5. Kapitel
Wien, Montag, 30. März 1925
Es vergeht nicht ein einziger Tag, an dem ich nicht glücklich bin.
Therese Hansen
Therese trällerte eine kleine Melodie, als sie ihre Haare zurechtmachte und noch einen letzten Blick in den Spiegel warf. Es war gerade neun Uhr durch, sie hatte gefrühstückt, alles wieder auf Vordermann gebracht und im Grunde noch Zeit, bevor sie sich auf den Weg zum Kaffeehaus machen musste. Doch sie hatte überhaupt keine Lust, hier herumzusitzen und Däumchen zu drehen. Also griff sie sich ihren dünnen Mantel und wollte gerade das Haus verlassen, als das Telefon läutete.
Sie ließ die bereits geöffnete Tür wieder ins Schloss fallen, eilte über den Flur und nahm den Hörer ab.
»Hier bei Hansen.«
»Therese? Hier ist Georg. Guten Morgen.«
»Georg.« Ein warmes Gefühl durchflutete sie. Wann immer sie die Stimme ihres Schwagers hörte, freute sie sich aufrichtig. Georg war ein so reizender Mensch und wunderbarer Ratgeber. Sie bedauerte sehr, dass Hamburg so weit weg war. Zu gern hätte sie mehr Zeit mit ihm verbracht. »Wie schön von dir zu hören! Geht es dir gut? Ist alles in Ordnung?«
»Ja, alles ist wunderbar, Therese. Und bei dir? Was macht das Kaffeehaus?«
»Du hast Glück, denn ich wollte gerade zur Tür hinaus und zur Arbeit gehen. Alles läuft ganz fantastisch.«
»Also halte ich dich gerade auf? Ich kann auch später noch mal anrufen.«
»Aber nein, überhaupt nicht. Du kennst mich doch. Ich bin wie immer viel zu früh dran, doch ich mag hier nicht allein herumsitzen und abwarten.«
»Ungeduldig wie eh und je.«
»Und das wird sich auch nicht mehr ändern, lieber Schwager.«
»Nun, umso schöner, dass ich dich noch erwischt habe«, meinte Georg. »Wir haben nämlich heute Morgen über dich beziehungsweise die gesamte Familie in Wien gesprochen«, erklärte er.
»Ich hoffe, nur Gutes?«
»Selbstverständlich. Weißt du, im Moment sind außer Amala und mir auch Frederike, Julius und Auguste in der Villa Hansen.«
»Wirklich? Ach, wie wunderbar. Dann hast du ja ein volles Haus.«
»Ganz genau. Und Frederike kam auf den Gedanken, euch mal wieder zu besuchen. Wenn es euch also recht ist, möchten wir gern vorschlagen, in den nächsten Wochen zu euch nach Wien zu kommen.«
Therese zog sich den kleinen Sessel heran und setzte sich. »Habe ich richtig gehört? Das ist ja eine ganz wunderbare Nachricht, mein lieber Georg! Ich freue mich ja so!« Tatsächlich durchströmte sie ein Glücksgefühl. Wie schön wäre es, die Familie endlich einmal wieder zu Besuch zu haben.
»Ja, wir uns auch. So können wir uns alle wiedersehen, und ihr lernt endlich auch Amala kennen.«
»Ich kann dir kaum sagen, wie sehr ich mich freue, Georg. Und wisst ihr auch schon wann?«
»Nein, ich wollte erst mit dir sprechen. Es hätte ja auch sein können, dass es nicht passt.«
»Es passt immer!«, bekräftigte Therese. »Ich werde die Zimmer herrichten, und ihr alle werdet hier bei mir schlafen.« Therese lachte glockenklar auf. »Ach, das wird herrlich! Und versprich mir, dass wir beide uns einen Abend nehmen, an dem wir uns mit einer Decke nach draußen setzen und die ganze Nacht lang plaudern, ja? Weißt du noch?« So schwer die Zeit damals für sie gewesen war, nachdem ihr erster Mann Karl gestorben war und Georg vorübergehend das Kontor weitergeführt hatte, so gern erinnerte sie sich doch an die Abende, die sie miteinander verbracht und während derer sie über Gott und die Welt geplaudert hatten.
»Wie könnte ich das je vergessen?«
Therese glaubte, Georg mit einem Lächeln auf den Lippen vor sich zu sehen.
