2. Kapitel

Ich werde nicht ewig so weitermachen können, das ist mir klar. Nur noch eine Weile, bis ich mir ein sicheres Polster geschaffen habe.

Eduard Ahrendsen

Er war todmüde, als er den voll beladenen Pritschenwagen in die Hofeinfahrt seiner Spirituosenhandlung in Berlin steuerte. Am liebsten hätte er ihn heute nicht mehr abgeladen, doch Berlin war ein heißes Pflaster, und sollte jemand die Ladung auf der Pritsche bemerken, würde diese im Handumdrehen gestohlen werden, daran gab es keinen Zweifel. Und das konnte Eduard sich nicht leisten, zumal das wirklich Wertvolle an dieser Ladung nicht die Spirituosen waren, sondern das Kokain, das in den vier Holzfässern versteckt war, die er zusammen mit den Kisten voller Flaschen aus Hamburg hierhergebracht hatte. Eduard verließ das Fahrzeug und streckte sich, als die Tür zum Lager geöffnet wurde und Walter Landmann, sein Mitarbeiter, in den Innenhof trat.

»Walter«, sagte Eduard überrascht. »Du bist noch da?«

»Ich dachte mir, der Chef wird bestimmt Hilfe brauchen können, wenn er zurück ist.«

Eduard trat auf seinen Mitarbeiter zu und klopfte ihm auf die Schulter. »Danke, Walter. Bist ’n feiner Kerl.«

Zusammen gingen sie an die Rückseite des Fahrzeugs, Eduard schlug die Plane zurück, und Walter öffnete die Luke.

»Donnerwetter!«, ließ Walter verlauten. »Ist ja pickepacke voll.«

»Die Geschäfte laufen eben«, stellte Eduard zufrieden fest.

»Denn will ick mal die Sackkarren holen«, murmelte Walter und machte sich davon.

Eduard hob bereits die ersten Kisten heraus, als Walter zurückkam. Jeweils vier Holzkisten stapelte Eduard auf die Sackkarre, die Walter sogleich ins Gebäude schob, während Eduard die andere Karre belud, bis Walter wieder herauskam.

So dauerte es nur etwa eine halbe Stunde, bis alle Kisten abgeladen waren und nur noch die vier Holzfässer auf dem Pritschenwagen standen.

»Die bringe ich gleich noch weg«, meinte Eduard mit einem Kopfnicken zu den Fässern. »Die müssen wir nicht abladen.«

»Was ist da eigentlich immer drin?«, fragte nun Walter.

Eduard sah ihn an. »Orujo«, gab er sofort zur Antwort. »Ist ein Tresterbrand aus Galicien, der zwei Jahre in den Eichenfässern gelagert wird, bevor er ausgeschenkt wird.« Kurz überlegte Eduard. »Willst du ihn mal probieren?«

Walter sah ihn an. »Fällt dann nicht auf, das etwas fehlt?«

»Ich glaube kaum, dass ein kleines Glas einen Unterschied vom Gewicht her macht.«

Walter nickte, verschwand kurz im Gebäude und kam mit zwei Gläsern wieder heraus. Eduard ging zu einem der Fässer, entsicherte den Zapfhahn und füllte die beiden Gläser. Dann gab er eines Walter. »Prost«, sagte Eduard und kippte den Schnaps.

»Ahhh«, machte Walter. »Das Zeug brennt ja ganz schön in der Kehle.«

»Hat auch einen ordentlichen Alkoholgehalt«, erklärte Eduard.

»Noch einen, und ich fahr die Karre gegen den nächsten Laternenmast, bevor ich das Varieté erreiche.«

Walter lachte gurgelnd. »Na, das mach mal besser nicht. Der von Plesow ist schließlich einer unserer besten Kunden.«

»Ich fahr die Fässer jetzt zum Varieté«, kündigte Eduard an. »Dann ist das auch erledigt.«

»Tu das, Chef. Ich räume drinnen die Kisten noch weg und mache dann auch Feierabend.«

»Danke, Walter.«

Dieser nickte nur und tippte kurz gegen seine Schirmmütze. »Schönen Abend noch, Chef.«

»Dir auch.« Eduard schloss die Luke, schlug die Plane wieder herunter, stieg ins Führerhaus und grinste in sich hinein. Die Sache mit den Fässern war eine wirklich gute Idee gewesen. Es gab einen ummantelten Hohlraum im Inneren, in dem das Kokain in fest verschnürten Paketen gelagert wurde. Nur im äußeren Bereich war der Orujo eingefüllt, sodass man jederzeit, wie gerade eben geschehen, den Schnaps testen konnte, sollte mal eine Überprüfung erfolgen. Einfach perfekt! Eduard konnte sich kein einziges mögliches Szenario vorstellen, bei dem er auffliegen könnte.

