3. Kapitel

Ich bin hin- und hergerissen zwischen dem Gefühl, ihr nur das Beste zu wünschen, und der Angst, sie zu verlieren.

Georg Hansen

Georg lag im Bett und ließ die vergangenen Stunden Revue passieren. Was für einen ereignisreichen Tag er doch heute wieder erlebt hatte! Heute Morgen noch war Eduard überraschend da gewesen und hatte mit ihnen gefrühstückt. Er konnte seinen Großneffen verstehen, dass er letztendlich nach Berlin zurückgefahren war, ohne bei seiner Mutter vorstellig zu werden. Eigentlich war es traurig, und Georg hätte wohl besonnen reagieren und seinen Großneffen freundlich zurechtweisen sollen, dass sich ein solches Verhalten nicht gehörte. Doch danach stand Georg einfach nicht der Sinn. Martha war ein Biest und ihm fiel nichts Gutes zu ihr ein. Ganz im Gegenteil, ein kurzes Gespräch mit ihr konnte ausreichen, um einem den ganzen Tag zu vermiesen. Seine Nichte hatte sich wirklich zu einem der übelsten Menschen entwickelt, denen Georg je begegnet war. Dieser pure, hemmungslos gelebte Egoismus, der auch heute noch jeden ihrer Gedanken bestimmte, war für Georg geradezu unerträglich. Er musste an Marthas Reaktion denken, als sie alle die Nachricht erhalten hatten, dass Robert, sein Bruder und Marthas und Luises Vater, ganz plötzlich verstorben war. Das war inzwischen elf Jahre her, doch Georg wusste noch wie heute, wie Martha damals reagiert hatte. Unter lautem Schluchzen hatte sie gejammert, dass sie nun also Vollwaise sei und niemanden mehr hätte, der sich um sie kümmere, worauf Georg nur den Kopf schütteln konnte. Vollwaise! Allein dass eine damals zweiundvierzigjährige Frau eine solche Bezeichnung für sich beanspruchte, während sie ihren Vater zu dem Zeitpunkt Jahre nicht gesehen und darüber hinaus kein gutes Verhältnis zu ihm gehabt hatte, war Georg gewaltig gegen den Strich gegangen. Und bis heute hatte er das Gefühl, mit einer solchen Ichbezogenheit absolut nicht umgehen zu können, war doch Therese, Roberts Ehefrau, seinerzeit weit mehr von seinem Tod getroffen gewesen. Wie konnte ein Mensch nur vollkommen das Leid anderer ausblenden und ausschließlich um sich selbst kreisen? Er verstand es einfach nicht. Aus diesem Grunde konnte er sich auch noch so oft sagen, dass sie schließlich zu ein und derselben Familie gehörten. Was Martha betraf, gelang es ihm einfach nicht mehr, über seinen Schatten zu springen. Und ehrlich gesagt, wollte er es auch nicht.