»Besorgst du wieder diesen schweren Rotwein, den wir damals so genossen haben?«, fragte Georg.
»Ich weiß genau, welchen du meinst«, gab Therese lachend zurück. »Es werden genug Flaschen im Haus sein. Du musst nur noch herkommen.«
»Wunderbar! Wirklich Therese, ich freue mich.«
»Und ich mich erst, Georg.«
»Ich würde dir gern nur eines vorab sagen«, kündigte Georg an und senkte merklich die Stimme.
»Ja?«
»Frederikes Tochter Auguste, sie ist schwanger. Man sieht es noch nicht, doch wenn wir kommen, könnte das bereits anders sein.«
»Aha«, sagte Therese nur und versuchte sich kurz zu erinnern, ob Auguste die ältere oder die jüngere von Frederikes Töchtern war. Sie meinte, die jüngere, doch sicher war sie nicht. Die ältere wollte dieses Jahr im Sommer heiraten. Aber nein, Frieda war die ältere. Und die jüngere war unverheiratet und, soweit Therese wusste, nicht einmal verlobt. In diesem Moment ahnte sie, weshalb der Schwager seine Stimme gesenkt hatte.
»Für Auguste ist das alles nicht einfach, und ich möchte nicht, dass sie durch eine unbedachte Bemerkung verletzt wird. Deshalb sage ich es.«
»Ich verstehe. Sie ist unverheiratet, richtig?«
»Ja, genau. Und sie möchte den Kindsvater auch nicht ehelichen.«
»Ich verstehe«, wiederholte Therese. »Vielen Dank, dass du es mir so offen gesagt hast. So laufe ich nicht Gefahr, in ein Fettnäpfchen zu treten. Und wann denkst du, könnt ihr kommen?«
»Wie gesagt, ich wollte dich überhaupt erst einmal fragen. Da ich nun weiß, dass es dir recht wäre, werde ich es in der Familie besprechen. Wir müssen hier natürlich erst alle Vorbereitungen treffen. Es ist gar nicht so leicht, alle unter einen Hut zu bekommen. Ich melde mich wieder, wenn ich dir einen konkreten Termin nennen kann, in Ordnung?«
»Sehr gut, mach das. Ich freue mich von Herzen, Georg.«
»Ich mich auch, Therese. Ich kann es kaum abwarten. Und nun will ich dich aber nicht länger aufhalten.«
»Von dir lasse ich mich gern aufhalten, das weißt du doch. Mach’s gut, Georg und gib mir Bescheid, sobald du etwas Neues weißt. Ich werde jetzt wahrscheinlich den ganzen Tag lächeln, ganz gleich, was passiert.«
»Wie nannte Karl dich immer? Seinen Sonnenschein, nicht wahr? Das bist du wirklich bis heute geblieben. Auf Wiederhören, Therese!«
»Auf Wiederhören, Georg.« Therese hängte ein, ließ ihre Hand aber noch einen Augenblick auf dem Hörer ruhen. Die Familie würde herkommen. Es war fast zu schön, um wahr zu sein. Sie überlegte, wie lange es her war, dass sie Georg zuletzt gesehen hatte. War es vor zwei oder drei Jahren gewesen, als Therese nach Hamburg gereist war, um dort mit Georg, der über die Feiertage auch Frederike und deren Familie zu Besuch hatte, das Weihnachtsfest zu verbringen? Sie rechnete nach. Ihre Enkelin Johanna, die älteste Tochter ihres Sohnes Franz und seiner Frau Emma, war damals noch nicht geboren gewesen. Es musste also bereits vier Jahre her sein, da Johanna dieses Jahr ihren dritten Geburtstag feierte. Wie die Zeit doch verging!
Therese erhob sich aus dem Sessel, nahm wieder ihren Mantel, prüfte, ob sie ihren Schlüssel bei sich trug und verließ dann das Haus. Sie überlegte kurz, ob sie noch etwas zu besorgen hatte, doch das war nicht der Fall. Alles, was sie für ihre Torten benötigte, war bereits eingekauft und wartete in der Küche des Kaffeehauses nur darauf, von ihr verarbeitet zu werden. Und auch die Zutaten für die deftigen Speisen, die sie zum Mittagstisch im Kaffeehaus bot, waren reichlich vorhanden. Sie hatte also nichts weiter zu tun, als zum Kaffeehaus zu gehen und mit dem Arbeiten zu beginnen. Sie war dankbar zu spüren, wie viel Freude ihr dies bereitete.