Er lenkte seinen Pritschenwagen in Richtung Mitte, bis er die Querstraße erreichte, von wo aus ein kleiner Abzweig zur Rückseite des Varietés in den Innenhof führte. Dort stellte er den Pritschenwagen ab, stieg aus, ging zur Tür und klopfte kräftig. Aus dem Innern drang die laute, quäkende Dixieland-Musik bis hier heraus. Die Kapelle gab offenbar alles, um die Besucher bestmöglich zu unterhalten. Er klopfte abermals und wartete, glaubte jedoch, dass man ihn bei dem Lärm dort drinnen nicht hören konnte. Also ging er zurück zum Wagen und schloss ab, damit er um das Gebäude herumgehen und dann vorne Bescheid sagen konnte, als in diesem Moment die Tür geöffnet wurde und einer der Köche mit einer Mülltonne herauskam und sie abstellte.

»’n Abend«, grüßte er und sah Eduard an.

»’n Abend«, gab dieser zurück. »Ich habe geklopft, aber es hat wohl keiner gehört. Ich bringe den Schnaps.«

»Kein Wunder, bei dem Krach da drinnen«, meinte der Koch. »Ich hole Nolte.«

»Danke.«

Eduard zündete sich eine Zigarette an, während er wartete. Gerd Nolte war die rechte Hand von Constantin von Plesow, dem sowohl das Varieté Astor als auch das Hotel gleichen Namens gehörte. Von Plesow war eine große Nummer in Berlin, und niemand wagte es, sich mit ihm anzulegen. Eduard hatte ihn selbst jedoch nur wenige Male gesehen, weil er die Geschäfte immer nur mit Gerd Nolte abwickelte. Und er konnte nicht behaupten, dass er zu irgendeiner Zeit nicht gut behandelt oder gar unter Druck gesetzt worden war. Ganz im Gegenteil. Als Eduard vor gut einem halben Jahr die Ausstände, die diverse Kneipen bei ihm hatten, nicht eintreiben konnte und dies eher beiläufig Gerd Nolte gegenüber erwähnt hatte, hatte dieser ihm sofort Hilfe angeboten. Erst hatte Eduard gezögert, sie jedoch dann angenommen.

Es hatte nur eines einzigen Abends und der Vorsprache einiger Männer Constantin von Plesows bedurft, damit Eduard sein Geld bekam. Und zwar bis auf den letzten Pfennig. Nolte hatte ihm damals den Rat gegeben, nicht zu nett zu sein und sich künftig nicht mehr vertrösten zu lassen. Und diesen Rat hatte Eduard auch befolgt, obwohl es nach diesem Abend nicht einmal mehr nötig gewesen war. Jeder, der mit Eduard Geschäfte machte, wusste nun, in welchen Kreisen er verkehrte und dass es alles andere als klug war, ihm seine Ware nicht rechtzeitig zu bezahlen.