Georg verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Zimmerdecke. Seine Nachttischlampe warf einen kreisförmigen Lichtschein hinauf, dessen Ränder diffus im Dunkel verschwammen. Wie oft hatte er in den vergangenen Jahren so dagelegen und an die Decke geblickt, von Einsamkeit bedrückt und mit der Frage auf dem Herzen, ob sich für ihn das Leben überhaupt noch lohnte. Es war zwar nicht so, dass er wirklich erwogen hätte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Doch er hatte tief drinnen gespürt, dass es im Grunde keinen Unterschied mehr machte, ob er lebte oder nicht. Früher hatte er eine Bedeutung für die Menschen in seiner Umgebung gehabt, doch so viele von denen, die sein Leben geprägt und bereichert hatten, waren bereits gegangen. Er lebte schon weit länger als die meisten anderen, die im selben Jahr geboren waren wie er. Er sah es auf den Empfängen, auf die er von der Hamburger Kaufmannschaft noch immer eingeladen wurde, und zu denen er gelegentlich ging, um auf dem Laufenden zu bleiben, was sich in der Stadt tat. Einzig Wilhelm Petersen war noch älter als er, wenn auch nur ein oder zwei Jahre. Alle anderen waren jedoch weit jünger, meist über zwanzig Jahre, und selbst die gehörten schon der Generation an, die bald ihre Firmen an die Kinder übergeben würde. Diese Empfänge waren für Georg ein Symbol des Verfalls, denn auch wenn viele es sich schönzureden versuchten, wussten doch alle, dass Hamburg sich noch längst nicht vom Krieg erholt hatte und von der Hochzeit des Handels, die zu früheren Zeiten geherrscht hatte, nicht einmal ansatzweise die Rede sein konnte. Doch es war nicht nur das, was Georg zu schaffen machte. Er fragte sich immer öfter, was einem Menschen blieb, wenn er nicht mehr in Lohn und Brot stand und für die Versorgung der Familie zuständig war. Georg machte sich nicht vor, dass noch viel vom Glanz vergangener Handelszeiten übrig war. Das Kontorgebäude verfiel zusehends, genau wie der Name Hansen mit den Jahren immer mehr verblasst war. Und erst jetzt, nach all der Zeit, wurde Georg klar, dass er genau das zutiefst bedauerte. Robert, Karl und er hatten damals, nach dem Tode des Vaters, das Kontor zu neuer Blüte geführt, wobei seine Brüder dazu weit mehr beigetragen hatten als er selbst. Und dann, als Luise ins Geschäft eingestiegen war, hatte es noch einen weiteren, entscheidenderen Aufschwung gegeben. Wenn er nun daran dachte, schien es fast ein Leben lang her zu sein, dass sie Seite an Seite in dem wunderbaren Gebäude in der Speicherstadt gearbeitet hatten, getragen von dem sicheren Gefühl, etwas bewirken zu können. Und Georg wusste selbst, wie sehr es ihm gefallen hatte, wichtig zu sein und in Hamburg als angesehener Geschäftsmann zu gelten. Doch was war noch davon übrig? Nichts. Die Erkenntnis war bitter. Er war einfach alt geworden, lebte in dieser Villa, ging gelegentlich in seinem Lieblingsrestaurant an der Alster essen und traf die wenigen Freunde, die noch lebten. Hatte er sich das alles früher so vorgestellt? Hatte er überhaupt jemals einen Gedanken daran verschwendet, wie es wohl sein würde, wenn er in die Jahre kam? Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. Er fragte sich, wie andere Menschen seines Alters damit umgingen. Wirkten die nicht weit zufriedener als er? Wollte nicht jeder alt und immer älter werden und auch den Lebensabend so genießen wie die Jugend? Er wusste es nicht. Doch im letzten halben Jahr, seit Amala bei ihm wohnte, hatte sich sein Leben um hundertachtzig Grad gedreht. Und das fand er wunderbar. Aber seit heute schwang eine leise Furcht mit, die er eigentlich nicht hatte zulassen wollen: Wie würde es sein, wenn sie ihn wieder verließ? Er hatte Luises Tochter so sehr ins Herz geschlossen, dass allein der Gedanke, sie wieder gehen lassen zu müssen, ihn schmerzte. Doch er wusste, dass er nicht so egoistisch sein durfte. Amala war eine wunderbare junge Frau voller Tatendrang. Und er sah es als seine Aufgabe an, sie bei all dem zu unterstützen, was sie vorhatte. Und tatsächlich fiel ihm das auch nicht schwer, begeisterte ihn doch die Welt, in der seine Großnichte sich zu Hause fühlte. Egal, ob Theater oder Film, für Georg war es Neuland, das er nie zuvor betreten hatte. Doch er hatte große Lust darauf, wollte alles sehen und erleben, wollte – ja, was wollte er eigentlich? Er schloss kurz die Augen, öffnete sie dann wieder. Er wollte leben, erkannte er nun, nicht nur existieren. Doch ihm war auch klar, dass er nicht das Recht hatte, Amala an sich zu binden. Er würde alles geben, ihr das zu ermöglichen, was sie sich wünschte. Denn sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich.