Sie war im letzten Jahr sechzig Jahre alt geworden. Sechzig! Eine Zahl, die ihr zunächst gewaltigen Respekt abverlangt hatte. Doch inzwischen, über ein halbes Jahr später und mit den Veränderungen, die sich seitdem ereignet hatten, machte ihr diese Zahl nicht mehr das Geringste aus. Sie war sechzig, ja. Doch sie war auch fröhlicher, sogar glücklicher denn je und so erfüllt von dem Leben, das sie führen durfte, dass sie nichts als tiefe Dankbarkeit dafür empfand. Es war die richtige Entscheidung gewesen, das Kaffeehaus wieder selbst zu übernehmen. Inzwischen hatte sie erkannt, dass sie es nie hätte abgeben dürfen. Hatte sie sich doch damit selbst wie auch ihren Sohn Franz, dem sie die Geschäftsführung übertragen hatte, in eine Situation gebracht hatte, die im Grunde keiner von beiden wollte. Doch es war so selbstverständlich, das an die Kinder weiterzugeben, was man aufgebaut hatte, dass Therese nach Franz’ Rückkehr aus dem Krieg gar nicht weiter darüber nachgedacht hatte. Die Alten machten Platz für die Jungen. Das war ein ungeschriebenes Gesetz. Doch letztendlich war Franz in eine Rolle gedrängt worden, die er nicht ausfüllen wollte, und sie selbst hatte etwas abgegeben, was sie im Grunde nicht hergeben wollte. Nur hatten sie, bis Franz in Erwägung gezogen hatte, das Kaffeehaus zu schließen, weil dieses nicht mehr genug abwarf, nie wirklich darüber gesprochen. Als Franz ihr das offenbart hatte, war Therese geradezu fassungslos gewesen, doch nun war es für sie nichts anderes als reines Glück, wieder selbst die Zügel in der Hand zu halten und das zu tun, was sie immer geliebt hatte: Gäste zu empfangen, mit diesen zu plaudern und sie mit ihren wunderbaren Torten zu verwöhnen. Ja, das machte sie einfach glücklich. Und auch Franz schien in der Loising Eisenwarenfabrik, die sich schon seit Generationen im Besitz ihrer Familie befand und von ihrem Vater auf ihren Bruder übertragen worden war, sein Glück wiederzufinden, machte er sich doch gut, wie ihr Bruder Florentinus ihr bestätigte. Doch irgendwie hatte Therese das Gefühl, als hätte ihr Bruder gewisse Zweifel, ob Franz die Fabrik wirklich eines Tages allein würde leiten können. Florentinus hatte es ihr gegenüber nicht so direkt gesagt, sondern nur verlauten lassen, dass Franz noch einige Jahre der Entwicklung brauchte, um die Firma weiter und damit in die Zukunft zu führen. Und wenn sie ehrlich war, zweifelte sie ebenso. Denn es gab Momente, da war Franz so in Gedanken versunken, dass er kaum noch etwas um sich herum mitzubekommen schien. Therese wusste nicht genau, was der Grund dafür war, doch sie vermutete einen Zusammenhang mit dem, was er im Krieg erlebt hatte, denn Emma, Franz’ Frau, hatte Therese anvertraut, dass Franz des Öfteren nachts schweißgebadet aufschreckte und dann eine Weile brauchte, bis er wieder zur Ruhe fand. Und manchmal war Franz am Tag so geistesabwesend, dass er alles um sich herum zu vergessen schien. Vor einigen Monaten hatte es dann einen Vorfall gegeben, bei dem Franz über Stunden fort war und seine Frau Emma sich völlig aufgelöst bei Therese gemeldet und gefragt hatte, ob ihr Mann sich bei ihr aufhalten würde. In Sorge hatte Therese sich auf die Suche nach dem Sohn gemacht und auch Florentinus Bescheid gegeben, damit er sich beteiligte. Sie hatten Franz schließlich im Park auf einer Bank sitzend vorgefunden und er schien geradezu weggetreten zu sein, denn als Therese den Sohn angesprochen hatte, war er erschrocken zurückgewichen. Er musste Stunden dort verweilt haben und hatte nicht einmal mitbekommen, dass es dunkel geworden war. Eine Erklärung konnte er der Mutter und dem Onkel nicht liefern. Er hatte nur gestammelt, wohl die Zeit vergessen zu haben.