Er hatte dann Gerd Nolte darauf angesprochen, was er ihm denn schuldig war für den Einsatz der Männer. Zu Eduards Verblüffung hatte Nolte nur abgewinkt und es als Freundschaftsdienst bezeichnet. Als dann jedoch Eduards Fahrer Fritz wieder einmal betrunken gewesen war und Eduards Daimler-Lieferwagen zu Schrott gefahren hatte und kurz danach auch noch das morsche Dach seiner Villa in Hamburg eingestürzt war, hatte Eduard finanziell nicht mehr ein noch aus gewusst. Also hatte er sich wieder an Nolte gewandt, der ihm anbot, auf der Strecke zwischen Hamburg und Berlin Kokain zu schmuggeln, das über den Hamburger Hafen eingeschifft wurde. Zunächst hatte Eduard abgelehnt. Er hatte nie zuvor krumme Geschäfte gemacht – bis auf die paar Einnahmen, die er eben nicht durch die Bücher laufen ließ. Doch als seine finanzielle Lage immer angespannter wurde, hatte er Noltes Angebot angenommen. Das erste Mal, als sein Pritschenwagen mit genug Kokain von Hamburg nach Berlin unterwegs war, um damit eine ganze Armee zu versorgen, hatte er Blut und Wasser geschwitzt. Doch danach war es ihm von Mal zu Mal leichter gefallen, und inzwischen dachte Eduard kaum noch darüber nach, was er da eigentlich tat. Anfangs hatte er dieses Geschäft nur so lange machen wollen, bis das Dach bezahlt war und er den Verlust des geschrotteten Lieferwagens wieder eingespielt hatte. Doch das war schon vor Monaten erledigt gewesen, und inzwischen besaß Eduard erheblich mehr Geld, als er zuvor in seinem ganzen Leben verdient hatte. Und es gefiel ihm, derart unabhängig zu sein und sich keine Gedanken mehr machen zu müssen, was er sich leisten konnte und was nicht. Auch die kleine schäbige Wohnung, die er in Berlin bewohnte, würde schon bald der Vergangenheit angehören: Er würde in ein Haus umziehen, das gar nicht weit vom Varieté entfernt lag. Und zwar nicht zur Miete, sondern als Besitzer. Die Papiere waren bereits vorbereitet, und er wollte sie nächste Woche unterschreiben, sobald die Kanzlei des Notars am Montag wieder öffnete. Was für eine Erleichterung, endlich der armseligen Wohnung zu entkommen! Er hätte es sich sogar leisten können, eine Villa außerhalb der Stadt zu kaufen. Doch das hatte er nicht gewollt. Er wollte hier bleiben, mitten in Berlin, und sein Leben genießen. Schließlich wurde er dieses Jahr dreiunddreißig. Ein Alter, in dem die meisten längst verheiratet waren, zumindest aber eine Gefährtin gefunden hatten, mit der sie sich vorstellen konnten, ihr Leben zu verbringen. Aber Eduard bezweifelte, dass er sich jemals binden würde. Zu groß war seine Angst, eine Frau zu heiraten, die sich am Ende womöglich wie seine Mutter als böses zänkisches Weib entpuppte und nichts als Ärger machte. Bestimmt hatte sein Vater damals auch gedacht, eine ganz normale, gute Frau gefunden zu haben. Wie sehr er sich doch getäuscht hatte! Und diesen Fehler wollte, nein, würde Eduard ganz sicher nicht begehen. Niemals.

»Ede!« Gerd Nolte trat in den Hof und kam auf Eduard zu. Freundschaftlich schüttelten sie sich die Hände. »Wie geht’s dir? Hat alles gut geklappt?«

»Na klar. Alles wie gewohnt.« Eduard deutete zur Ladefläche. »Vier Fässer. Und übrigens: Einer meiner Leute hat vorhin gefragt, was da eigentlich drin ist. Da habe ich ihm und mir einen Schnaps gezapft. Hat tadellos funktioniert.« Eduard grinste breit, und Nolte nickte.

»Gut so. Und wenn jetzt jemand deinen Mann fragt, wird er genau die richtige Antwort kriegen. Prima gemacht, Ede.«

Zwei weitere Männer, sie hießen Klaus Denker und Ludger Schnurr, kamen in den Hof und begrüßten Eduard ebenfalls.

»’n Abend«, erwiderte dieser, ging dann an die Ladefläche, öffnete die Luke und schlug die Plane zurück. Dann kletterte er auf die Pritsche, und Denker kam ebenfalls herauf, damit sie gemeinsam das erste Fass, das einiges an Gewicht hatte, herunterhoben und an den Rand der Pritschenfläche stellten. Nolte und Schnurr nahmen es entgegen und hatten Mühe, es abzusetzen, ohne dass das Fass umfiel.

»Hol noch mal eben zwei Leute«, wies Gerd Nolte Schnurr an, der gleich darauf kehrtmachte und in das Gebäude zurückging. »Das hat ja ganz schön Gewicht«, stöhnte Nolte.

Zwei weitere Männer kamen heraus, und zusammen luden sie die vier Fässer ab und trugen sie ins Innere des Varietés.

»Komm noch mit rein. Dann trinken wir einen«, bot Gerd Nolte an, und eigentlich wollte Eduard ablehnen, denn er war hundemüde. Aber andererseits war es gut für die Geschäftsbeziehung, wenn man nicht nur abrechnete und sofort wieder auseinanderging, sondern noch ein Weilchen miteinander plauderte. Darüber hinaus mochte er Gerd Nolte und sah ihn als eine Art Freund an, wenngleich ihre Verbindung in erster Linie geschäftlich war.

