Biden für einen kompletten Abzug ausgesprochen. Seine neue Empfehlung sah nun vor, die US-Truppen noch eine Weile im Land zu lassen, in der Hoffnung auf eine politische Einigung. Um Zeit für Verhandlungen zu gewinnen.

Auch Verteidigungsminister Austin machte einen neuen Vorschlag, eine Variation desselben Themas. Er schlug einen Mittelweg vor. Anstelle von »Alles oder nichts« könnte man doch auch einen langsamen, »gesteuerten« Rückzug in drei oder vier Phasen vornehmen, um ein Druckmittel bei diplomatischen Verhandlungen zu haben. Die »gesteuerten« Rückzugsphasen würden außerdem Zeit und Raum für einen politischen Prozess bieten und könnten als Absicherung dienen, wenn die diplomatischen Gespräche scheiterten.

Im Verlauf der internen Debatte über das weitere Vorgehen in Afghanistan stellten Biden und Jake Sullivan allen Beteiligten eine grundlegende Frage: Wie sähe das Best-Case-Szenario im Falle eines Abzugs der US-Truppen aus?

Mitarbeiter der zivilen und militärischen Nachrichtendienste nannten ein mögliches ausgehandeltes Abkommen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban ohne großflächige anhaltende Kämpfe. Bevölkerungszentren wie Kabul und Herat sollten relativ friedlich bleiben und von der Stabilität profitieren, die im Verlauf der vergangenen 20 Jahre erreicht worden war. In den anderen Teilen des Landes würde die Kontrolle der Zentralregierung — wenn überhaupt — deutlich geringer ausfallen. Das wäre der beste Fall, doch niemand deutete an, dass er auch der wahrscheinlichste war.

Biden und Sullivan fragten die Anwesenden auch, wie Russland und China nach einem Abzug der US-Truppen agieren würden.

Beiden Mächten wäre es generell lieber, wenn die US-Truppen in Afghanistan bleiben würden, berichteten die Geheimdienstmitarbeiter. China und Russland profitierten von der relativen Stabilität in der Region, ohne viel Geld oder Arbeit zu investieren.

Dann kamen die Worst-Case-Szenarien. Austin, Milley und die Geheimdienstmitarbeiter präsentierten eine lange Liste mit den Nachteilen eines Abzugs. Ihre Prognose war düster:

Biden fragte, wie früh man gewarnt werde, wenn die Terrororganisation wieder ihre alte Kapazität erreicht habe. Sechs Monate vorher, erklärten die Geheimdienstler.

»Wir können uns eindeutig nicht darauf verlassen, dass wir volle sechs Monate hätten«, antwortete Biden. »Ich möchte, dass Sie Over-the-Horizon-Kapazitäten aufbauen«, womit er Kapazitäten für eine Überwachung und auch Angriffe aus benachbarten Ländern meinte, »die es uns erlauben, ein Wiedererstarken von al-Qaida zu unterdrücken und auch andere Anschläge von außen zu unterbinden.«

Austin erinnerte alle daran, dass den zivilen und militärischen Nachrichtendiensten bei einer »Over-the-Horizon«-Taktik die kritische situative Analyse vor Ort fehle, die für die Schlagkraft der USA von zentraler Bedeutung sei.

Die Präsentation des Worst-Case-Szenarios wurde fortgesetzt:

Was ist mit Pakistan?, fragte Biden. Er hielt Pakistan aufgrund seines Atomwaffenarsenals für den gefährlichsten Staat in der Region.

Eine Machtübernahme der Taliban in Afghanistan könnte den Tehrik-i-Taliban oder TTP, der pakistanischen Talibanbewegung, großen Auftrieb geben. Die TTP waren im aktiven, bewaffneten Widerstand gegen die pakistanische Regierung und wurden für die Anschläge und die Ermordung der ehemaligen Premierministerin Benazir Bhutto 2007 verantwortlich gemacht.

Die Warnungen der Vertreter des Militärs und der Geheimdienste wurden düsterer. Sie verfügten über jahrzehntelange Erfahrungen bei der Verfolgung und Analyse der Taliban. Sie wussten genau, was das Erstarken der Taliban für die afghanische Bevölkerung bedeutete, vor allem für die Frauen.

Die Aufzählung menschlichen Leids und politischer Folgen war erschreckend.