Er spürte, wie ihm eine Träne die Wange hinunterlief, zog seinen rechten Arm unter dem Kopf hervor und wischte sie rasch fort. Schluss jetzt mit den trübseligen Gedanken! Er überlegte kurz, setzte sich dann etwas aufrechter und griff nach den zu einem Buch gebundenen Briefen und Reiseberichten von Luise, die stets griffbereit auf seinem Nachttisch lagen, damit er jederzeit darin lesen konnte. Er überlegte, welchen Brief von Luise und Hamza er zuletzt ausgesucht hatte, und erinnerte sich an ihre Reiseberichte aus Brest, La Rochelle und Bordeaux in Frankreich sowie aus Bilbao, Santander, Gijón, La Coruña und Vigo in Spanien. Als er die richtige Stelle im Buch fand, drückte er die Seiten so weit hinunter, dass es von selbst geöffnet blieb. Dann begann er zu lesen:

Lissabon, den 19. Juli 1897

Ihr Lieben,

heute melden wir uns kurz aus Lissabon, wo wir vor zwei Tagen angelegt haben. Unsere Fahrt von Porto aus entlang der portugiesischen Küste, die wunderschön ist, war nicht so ereignisreich, dass wir sehr viel mehr darüber berichten könnten. Hamza und ich genießen unsere gemeinsame Zeit und unseren Segeltörn sehr. Wir sind glücklich miteinander und freuen uns, dass wir so viele schöne Landschaften und Städte erkunden können. Jede Stadt, die wir bisher besucht haben, hatte ihren eigenen Reiz und ganz oft sehr markante und interessante Gebäude, Parks und andere Sehenswürdigkeiten.

Dies gilt auch für Lissabon, eine hübsch anzusehende Hafenstadt, in deren engen Gassen es vor Menschen nur so wimmelt. Wie uns gesagt wurde, leben fast dreihundertfünfzigtausend Einwohner hier. Besonders gut hat uns bisher die Altstadt gefallen. In der Baixa Pombalina, der sogenannten Unterstadt, findet man die Calçada portuguesa, eine für Portugal typische Art der Straßenpflasterung. Diese besteht zu einem Teil aus weißem Kalkstein und zum anderen aus schwarzem Basalt und ist einzigartig. In der Baixa gibt es auch viele Sehenswürdigkeiten.

Etwas ganz Besonderes haben wir aber mitten im Stadtzentrum gefunden: einen frei stehenden Personenaufzug! Der Elevador do Município ist beeindruckende dreißig Meter hoch, besteht aus einer sehr auffälligen Stahlkonstruktion und ist erst seit gut einem halben Jahr in Betrieb. Sage und schreibe bis zu fünfundzwanzig Menschen gleichzeitig können mit dem Aufzug fahren. Oben dann befindet sich beim Ausstieg eine Aussichtsplattform, von der wir einen herrlichen Blick auf die Stadt hatten. Ich muss zugeben, dass mir ein wenig schwindelig wurde und ich mich kaum bis ganz nach vorn getraut habe. Über einen etwa zwanzig Meter langen Steg gelangt man von dort aus schließlich zur Terrasse eines Palasts und von dort zum Largo da Biblioteca Pública, einem schönen Platz, an dem sich unter anderem auch zwei Palastbauten befinden.

Wir wollen noch ein paar Tage hier in der portugiesischen Hauptstadt bleiben und auch die Umgebung erkunden, zum Beispiel die Tejo-Bucht. Dort soll es viele verschiedene Vogelarten geben. Wir sind schon sehr gespannt und werden danach weiter berichten!

Damit schließe ich für heute, wie immer in der Hoffnung, dass Ihr alle wohlauf seid und es Euch gut geht!

Es grüßen Euch aufs Herzlichste

Luise und Hamza

Georg lächelte und schlug das Buch zu. Wann immer er an Luise dachte, durchströmte ihn ein warmes Gefühl. Und durch die Briefe und Reiseberichte, die er nach und nach las, hatte er fast den Eindruck, als sei sie immer noch da, noch immer am Leben und einfach nur auf einer Reise, von der sie ihm schrieb. Er sah sie vor sich, als junge Frau, so wie er sie in Erinnerung hatte. Er legte das Buch zurück auf den Nachttisch und schaltete das Licht aus. Die dunklen Gedanken, die sich erneut seiner zu bemächtigen versuchten, schob er nun beiseite. Er dachte an Amala und das Gespräch mit Arnold Fanck. Georg schätzte den Mann auf Mitte dreißig. Dem Regisseur war anzumerken gewesen, dass er wusste, was er tat und wovon er sprach. Zu Georgs Überraschung war Fanck nicht nur Filmregisseur, sondern ursprünglich Geologe und hatte auch schon als Fotograf gearbeitet. Zudem war er selbst Filmproduzent, schrieb Drehbücher und brachte sich darüber hinaus als Darsteller ein, was Georg beeindruckte, zeugte eine derartige Vielseitigkeit seiner Meinung nach doch vor allem davon, dass Fanck mit vollem Einsatz bei der Sache war und nicht nur irgendein Kerl, der sich als Künstler verstand und von echter Arbeit keine Ahnung hatte. Und ihm war anzumerken gewesen, wie überaus angetan er von Amala war, sodass es für Jean-Paul Gerber nicht mehr vieler Verhandlungen bedurft hatte, um das Rollenangebot für Amala perfekt zu machen.

