Epilog

Am anderen Ufer des Potomac River in Quarters 6 in seiner streng geheimen Einrichtung (»Sensitive Compartmented Information«), umgeben von mehreren abhörsicheren Videobildschirmen mit Verbindung zum Weißen Haus und in die ganze Welt, mühte sich der Vorsitzende Milley noch immer, die Bedeutung des Aufstands vom 6. Januar auszuloten.

»Der 6. Januar war einer der Hochrisikotage«, sagte Milley zur Führung seines Mitarbeiterstabs. »Weder ich noch irgendjemand, den ich kenne, auch nicht beim FBI oder wo auch immer, hatte sich vorstellen können, dass Tausende Menschen das Kapitol attackieren würden. Das Kapitol regelrecht zu umzingeln und aus mehreren Richtungen gleichzeitig anzugreifen und das zu tun, was die getan haben, das war etwas anderes. Der Sechste war ziemlich dramatisch. Das ist ungefähr so dramatisch, wie es aussieht, es fehlt nicht viel bis zu einem Bürgerkrieg.«

Nach der landläufigen Ansicht, die sich auch in Washington breitgemacht hatte, hätte es Warnzeichen gegeben. Aber Milley wusste, dass das zusammenhanglose Gerede im Internet niemals die spezifischen, glaubwürdigen Erkenntnisse liefern konnte, anhand deren eine Katastrophe hätte verhindert werden können.

Es war ein schweres Versagen der US-Geheimdienste gewesen, vergleichbar mit den ausgebliebenen Warnungen im Vorfeld der Terroranschläge vom 11. September 2001 und des Überfalls der Japaner auf Pearl Harbor. Sie legten tiefe Lücken und Schwachstellen im amerikanischen System bloß.

Was übersahen Milley und andere hier? Was verstanden sie nicht?

Milley, immer der Historiker, dachte an die kaum in Erinnerung gebliebene Revolution des Jahres 1905 in Russland. Der Aufstand war fehlgeschlagen, hatte allerdings die Bühne bereitet für die erfolgreiche Revolution von 1917, aus der am Ende die Sowjetunion hervorging. Wladimir Lenin, der Anführer der Revolution von 1917, hatte später den Aufstand von 1905 als »Die Große Generalprobe« bezeichnet.

War der 6. Januar nur eine Generalprobe gewesen?

Milley sagte seinen leitenden Mitarbeitern: »Was wir hier gesehen haben, war vielleicht nur das Vorspiel zu etwas viel Schlimmerem, das uns bevorsteht.«

Milley war klar, dass die Geschichte langsam voranschreitet, mitunter jedoch ohne Vorwarnung einen abrupten Sprung nach vorne macht, der deshalb unmöglich aufzuhalten ist. Ob das Land Zeuge des Endes der Ära Trump oder des Auftakts zur nächsten Phase der Ära Trump wurde, kann nur in der Rückschau abschließend beurteilt werden.

Trump war derweil keineswegs inaktiv. Im Sommer 2021 war er im ganzen Land unterwegs und absolvierte Auftritte im Wahlkampfstil. Über 10.000 Menschen mit Trump-Mützen und Transparenten, auf denen »Save America!« stand, besuchten seinen Auftritt in Wellington, Ohio, am 26. Juni.

»Wir haben nicht verloren. Wir haben nicht verloren. Wir haben nicht verloren«, erzählte Trump der Menge.1

»Noch mal vier Jahre! Noch mal vier Jahre! Noch mal vier Jahre!«, grölte das Publikum.

»Wir haben diese Wahl zwei Mal gewonnen!«, behauptete Trump. Das war seine neueste Masche, mit der er das Geschehen in einen, in seinen Sieg über Biden umdeutete. Die Menge tobte. »Und vielleicht müssen wir sie noch ein drittes Mal gewinnen.«

Nach rund 90 Minuten stachelte Trump die Leute ein weiteres Mal auf. Das war alles andere als ein Abschied.2

»Wir werden uns nicht beugen«, sagte Trump und verfiel in einen bei Churchill abgekupferten Tonfall. Es war eine Kriegsansprache. »Wir werden nicht zerbrechen. Wir werden nicht nachgeben. Wir werden niemals aufgeben. Wir werden niemals kapitulieren. Wir werden niemals klein beigeben. Wir werden unter keinen Umständen aufgeben, nie im Leben. Meine amerikanischen Landsleute, unsere Bewegung ist weit davon entfernt, am Ende zu sein. In Wirklichkeit hat unser Kampf gerade erst begonnen.«

Milley fragte sich, ob dies nur in Trumps Verlangen begründet war, Stärke auszustrahlen? Oder war es das Verlangen nach absoluter Macht?