Okay, sagte Biden, reden wir über die uns zur Verfügung stehenden Mittel, um die möglichen Folgen und Risiken zu reduzieren.

Nach einem Abzug der US-Truppen, erklärte er, laute sein Ziel, innerhalb von sechs Monaten über ausreichende Kapazitäten in der Golfregion zu verfügen, um auf neue Probleme auch ohne in Afghanistan stationierte US-Truppen reagieren zu können. Dann könnten die USA weiterhin terroristische Ziele in Afghanistan überwachen und hätten eine Ausgangsbasis für militärische Aktionen, um gegebenenfalls einzugreifen.

Sullivan und der NSC präsentierten Biden schließlich zwei Memos: die stärksten Argumente für einen Verbleib in Afghanistan und die stärksten Argumente für einen Abzug. Die Memos basierten auf ausführlichen Diskussionen zwischen den verschiedenen Behörden und Ministerien. Genauso wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger, war jedoch Bidens eigene Geschichte im Zusammenhang mit Afghanistan.

Bei einem Interview 2015 wurde der russische Präsident Wladimir Putin gefragt, ob seine 16 Jahre beim KGB ihn beeinflussen würden. Putins denkwürdige Antwort: »Jede Phase in unserem Leben hinterlässt Spuren.«1

Das könnte man auch über die 20 Jahre sagen, in denen Biden mit dem Krieg in Afghanistan zu tun hatte, als Vorsitzender des Senate Foreign Relations Committee, in seinen acht Jahren als Vizepräsident und bei seinen vielen Aufenthalten vor Ort.

Diese Zeit war weit mehr als nur eine Phase in Bidens politischem Leben. Von besonderer Bedeutung war die dreimonatige Strategieüberprüfung, die Obama im ersten Jahr seiner Präsidentschaft zu Afghanistan durchführte. Als Vizepräsident hatte Biden an allen Besprechungen teilgenommen, sämtliche nachrichtendienstliche Berichte gelesen und sich ungewöhnlich stark eingebracht. Auf subtile und weniger subtile Weise hatte Biden deutlich gemacht, wenn überhaupt, dann sollten nur wenige zusätzliche Truppen nach Afghanistan geschickt werden.

Im darauffolgenden Jahr, 2010, hatte Biden im privaten Kreis noch einmal Präsident Obamas Entscheidung überprüft, die Truppenzahl um 30.000 US-Soldaten aufzustocken. Er sprach von einem tragischen Machtspiel, das nationale Sicherheitsexperten auf Kosten eines jungen Präsidenten durchgezogen hätten. Obama, erklärte Biden, sei vom Militär und den »fünf Granitblöcken« überrollt worden, wie er die damals maßgeblichen Akteure nannte. Gemeint waren Außenministerin Hillary Clinton, Verteidigungsminister Robert Gates, der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs Michael Mullen, General David Petraeus als Oberbefehlshaber von CENTCOM und General Stanley McChrystal, der Befehlshaber in Afghanistan.

McChrystal hatte eine vertrauliche Einschätzung des Krieges verfasst und darin erklärt, es drohe ein »Scheitern der Mission«, wenn er nicht Zehntausende weitere Truppen erhalte.2 Genauer gesagt wollte er 40.000 zusätzliche Soldaten. Die vier anderen Granitblöcke — Clinton, Gates, Mullen und Petraeus — unterstützten McChrystal.

In privater Runde sagte Biden, falls er einmal seine Memoiren schreibe, werde er »akkurat und präzise« das Problem benennen, das er in der Haltung der fünf sah.

»Ich habe wieder und wieder und immer wieder aufs Neue dargelegt, dass die Taliban nicht al-Qaida sind«, sagte Biden. Der Aufstand sei Teil eines internen Bürgerkriegs und habe nichts mit einer terroristischen Bedrohung der USA zu tun.

Biden erinnerte sich an einen Afghanistanbesuch vor seinem Amtsantritt als Vizepräsident. Er hatte den damaligen US-Kommandanten David McKiernan getroffen, der ihm sagte, man habe seit 18 Monaten nichts mehr von al-Qaida gesehen.

Biden erzählte, er habe daraufhin zu Verteidigungsminister Gates gesagt: »Ich will Ihnen eine einfache Frage stellen. Wenn es al-Qaida nicht gäbe, würden wir dann 100 Milliarden Dollar oder mehr dafür ausgeben, Zehntausende Frauen und Männer nach Afghanistan zu schicken? Die Antwort lautete ›ja‹. Damit war alles klar.«

Gates argumentierte, die Präsenz der US-Truppen trage zur strategischen Stabilität in der Region bei.