Georg hatte es ganz reizend gefunden, dass Amala bis zur Verabschiedung von Arnold Fanck zurückhaltend gedankt hatte, dann jedoch, kaum dass dieser fort war, einen wahren Jubelschrei von sich gegeben hatte und Georg um den Hals gefallen war. Das Glück stand ihr ins Gesicht geschrieben, und wenn Georg nun daran dachte, huschte ein Lächeln über seine Lippen. Fanck hatte ihnen erklärt, dass die Dreharbeiten in den Studios der Filmwerke Staaken in Berlin stattfinden würden und die Außenaufnahmen in den Schweizer Alpen geplant seien. Bereits im Oktober dieses Jahres sollte es losgehen.

Amala hatte an Fancks Lippen gehangen, ihre Wangen hatten förmlich geglüht. Und sosehr Georg ihren Fortgang auch bedauern würde, so sehr wünschte er ihr auch, dass sich damit ihr Traum von einer Leinwandkarriere erfüllen würde.

Der Regisseur erzählte während des Gesprächs noch von einer speziellen Technik, die man anwandte, um das Publikum auf ganz besondere Art teilhaben zu lassen. So würde man eine Kamera vorn auf die Skier montieren, sodass die Zuschauer den Eindruck hätten, sie rasten selbst den Abhang hinab.

Georg hatte sich nur gewundert, dass so etwas möglich war. Er selbst war durch und durch norddeutsch und nicht besonders viel in der Welt herumgekommen. Vor allem hatte er noch nie auf Skiern gestanden und auch nie den Wunsch danach verspürt. Deshalb hatte er den Regisseur auch etwas besorgt gefragt, ob Amala für den Film das Skifahren lernen müsste, was dieser jedoch verneint hatte. Amala würde in dem Film eine junge Tänzerin spielen, die es in die Berge zieht. Dort lernt sie zwei Bergsteiger kennen, Freunde, die sich beide in sie verlieben. Während der eine sich zu einer Bergtour aufmacht, gelingt es dem anderen, die Tänzerin für sich zu gewinnen. Eifersucht wallt auf, und die Freunde geraten hierüber bei einer gemeinsamen Bergtour in Streit, in dessen Folge einer der Männer abrutscht und gerade noch vom anderen gehalten werden kann. Doch der Rettungsversuch missglückt, und beide stürzen in den Tod.

Amala würde in dem Film verschiedene Choreografien tanzen, die das Verliebtsein, die Hoffnung und schließlich auch die Verzweiflung zeigen und so die Zuschauer in die jeweilige Gefühlslage versetzen.

Während Fanck sprach, blickte Amala immer mal wieder zu Georg und lächelte. Die Begeisterung, die sie spürte, war ihr anzusehen gewesen.

Als man sich dann voneinander verabschiedet hatte, waren Jean-Paul und Fanck so verblieben, dass Letzterer die entsprechenden Verträge vorbereiten und ihnen in Kürze zukommen lassen würde.

Das Treffen hatte in Georgs Lieblingsrestaurant an der Alster bei der Familie Schomacker stattgefunden, das früher seinem Freund Heinrich gehört hatte. Inzwischen wurde es von dessen Tochter Mathilda geführt, die alles renoviert und weit moderner gestaltet hatte. Wie immer war auch Heinrich im Restaurant gewesen, wahrscheinlich, wie Georg vermutete, um nicht allein in sein leeres Zuhause zu müssen, da Heinrich genau wie Georg schon seit Jahren Witwer war. Nur mit dem Unterschied, dass dessen Tochter Mathilda ebenfalls dort lebte und früher auch deren Söhne Felix und Paul da gewohnt hatten, bevor sie zum Studieren fortgegangen waren. Wohin, wusste Georg nicht oder hatte es vergessen. Mathildas Mann Harald war, wie man so sagte, im Krieg geblieben, sodass nun nur noch Vater und Tochter da waren und sich gegenseitig unterstützten.