»Klar«, stimmte er nun zu, ließ die Plane wieder herunter, schloss die Luke und folgte Gerd durch den Hintereingang in das Gebäude. Gerd ging über den schmalen Flur, von dem rechter Hand eine Treppe in den Keller führte. Ein Stück weiter gelangte man zur Küche und über einen weiteren Gang zu den Vorratsräumen, in die nun auch die Fässer gebracht wurden.

Gerd bog links ab zum Innenraum des Varietés, von wo aus die Musik und die lauten Stimmen der lärmenden Menschen herüberdrangen. Es wurde gelacht und gejauchzt, und man konnte schon hier vor lauter Zigarettenqualm kaum noch klar sehen. Je näher sie dem Zugang kamen, desto mehr mischte sich der Alkoholgeruch mit dem Duft teurer Parfums. Das Lachen und Stimmengewirr der Leute verschmolz mit der lauten, schnellen Dixieland-Musik. Quäkende Posaunen, die gegen hell tönende Trompeten andröhnten, und kräftige Trommelwirbel schienen das Gebäude zum Beben zu bringen. Als sie den Saal betraten, warf Eduard einen Blick auf die dicht gedrängten Leiber. Die Tanzenden pressten sich eng aneinander. Alles hier war verrucht und die Luft geschwängert von der Gier nach Leben und Vergnügen, zügellos und wild, als gäbe es kein Morgen. Eduard sah hinüber zu dem Vorhang, durch den man zu dem Bereich mit den Separees gelangte. Ein Paar, das sich vermutlich erst am heutigen Abend kennengelernt hatte, verschwand soeben dahinter, um sich seiner Lust hinzugeben. Ob es in anderen Städten Deutschlands auch so freizügig zuging? Oder lag es an Berlin, einer Stadt des augenscheinlichen Lasters, oder, wie Eduard es empfand, der gelebten Zügellosigkeit und des puren Lebens? Zwar konnte er es nicht mit Sicherheit sagen, weil er vor dem Krieg ausschließlich in Hamburg gelebt hatte und erst danach die Dependance in Berlin eröffnet hatte. Doch seinem Eindruck nach war das Leben nach dem Krieg weit exzessiver geworden als zuvor. Er selbst war damals, zwei Jahre nach Beginn des Krieges, auch an die Front berufen worden, jedoch nicht einmal drei Wochen dort geblieben. Dann war er verwundet worden und hatte danach nicht wieder zurückgemusst – warum, wusste er nicht zu sagen. Möglicherweise hatte man ihn einfach vergessen. So war der Krieg an ihm vorbeigerauscht und für ihn weit weniger schlimm gewesen als für so viele andere, die den Tod von Freunden oder Verwandten zu beklagen hatten.

Eduard wusste, dass er Glück gehabt hatte. Und vielleicht fühlte er deshalb nicht das zwingende Verlangen, sich derart auszutoben, das in anderen zu brennen schien. Oder aber es war hier in Berlin schon immer so gewesen, und Eduard war im beschaulichen Hamburg bisher einfach ein anderes Leben gewohnt gewesen. Denn in Berlin schien sich die Frage nach Moral nicht zu stellen, oder aber sie wurde anders definiert. Die Sucht nach Vergnügen in Verbindung mit Alkohol konnte ihm selbst nur recht sein, spülte es doch immer mehr Geld in seine Kasse. Gelegentlich fragte sich Eduard, ob es ihm ein schlechtes Gewissen bereiten sollte, dass der Schmerz des Verlustes so vieler Seelen, der noch immer über dem Land wie eine dunkle Wolke hing, dazu führte, dass er immer mehr Spirituosen verkaufen konnte und nun auch noch Kokain schmuggelte. Doch tatsächlich hatte er solche Gewissensbisse nur selten und nur kurz. Er zwang ja niemanden, flaschenweise Schnaps in sich hineinzuschütten oder sich das Kokain in die Nase zu ziehen. Das entschieden die Menschen schön für sich selbst.

»Was möchtest du trinken?«, fragte Nolte nun, als sie die Bar erreicht hatten.

»Ein Bier wäre gut«, antwortete Eduard.