Präsidenten müssen übernehmen, was ihre Vorgänger ihnen an Unvollendetem hinterlassen haben. Davon konnte sich niemand so umfassend überzeugen wie Joseph R. Biden jr.

Biden und seine Berater hassten es, Trumps Namen auch nur auszusprechen. Die Helfer warnten sich nicht selten gegenseitig, man möge doch bitte das »T«-Wort vermeiden.

Aber Trumps Existenz durchdrang noch immer das Weiße Haus, selbst in der Residenz. Eines Abends ging Biden in einen Raum mit einem riesigen Videobildschirm an der Wand. Zur Entspannung lud sich Trump Programme hoch, um auf den berühmtesten Golfplätzen der Welt virtuell den Schläger zu schwingen. »Was für ein Riesenarschloch«, sagte Biden einmal, als er die Golfspielzeuge des ehemaligen Präsidenten begutachtete.

Ein früherer Präsident, der schwer an der Last des Schattens seines Vorgängers zu tragen gehabt hatte, war Gerald Ford im Jahr 1974.3 Ford nannte Watergate einen »nationalen Albtraum«. Watergate verschwand wieder, aber Nixon verschwand nicht. In seinen ersten 30 Tagen als Präsident wurde Ford immer stärker belagert, während Nixon weiter die Nachrichten dominierte.

»Ich musste mir meine eigene Präsidentschaft verschaffen«, sagte Ford später.

Sein Rezept dafür war die vollständige Begnadigung Nixons. Ford glaubte, dies wäre im nationalen Interesse und die einzige Möglichkeit, sich von der Vergangenheit und von Nixon zu lösen. Die Entscheidung stieß auf nahezu universelle Empörung, und Ford verlor die Präsidentschaft zwei Jahre später wieder, größtenteils wegen des Verdachts, er hätte es darauf angelegt gehabt, seinen politischen Mentor und Amtsvorgänger vor dem Gefängnis zu bewahren.

Biden hat gesagt, er würde Trump niemals begnadigen. Aber er stand vor dem gleichen Dilemma wie Ford: Wie bringe ich das Land voran? Wie streife ich die Vergangenheit ab und gestalte meine eigene Präsidentschaft?

Biden behielt Trump im Auge, auch wenn er sich mit seinen Beobachtungen bedeckt hielt. Seine Helfer bemerkten, dass er mitunter gereizt und schwierig sein konnte und an manch einem Morgen missmutig ins Oval Office kam, wegen einer weiteren Runde Trump-Talk auf Morning Joe, einer Expertenrunde des Nachrichtensenders MSNBC.

Fünf Jahre zuvor, am 31. März 2016, als Trump beim Rennen um die Nominierung der Republikaner für die Präsidentschaftswahlen kurz vor dem Sieg stand, arbeiteten wir erstmals zusammen und interviewten Trump in seinem damals noch nicht fertiggestellten Trump International Hotel an der Pennsylvania Avenue in Washington.4

Am gleichen Tag erkannten wir in ihm eine außergewöhnliche politische Kraft, in vielerlei Hinsicht direkt aus dem amerikanischen Drehbuch. Ein Außenseiter. Anti-Establishment. Ein Geschäftsmann. Ein Macher. Bombastisch. Selbstbewusst. Ein Haudrauf mit flinker Zunge.

Aber wir sahen auch die dunkle Seite. Er konnte kleinkariert sein. Grausam. Gelangweilt von der Geschichte Amerikas und verächtlich gegenüber Traditionen des Regierungsgeschäfts, an denen sich die gewählten Führer des Landes seit langer Zeit orientierten. Verlockt von der Aussicht auf Macht. Begierig, seinen Willen mithilfe von Furcht durchzusetzen.

»Echte Macht bedeutet — ich will das Wort eigentlich gar nicht verwenden — Furcht«, ließ uns Trump wissen.

»Ich bringe die Wut an die Oberfläche. Ja, ich sorge dafür, dass die Leute ihre Wut herauslassen. Das habe ich schon immer gemacht. Ich weiß nicht, ob das ein Pluspunkt oder eine Belastung ist, aber wie auch immer, so bin ich.«

Könnte Trump seinen Willen ein weiteres Mal durchsetzen? Gab es Grenzen für das, was er und seine Anhänger tun könnten, um ihn wieder an die Macht zu bringen?

Die Gefahr bleibt.