Kurz nachdem Arnold Fanck das Restaurant verlassen hatte und Amala ihrem Onkel vor Freude um den Hals gefallen war, hatte Heinrich sich zu ihnen gesellt, der wohl den erfolgreichen Ausgang des Gesprächs mitbekommen hatte. Denn er hatte Amala sogleich gratuliert und eine Flasche Champagner geordert, sodass alle zusammen auf Amalas Erfolg angestoßen hatten. Sogar Mathilda war kurz dazugekommen, wenngleich sie nur einen kleinen Schluck getrunken hatte, um sich sofort wieder an die Arbeit zu machen. Doch Amala stand die Freude darüber, wie sehr ihr alle den Erfolg gönnten, deutlich ins Gesicht geschrieben.

Mit diesem Bild vor Augen sank Georg in einen tiefen Schlaf, und als er wieder erwachte, hörte er bereits draußen die Vögel ihre ersten Lieder singen.

Sein Blick fiel auf den Wecker. Es war bereits nach sieben. Noch müde schlug er die Decke beiseite und setzte sich auf. Es war Sonntag, doch das war für Georg kein Grund, länger liegen zu bleiben als unter der Woche. Er stand immer um sieben Uhr auf, jeden Tag. Und er würde sich weder erlauben, dies am Wochenende zu ändern, noch sonst irgendwann. Denn seiner Meinung nach brauchte der Mensch feste Rituale und Strukturen, um ein vernünftiges Leben zu führen. Und jetzt, mit Beginn des neuen Tages, waren auch die trübsinnigen Gedanken des gestrigen Abends verflogen, und er freute sich nur noch darüber, welchen Erfolg Amala zu feiern hatte. Er würde sich künftig mehr zusammennehmen und dieses negative Denken nicht mehr zulassen. Denn es wäre falsch, wenn Amala das auch nur im Geringsten bemerkte.

Georg erhob sich, rekelte sich und ging dann ins Bad, um seine Morgentoilette zu erledigen. Als er fertig war, zog er wie gewohnt Hemd, Hose und Weste an und verließ das Schlafzimmer. Er hatte immer schon Anzüge getragen, genau wie sein Vater. Und auch wenn er sich nur daheim aufhielt, wäre er nie auf die Idee gekommen, die Weste wegzulassen.

Als er gerade nach unten gehen wollte, klingelte das Telefon. Zu dieser frühen Stunde war das ungewöhnlich, und sofort fürchtete er, dass etwas geschehen sein könnte.

»Georg Hansen am Apparat«, meldete er sich und hörte, dass in diesem Moment offenbar auch Bertha unten ans Telefon gegangen war. Als sie merkte, dass er in der Leitung war, hängte sie sogleich wieder ein.

»Vater, hier ist Frederike. Bitte entschuldige die frühe Störung.«

»Du störst mich nie, mein Kind, das weißt du doch. Aber ist denn etwas geschehen?«

»Ja.«

Georg hörte, dass Frederike tief durchatmete.

»Es ist wegen Auguste«, verkündete die Tochter.

Georg schlug erschrocken die Hand vor den Mund. »Ist ihr etwas passiert?«

»Passiert ist nicht der richtige Ausdruck«, stellte Frederike deutlich missmutig fest. »Auguste ist schwanger.«

»Schwanger?«, wiederholte Georg. »Ich wusste gar nicht, dass sie verlobt ist«, fügte er hinzu. Denn dass seine Enkelin still und heimlich geheiratet hatte, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.

»Ist sie auch nicht«, brachte Frederike knapp hervor.

»Oh«, machte Georg nur.

»Ja, oh. Du kannst dir vorstellen, dass wir alles andere als glücklich darüber sind. Es kommt sogar noch schlimmer.«

»Ach ja?« Georg merkte, wie aufgebracht seine Tochter war.