»Nichts Stärkeres?«

Eduard schüttelte den Kopf. »Der Tag hatte es in sich. Ich stelle nachher nur noch den Wagen ab und falle dann ins Bett.«

»Du solltest mal ein bisschen mehr leben«, meinte Gerd. »Immer nur arbeiten bringt einen auf Dauer auch nicht weiter.«

»Das sagt der Richtige«, entgegnete Eduard. »Du bist hier im Laden, wann immer ich herkomme. Ist das keine Arbeit?«

Gerd machte eine Bewegung mit der Hand und deutete auf die leicht bekleideten Tänzerinnen, die gerade die Bühne betraten. »Ich könnte es schlechter treffen, oder?«

Gerd ließ sich vom Barkeeper ein Bier und ein Glas Whiskey reichen und gab die Flasche an Eduard weiter.

»Prost«, sagte Nolte, und sie stießen an. Kurz unterhielten sie sich, dann bat Gerd Eduard, kurz zu warten, weil er das Geld holen wollte. Eduard reichte Gerd den Zettel, auf dem er die gelieferten Mengen notiert hatte. Während Gerd fort war, beobachtete Eduard weiter das Treiben im Varieté. Die Tänzerinnen, die unter lauten Rufen ihr Bühnenprogramm zum Besten gaben, jauchzten und warfen die Beine in die Luft. Doch viele Gäste nahmen sie kaum wahr. Sie trugen einfach nur zur ausgelassenen Stimmung bei, ohne dass es wirklich jemanden zu interessieren schien, ob sie nun auf der Bühne tanzten oder nicht.

Kurz darauf kam Gerd Nolte zurück und reichte Eduard zwei Umschläge, der eine, nicht so prall gefüllte, würde durch die Bücher wandern. Der andere direkt in seine Tasche.

»Danke«, sagte Eduard.

»Immer wieder gern«, gab Gerd zurück. »Ich sage dir Bescheid, wenn die nächste Ladung in Hamburg ankommt.«

»In Ordnung.« Eduard verstaute das Geld in der Innentasche seines Jacketts. Dann trank er sein Bier aus und reichte Gerd die Hand. »Ich mach mich auf den Weg«, kündigte er an. »Mach’s gut, Gerd. Wir hören uns.«

»Du auch, Ede.« Damit verabschiedeten sie sich, und Eduard bahnte sich seinen Weg durch die feiernden Menschen. Als er den Saal verließ und in den hinteren Flur trat, war er erleichtert. Noch eine halbe Stunde, dann hätte er den Wagen abgestellt und wäre bereits zu Hause in seiner kleinen schäbigen Wohnung. Mit dem Geld, das er in seiner Jacketttasche trug, würde er, zusammen mit dem, was er im Laufe der letzten Monate verdient hatte, am Montag die Anzahlung für das Haus leisten und dann die Urkunde beim Notar unterschreiben. Danach stand noch die Renovierung an, um das Gebäude nach seinen Wünschen umbauen zu lassen, und dann endlich konnte er einziehen. Er konnte es kaum mehr erwarten. Wenn er noch einige Monate so weiterarbeitete, hätte er genug zusammen, um alle fälligen Zahlungen zu leisten. Im Grunde würde dann auch wieder das Geld reichen, das er mit dem Spirituosenhandel verdiente. Doch so weit war es noch nicht. Außerdem hatte er vor, noch eine hübsche Stange Geld zu verdienen und für schlechte Zeiten zur Seite zu legen. Bisher war ja mit dem Kokainhandel alles gut gegangen, und es gab überhaupt keinen Grund, die Sache vorzeitig zu beenden. Doch ewig wollte er das natürlich auch nicht machen. Wann der richtige Zeitpunkt für den Ausstieg kam, konnte er jetzt noch nicht absehen. Nur dass es jetzt noch nicht so weit war, das wusste er genau. Also brachte es nichts, sich weiter darüber Gedanken zu machen.

Er verließ das Varieté durch den Hinterausgang und atmete tief durch, als er ins Freie trat. Der Zigarettenqualm brannte noch immer in seinen Augen. Sein Blick fiel auf die Uhr, es war noch nicht einmal halb zehn. Das Treffen zwischen Amala und diesem Regisseur musste längst gelaufen sein. Ob seine Cousine wohl versucht hatte, ihn anzurufen? Vermutlich. Vielleicht würde er es selbst gleich noch mal versuchen, vorausgesetzt, es kam nichts mehr dazwischen, und er konnte direkt nach Hause. Er war gespannt, was sie ihm zu erzählen und ob sie die Rolle bekommen hatte. Er hoffte es wirklich sehr für sie. Es war schon eigenartig, denn er kannte seine Cousine gerade mal ein halbes Jahr, doch er hatte das Gefühl, als gehörte sie schon weit länger zu seinem Leben. Er mochte Amala, und zwar sehr. Und neben seinen geschäftlichen Aktivitäten war sie der Grund dafür, dass er gern nach Hamburg fuhr.