Biden hatte gesagt: »Eine der grundlegenden Prämissen, auf denen diese Granitblöcke ihre Argumente aufbauten, lautete: Um Pakistan zu stabilisieren, müssten wir zeigen, dass wir bereit sind, die Taliban zu schlagen. Dabei ist das völlig unlogisch. Denn sie, die Pakistanis, haben die gottverdammten Taliban geschaffen. Wie sollen wir Pakistan stabilisieren, wenn wir genau die Leute besiegen, die sie geschaffen haben und weiterhin unterstützen?«

Zur Unterstützung der Bitte um zusätzliche Truppen hatte das Militär ein klassisches Planspiel namens »Poignant Vision« durchgeführt, das zeigen sollte, dass die Entsendung von 40.000 weiteren Soldaten dringend notwendig sei.3 Eine geringere Zahl würde in einer Katastrophe für die Region münden.

Biden sagte Obama, das Militär würde ihm »Bullshit« über den Krieg erzählen. Er wusste von seinen Jahren im Senat, dass das Militär Obama mit Fachbegriffen überhäufte.

»Das ist wie bei einem Kind auf einer katholischen Schule. Im Unterricht wird das Thema Beichte und Priester behandelt. In der dritten Klasse, wenn man lernt, Buße zu tun. Aber man kann nicht einfach sagen, ich habe die goldene Kette geklaut, dem Priester aber verschweigen, dass an der Kette auch noch eine goldene Uhr hing.«

Doch genau das würde das Militär tun, wie Biden erklärte. »So sind diese Typen nun mal. Man muss herausfinden, ob am Ende der Kette noch eine verdammte goldene Uhr hängt.« Und er fügte hinzu: »Vieles davon ist neu für den Präsidenten.« Obama wurde erst 2004 in den Senat gewählt und war nur vier Jahre lang Senator, bevor er ins Weiße Haus einzog.

»Sie hatten vier oder fünf Prinzipien, die meiner Meinung nach total auf Sand gebaut waren«, befand Biden.

Eins davon war die fortgesetzte Ausbildung der 400.000 afghanischen Sicherheitskräfte und Polizisten. Denn sie würde kein Ende der Aufstände garantieren, wenn die Kapazitäten der US-Truppen immer noch weitaus größer waren als die der afghanischen Streitkräfte.

Und wenn die afghanischen Streitkräfte nicht in der Lage waren, die Kontrolle zu übernehmen, würden die USA auf ewig im Land bleiben. »Diese falsche Darstellung, weil man nur die halbe Wahrheit sagte, trat ständig auf«, sagte Biden.

Biden verbrachte Stunden um Stunden allein im Gespräch mit Obama, oft bei ihrem regelmäßigen wöchentlichen gemeinsamen Mittagessen.

»Sie dachten, sie könnten alle anderen austricksen. Sie denken nur an ihre Kriegsspiele, aber ich hatte meine Spielchen beim Mittagessen.«

Biden stand mit seiner Ansicht nicht allein. Als die Militärkommandanten argumentierten, sie bräuchten die Stützpunkte in Afghanistan für den Einsatz der Predator-Drohnen, ferngesteuerte, unbemannte bewaffnete Luftfahrzeuge, erklärte CIA-Direktor Leon Panetta, die Drohnen könnten auch von anderen Ländern aus gesteuert werden.

»Gott sei Dank gab es den guten alten Leon«, sagte Biden. »Leon sagt frei heraus Nein, ich sehe das anders.«

Bei der strategischen Analyse 2021 war Biden grundsätzlich mit Blinken einer Meinung, eine politische Einigung nicht einseitig auszuschließen.

Allerdings zeigte sich nun eine gewisse Anspannung. In Biden rangen zwei Haltungen miteinander — Rückzug oder der Versuch, Verhandlungen noch eine letzte Chance zu geben.

Oder wie man beim Militär gern sagte: »Jede Option ist suboptimal.« Biden musste nun die am wenigsten suboptimale Option finden.

»Vergleichen Sie mich nicht mit dem Allmächtigen«, sagte Biden zu Blinken. »Vergleichen Sie mich mit der Alternative.«