»Allerdings. Auguste weigert sich, uns den Namen des Kindsvaters zu nennen. Kannst du dir das vorstellen?«

Georg wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Seine Enkelin war jetzt vierundzwanzig Jahre alt, und während ihre ältere Schwester Frieda im Sommer deren Verlobten Hannes ehelichen würde und auch ihr Bruder Walter bereits fest liiert war, hatte Auguste bisher so gar keine Anstalten gemacht, sich zu binden. Dass nun ausgerechnet sie die Erste der drei Geschwister wäre, die ein Kind bekam, überraschte ihn. Auguste war die Mittlere der drei, und sie war schon immer die Wildeste, die Rebellischste gewesen. Gerade erst hatte sie ihr Studium der Ingenieurswissenschaften beendet, was ohnehin schon für einige Aufregung gesorgt hatte, weil Frederike und Julius die Tochter eigentlich auf einem anderen Weg gesehen hatten, vor allem in einem Beruf, der einer Frau mehr entsprach. Doch das war eben nicht Augustes Art. Dabei war sie rein äußerlich eine sehr aparte Person, zierlich und mit ihren langen Haaren und dem hübschen Gesicht überaus reizvoll. Sie war eine wunderschöne junge Frau, doch wenn sie den Mund aufmachte, wusste jeder sofort, dass sie sich gewiss nicht in das Bild eines angepassten Fräuleins fügte, das auf der Suche nach einem Mann war, um sich diesem zu unterwerfen. Nein, nicht Auguste. Sie war selbstständig, und für ihre zarte Figur konnte sie erstaunlich gut zupacken, wie Frederike ihm mal erzählt hatte. Georg wusste, dass Auguste während des Studiums auch immer mal wieder in der elterlichen Fabrik gearbeitet hatte, um sich ein bisschen Geld zu verdienen, obwohl das angesichts ihrer wohlsituierten Eltern eigentlich nicht nötig gewesen wäre. Aber Auguste war einfach ein sehr eigenständiger Mensch – und sie hatte einen gewaltigen Dickkopf. Doch gerade das machte sie in Georgs Augen so besonders.

»Ich verstehe«, sagte Georg.

»Und deshalb rufe ich auch an, Vater. Ich möchte dich um deine Hilfe bitten.«

»Wenn ich denn helfen kann«, sagte Georg, der bezweifelte, irgendetwas zur Klärung der Situation beitragen zu können. Die Familie seiner Tochter lebte im Schwarzwald und damit mehrere Hundert Kilometer von Hamburg entfernt. Und sosehr er seine Enkel auch liebte, glaubte er doch nicht, wirklich Einfluss auf sie zu haben.

»Julius und ich haben uns die ganze Nacht um die Ohren geschlagen, um eine Lösung zu finden. Und wir halten es für das Beste, wenn Auguste erst einmal von hier verschwindet, damit wir dann versuchen können, alles zu regeln.«

»Du willst sie hierherbringen?«

»Ja.«

»Und will sie das denn auch?« Georg konnte sich kaum vorstellen, dass Auguste freiwillig nach Hamburg ziehen würde, vor allem, weil der Vater des Ungeborenen, deren Namen die Enkelin sich zu nennen weigerte, gewiss auch im Schwarzwald lebte und die beiden dann getrennt wären.

»Ja, allerdings. Sie war ganz begeistert von der Idee.«

»Wirklich?«, fragte Georg überrascht.

»Ja«, bekräftigte Frederike. »Wenn du es genau wissen willst, hat sie gesagt: ›Opa ist wenigstens nicht so ein verkappter Spießer, und bei ihm habe ich mit Sicherheit mehr Spaß.‹« Frederikes Stimme überschlug sich fast vor Wut.

»Na dann«, gab Georg nur zurück. »Und was erwartet ihr, was ich machen soll? Ich meine, sie wird mir bestimmt auch nicht sagen wollen, wer der Vater ist.«

»Das wäre wohl auch nicht mehr von Belang. Auguste hat über ihn lediglich geäußert, dass er ein Lügner sei, es ein Fehler gewesen sei, sich auf ihn einzulassen, und sie inzwischen wisse, dass er ein Dummkopf ist. Sie will nichts mehr mit ihm zu tun haben, und an eine baldige Heirat, wie Julius und ich es ihr vorgeschlagen haben, ist überhaupt nicht zu denken. Sie hat mir ins Gesicht gelacht, Vater, als ich sagte, dass sie unbedingt heiraten müsse. Das musst du dir mal vorstellen.«

Georg hob die Augenbrauen, doch wenn er ehrlich zu sich war, passte dieses Verhalten ganz genau zu Auguste. Sie ließ sich nichts vorschreiben, von niemandem. Und irgendwie fand Georg das auch überaus reizvoll. Doch den Gedanken behielt er lieber für sich. Jetzt für die Enkelin Partei zu ergreifen, war gewiss keine gute Idee. Er kannte seine Tochter Frederike, und er wusste, wie er sie zu nehmen hatte. Sie war fast immer gut gelaunt und ein hinreißend fröhlicher Mensch. Doch wenn ihr etwas gegen den Strich ging, konnte sie stur wie hundert Ochsen sein.