Therese wusste nicht recht, wie sie damit umgehen sollte. Ob es womöglich ratsam für Franz wäre, einen Nervenarzt aufzusuchen? Sie verstand nicht recht, was mit ihm los war, vor allem aber wunderte sie, dass er nicht rundum glücklich zu sein schien. Schließlich hatte er mit Emma eine ganz wunderbare Frau gefunden und war inzwischen Vater zweier hinreißender Mädchen. Johanna wurde dieses Jahr drei und Hermine würde im Sommer ihren ersten Geburtstag feiern können. Alles war also in bester Ordnung, doch Franz schien eine wie auch immer geartete Last mit sich zu schleppen, die ihm das Leben schwer machte.
Therese ging den Weg an der Wien entlang und atmete tief die Frühlingsluft ein. Wenn sie doch nur ihrem Sohn vom Gefühl des Lebensglücks etwas abgeben könnte. Sie verstand ja, dass ihrem Sohn die Erinnerungen an die schweren Jahre des Krieges zusetzten. Doch es nützte ja nichts, sich diese wieder und wieder ins Gedächtnis zu rufen und aus der Endlosschleife aus Leid und Trauer nicht herauszukommen. Auch sie hatte Zeiten der Verzweiflung erlebt, damals, nach Karls Tod oder auch nach Roberts. Gewiss war dies nicht mit den Schrecken des Krieges zu vergleichen. Das verstand sie ja. Aber letztendlich musste doch ein jeder Mensch sein Schicksal meistern. Ihre Großmutter hatte immer zu sagen gepflegt, dass der Herrgott einem Menschen nur so viel aufbürdete, wie er auch tragen konnte. Und dieser Gedanke hatte Therese durch manche dunkle Stunde geholfen. Auf ihren Sohn bezogen jedoch bezweifelte Therese manchmal, dass es wirklich stimmte und hatte das Gefühl, dass das, was der Herrgott ihm an Last gegeben hatte, Franz in die Knie zwang. Und das machte ihr Angst.
»Therese! Therese!«, hörte sie nun jemanden ihren Namen rufen und drehte sich um.
»Tino! Was machst du denn um diese Uhrzeit hier?« Ihr Bruder wohnte nicht weit von hier entfernt, doch eigentlich war er um diese Zeit bereits seit Stunden in der Eisenwarenfabrik.
»Ich hatte diese Unterlagen hier zu Hause vergessen«, er hob die Mappe in seiner Hand hoch, »und wollte sie noch rasch holen«, erklärte der Bruder, während er auf sie zukam und ihr einen Kuss auf die Wange gab. »Und du? Bist du auf dem Weg zum Kaffeehaus?«
»Ganz genau. Aber weißt du, wer mich gerade angerufen hat, bevor ich loswollte?« Sie strahlte ihn an. »Georg!«, platzte es aus ihr heraus, ohne dass sie seine Antwort abwartete. »Er hat mir gesagt, dass die Familie uns besuchen kommen will. Ist das nicht wunderbar?«
»Wirklich? Wann denn?« Die Freude stand Florentinus ins Gesicht geschrieben. Therese wusste, dass ihr Bruder und ihr Schwager sich auch immer sehr gut verstanden hatten und dass Florentinus’ Freude echt war.
»Das weiß ich noch nicht. Ein wenig wird es wohl noch dauern. Georg sagte, dass es Frederikes Idee gewesen sei, und er wollte erst einmal nachfragen, ob es uns auch recht ist.«
»Als ob es je einen Grund geben könnte, dass es bei uns hier nicht passt«, sagte Florentinus mit gespielter Entrüstung.
»Dann lernen wir auch endlich Amala kennen«, frohlockte Therese. »Ich bin ja so gespannt auf Luises Tochter. Ein Jammer, dass Robert das nicht mehr erleben darf.«
Florentinus sah sie an. »Ja, ein Jammer.« Er berührte die Schwester kurz an der Schulter.
Therese spürte, dass kurz die Trauer in ihr aufstieg, und schüttelte rasch den Kopf. »Aber wir wollen nicht traurig sein, dass wir Robert nicht mehr haben, sondern uns auf die Familie freuen«, betonte sie, als wollte sie sich selbst davon überzeugen.