Er stieg in das Führerhaus seines Pritschenwagens und ließ den Motor an. Eduard war so müde, dass er kaum noch die Augen aufhalten konnte, doch er riss sich zusammen. Nicht mehr lange, dann könnte er ins Bett fallen. Endlich.

Er erreichte seine Spirituosenhandlung ohne Zwischenfälle, parkte den Pritschenwagen und verriegelte das Tor. Dann ging er zu Fuß zu seiner Wohnung. Als er im Treppenhaus ankam und sich mit schweren Schritten hinaufschleppte, hörte er bereits das Telefon in seiner Wohnung klingeln. Schnell nahm er die letzten Stufen, sperrte auf, eilte zum Apparat, griff nach dem Hörer und sagte: »Hallo? Eduard Ahrendsen hier.«

»Hier ist Amala«, hörte er die Stimme seiner Cousine.

»Amala!«, rief er begeistert. »Du hast Glück, ich komme gerade zur Tür herein.«

»Ich habe schon zweimal angerufen«, gab sie zu und lachte.

»Und?«, fragte Eduard nur.

»Es hat geklappt!«

Eduard ließ einen Freudenschrei los. »Ich wusste es!«, stieß er hervor. »Meine Cousine wird ein Filmstar!«

»Ich musste es dir unbedingt erzählen. Ich bin ja so glücklich!«

»Ich gratuliere dir von Herzen. Du kannst wirklich stolz auf dich sein.«

»Danke schön!«, erwiderte sie. »Ich könnte die ganze Welt umarmen.«

»Und was hat Onkel Georg gesagt?«

»Du, er war so toll. Jean-Paul hat ja die Verhandlungen übernommen, und Onkel Georg hat sich immer nur mal zwischendurch eingebracht und einige Male zu mir gesagt, dass ich nicht gleich entscheiden, sondern es mir in Ruhe überlegen sollte. Und ich hatte wirklich das Gefühl, dass Arnold Fanck, je mehr Onkel Georg zur Zurückhaltung mahnte, immer drängender wurde und mich am Ende überzeugen wollte, die Rolle tatsächlich anzunehmen.« Amala lachte herzlich auf. »Ich bin so überglücklich, dass ich es gar nicht in Worte fassen kann.«

»Ich freue mich mit dir!«

»Danke!« Amala klang erleichtert. »Ich mache jetzt besser Schluss, sonst wird das Gespräch zu teuer.«

»Es ist wirklich lieb von dir, dass du mir Bescheid gegeben hast. Meine Cousine, der neue Stern am Kinohimmel, ja, das gefällt mir.«

Wieder lachte Amala auf. »Gute Nacht, Edu! Und danke noch mal, dass du dich so mit mir freust.«

»Stets zu Diensten«, erwiderte er fröhlich. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, sagte Amala nochmals, dann hängte sie ein. Eduard ging zu dem einzigen Sessel im Raum, der am Fenster stand, und ließ sich darin nieder. Er überlegte, sich noch ein Bier aus der Küche zu holen, entschied sich aber dann dagegen. Er war einfach zu erschlagen.

Draußen auf der Straße lärmten einige Passanten, und von irgendwo kam ein Geräusch, als hätte jemand ein Glas oder eine Flasche fallen lassen. Eduard machte sich nicht die Mühe, aufzustehen und aus dem Fenster zu sehen. Er streifte stattdessen nur die Schuhe ab, zog sich bis auf die Unterhose aus und legte sich ins Bett. Kurz dachte er noch an Amala und dann an sein neues Haus, in dem er schon bald leben durfte. Dann fragte er sich, ob er das Geld, das er noch immer in seiner Sakkotasche hatte, lieber unter der losen Diele verschwinden lassen sollte, in der er auch die anderen Scheine versteckt hatte. Noch während er darüber nachgrübelte, fiel er in einen tiefen Schlaf, sodass ihm die Entscheidung abgenommen wurde.