»Ihr könnt jederzeit herkommen«, sagte er dann. »Obwohl ich nicht genau weiß, was du dir davon versprichst, Frederike. Ich verstehe ja, dass du nicht möchtest, dass jemand es mitbekommt und über euch spricht. Doch die Situation wird sich dadurch nicht ändern.«

»Ich weiß«, seufzte Frederike, die sich wieder etwas zu beruhigen schien. »Doch das gibt mir hier ein wenig Zeit, mir etwas einfallen zu lassen. Sie könnte in Hamburg jemanden kennengelernt und geheiratet haben, der dann ganz plötzlich verstorben ist. Irgendetwas in der Art. Ich weiß, der Plan ist noch nicht perfekt. Doch ich kann erst recht nicht klar denken, wenn Auguste hier sitzt und mich noch frech angrinst, während sich ihr Bauch zu wölben beginnt und es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis unsere Geschäftsfreunde es bemerken.« Frederike schnaufte. »Du weißt, was dann geredet wird, Vater«, flüsterte sie nun. »Und wenn dann keiner mehr mit uns Geschäfte machen und mit uns zu tun haben will, können wir die Fabrik schließen.«

»Ich glaube wirklich nicht, dass es so weit kommen würde, Frederike«, versuchte er, die Tochter zu beruhigen. »Es erscheint dir gerade nur alles noch viel schlimmer, als es in Wahrheit ist, weil du nicht geschlafen hast.«

»Ich schlafe schon seit Tagen kaum noch.« Sie atmete geräuschvoll aus. »Und das wird auch ganz sicher nicht besser, bis die Sache bereinigt ist.«

»Es wird sich alles finden, Frederike. Wann wollt ihr denn kommen?«

»Am besten gleich morgen. Ich denke, wir werden heute Nachmittag hier aufbrechen, die Nacht über fahren und morgen früh bei euch ankommen.«

»Mit dem Auto?«

»Ja, natürlich.«

»Dann bitte ich dich dringend, zuvor noch ein paar Stunden zu schlafen.«

»Julius wird ebenfalls mitkommen. Wir können uns mit dem Fahren abwechseln, wenn einer von uns zu müde wird.«

»Das gefällt mir zwar nicht, aber gut. Ich lasse Bertha dein altes Zimmer für Auguste herrichten und werde auch für euch ein Schlafzimmer vorbereiten lassen.«

»Danke, Vater. Ich bin wirklich vollkommen außer mir.«

»Ja, das höre ich. Doch bitte fahrt vorsichtig, ja. Es nützt niemandem, wenn ihr am Ende im Straßengraben landet.«

»Das machen wir. Bis morgen Vater. Und vielen Dank, dass ich immer auf dich zählen kann.«

»Das ist doch nicht der Rede wert«, sagte Georg. »Ich freue mich auf euch.« Damit hängte er ein. Kurz bedauerte er, dass er überhaupt nicht dazu gekommen war, zu erwähnen, dass Amala die Hauptrolle in dem Film bekommen hatte. Dabei wusste er, dass Amala und Frederike noch vor ein paar Tagen miteinander telefoniert hatten und Frederike sich allein über die Chance, die sich Amala womöglich bot, riesig gefreut hatte. Doch Georg wollte deshalb jetzt nicht nochmals bei Frederike durchklingeln. Das Nervenkostüm seiner Tochter schien auch so schon angegriffen genug. Abgesehen davon konnte Amala es ihrer Tante ebenso gut selbst sagen, sobald diese mit Auguste und Julius in Hamburg eintraf. Georg sah auf die Uhr. Es war erst kurz nach halb acht. Das könnte ein wirklich interessanter Tag werden.