»Gib mir Bescheid, wenn du Näheres weißt, ja? Hoffentlich ist dann auch Katharine da. Bestimmt würden Amala und sie sich gut verstehen.«
»Ja, richtig«, sagte Therese und wunderte sich über sich selbst, dass sie bisher gar nicht über die offensichtliche Verbindung der Frauen nachgedacht hatte. Schließlich war ihre Schwägerin ebenfalls Künstlerin und als Sängerin so begehrt, dass sie viele Monate im Jahr auf Tournee war und sich seltener zu Hause aufhielt als in Hotels. »Die beiden würden sich bestimmt wunderbar verstehen.«
»Allerdings. Doch Katharine ist noch bis Ende Mai unterwegs. Wenn die Familie vorher kommt, wird es wohl mit einem Kennenlernen nichts werden.«
»Das wäre wirklich schade«, stellte Therese mit Bedauern fest. »Aber wir warten es erst mal ab. Vielleicht klappt es ja doch. Und wenn nicht, wird sich eine andere Gelegenheit finden.«
»Ja, ganz bestimmt.« Florentinus sah auf die Uhr. »So Schwesterherz, ich muss mich beeilen. Sonst findet die Konferenz, für die ich die Unterlagen brauche, ohne mich statt.«
Therese hob sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Mach’s gut, Tino. Und grüß mir den Franz.« Sie hielt ihren Bruder noch kurz zurück. »Ist denn alles in Ordnung bei ihm?«
»Aber sicher, weshalb denn auch nicht?«, fragte Florentinus zurück. »Mach’s gut, und melde dich, sobald du etwas aus Hamburg hörst.« Er wandte sich bereits zum Gehen, hielt aber noch mal kurz inne. »Und richte Georg bitte herzliche Grüße von mir aus, und sag ihm, dass ich mich auf ihn freue. Das Schachbrett steht bereit.«
»Das mache ich«, versprach Therese lachend und sah ihrem Bruder noch kurz nach, der ihr zum Abschied zuwinkte und dann in die entgegengesetzte Richtung mit der Mappe unter dem Arm davoneilte.
Sie lächelte bei dem Gedanken, dass sie Georg sagen würde, er müsste länger bleiben, damit alle hier, die ihn so sehr mochten und schätzten, auch wirklich Zeit mit ihm verbringen konnten. Und sie würde auf jeden Fall auch Helene Bescheid geben, damit alle zusammentrafen und sie einige gemeinsame Unternehmungen ins Auge fassen könnten.
Therese schlenderte weiter und wäre fast am Kaffeehaus vorbeigegangen, so sehr war sie in Gedanken. Sie blieb stehen und nahm sich kurz Zeit, um an der Fassade hinaufzusehen und den Anblick ein wenig auf sich wirken zu lassen. Sie hatte das Gebäude damals gekauft, als das Kaffeehaus seine Blütezeit erlebt hatte, und auch das Nachbargebäude erworben, wo dann ein Durchbruch gemacht und der Raum für die Gäste erweitert worden war. Damals hatte ihr Karl noch gelebt, und sie erinnerte sich, wie sie alles zusammen mit Freunden tapeziert und gestrichen hatten, die Einrichtung zusammengestellt und sie selbst die Dekoration vorgenommen hatte. Seither war natürlich einige Male dort drinnen renoviert worden. Nicht mehr von ihr selbst, sondern von Firmen, die sie beauftragt und dafür bezahlt hatte. Sie hatte damals das Gefühl gehabt, dankbar dafür sein zu können, sich den Luxus, diese Arbeiten von Fachleuten ausführen zu lassen, leisten zu können. Nun jedoch erinnerte sie vor allem, wie erschöpft, aber auch überglücklich sie damals gewesen war, als sie alles noch selbst gemacht hatte und abends, wenn sie einschlief, stets das Gefühl gehabt hatte, etwas Besonderes geleistet zu haben. Sie und Karl waren so jung gewesen und voller Tatendrang. Einfach alles hatten sie vor sich gehabt. Therese lächelte bei der Erinnerung, dann schloss sie die Tür auf und trat ein. Das Leben wandelte sich. Doch sie würde deshalb jeden Augenblick nur noch mehr genießen. Denn niemand wusste, wann es dafür zu spät war.