6. Kapitel

Die Entscheidung, die ich heute treffe, ist für die Zukunft meiner Firma ausschlaggebend.

Florentinus Loising

Über die kurze Begegnung mit seiner Schwester hatte Florentinus sich gefreut. Therese war einfach ein wunderbarer Mensch, der einem ein gutes Gefühl gab, ganz gleich, welche Sorgen einen beschäftigten.

Er beeilte sich, um noch rechtzeitig zu der Konferenz zu kommen, und nahm immer zwei Stufen auf einmal. So war er ein wenig außer Atem, als er den Raum erreichte, dessen einzige Einrichtung aus einem langen Tisch bestand, an dem bis zu vierundzwanzig Leute Platz fanden.

Der Termin heute war wichtig, denn es ging um den Abschluss eines Geschäfts, auf das Florentinus schon lange hingearbeitet hatte. Das Schienenwerk in ganz Österreich sollte weiter ausgebaut werden, wofür sowohl Gleise gefertigt werden mussten als auch die benötigten Metallteile für die Elektrifizierung der Eisenbahn zu liefern waren. Es wäre ein Millionenauftrag, der einerseits große Umsätze generierte, andererseits aber auch ein gewisses Risiko bedeutete, denn auch die Produktionskosten würden immens sein. Müsste die Eisenwarenfabrik dafür doch einen ganzen Schwung neuer Arbeitskräfte einstellen und große Mengen an Roheisen zur Weiterverarbeitung einkaufen. Über die entsprechenden Hochöfen, die auf über eintausendfünfhundert Grad Celsius erhitzt wurden, verfügte die Fabrik bereits. Auch um die bisherige Produktion am Laufen zu halten und die bereits geschlossenen Verträge erfüllen zu können, musste Florentinus investieren. Zudem hatte er vor nicht allzu langer Zeit ohnehin schon einiges an Geld in die Hand genommen, um das benachbarte Grundstück samt Fabrik darauf zu kaufen, weil er nicht wollte, dass es ein anderer tat. Die Investition hatte sich als lohnend erwiesen, denn er hatte in der Folge weitere Großabnehmer für seine Eisenwaren anwerben und so seine Umsätze noch einmal erhöhen können. Aber der Bau der weiteren Halle, die nun quasi zwischen den beiden Grundstücken stand, hatte eine gehörige Summe verschlungen, und Florentinus fragte sich, ob es klug war, immer noch weiter zu expandieren. Er wollte keinesfalls riskieren, irgendwann den Überblick zu verlieren. Andererseits hatte er, nachdem die Nachfolge durch seinen Neffen geklärt zu sein schien, einen gewissen Schub erlebt und wieder mehr Schwung verspürt, da er wusste, dass die Fabrik auch nach ihm noch weitergeführt werden würde und nicht alles verkauft werden musste, was schon sein Urgroßvater, dann sein Großvater, Vater und nun er aufgebaut hatten. Hätte er ein anderes Leben geführt und wäre selbst Vater geworden, wäre es einfacher für ihn gewesen. Doch er hatte damals, als er noch jung genug gewesen war, nicht gedacht, dass er überhaupt jemals eine Frau lieben und mit ihr Kinder bekommen könnte. Damals war er hin- und hergerissen zwischen dem, was in ihm war, und dem, was er nach außen darzustellen hatte. Erst als er Katharine kennengelernt hatte, hatte er festgestellt, dass es ihm möglich war, genau wie jeder andere Mann mit einer Frau zusammen zu sein. Und es war auch alles gut geworden, sie hatten sich ein schönes, gemeinsames Leben aufgebaut. Doch Katharine war in all den Jahren nicht schwanger geworden. Einige Male hatten die beiden darüber gesprochen, aber auch für seine Ehefrau schien es kein wirkliches Problem darzustellen, keine Kinder zu bekommen. Ihr Leben war die Bühne, und das galt bis heute. Einzig während des Krieges hatte sie kaum Engagements gehabt. Doch sowohl davor als auch danach war sie mehrfach um die ganze Welt gereist und hatte überall Auftritte gehabt, während Florentinus in Wien geblieben und seinen Geschäften nachgegangen war. Und immer nur dann, wenn Katharine wieder einmal für eine längere Zeit daheim gewesen war, hatten sie kurz das Thema Kinder angesprochen. Doch tatsächlich nicht sehr ausführlich. Auch wenn sie es nie so deutlich gesagt hatte, so glaubte Florentinus, dass seine Frau es womöglich für besser hielt, nie schwanger geworden zu sein, da sie dann in ihrem Beruf, der ihr so viel bedeutete, hätte zurückstecken müssen. Wahrscheinlich war es besser, dass sie kinderlos geblieben waren, wenngleich Florentinus gern Vater geworden wäre, und das beileibe nicht nur, um einen Erben zu haben. Er hatte ja Helene und Franz, die Kinder seiner Schwester, aufwachsen sehen. Therese hatte es gewiss nicht immer einfach mit ihnen gehabt. Doch wenn Florentinus so zurückdachte, war es letztendlich eine reine Freude gewesen, den Kindern beim Größerwerden zuzusehen, dabei zu sein, wie sie alles lernten, vor allem aber, wie sie die Welt wahrnahmen. Florentinus hatte sich tatsächlich Zeit in der Fabrik freigeschaufelt, um zumindest gelegentlich mit der Familie seiner Schwester zusammen sein zu können. Als die Kinder klein gewesen waren, hatte er ja auch noch seinen Vater bei sich wohnen gehabt und für eine Weile ebenso Katharines Vater, bis dieser nach langer Krankheit genau am Neujahrstag 1900 verstarb. Sein eigener Vater Friedrich war vor zehn Jahren friedlich eingeschlafen. Er hatte durch die zwei Schlaganfälle, die er mit Mitte fünfzig gehabt hatte, einen Teil seiner Beweglichkeit einbüßen müssen. Doch sein Geist war bis zum letzten Tag klar geblieben, und Florentinus war dankbar für die Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten. Er hatte sich zwar sowohl um seinen Vater und damit die ältere Generation als auch um die Familie seiner Schwester gekümmert. Doch Katharine und er hatten nur sich, und so gut sie sich auch verstanden, hatte er eben das Gefühl, dass sie ein Ehepaar waren, aber keine Familie. Er verscheuchte all diese Gedanken, denn nun musste er sich auf die bevorstehenden Verhandlungen konzentrieren.

Bevor er den Konferenzraum betrat, atmete er einmal tief durch, um nicht allzu gehetzt zu wirken. Er wollte diesen Auftrag bekommen, aber nicht um jeden Preis. Es galt sehr genau abzuwägen und womöglich auch abzulehnen, sollte er Bedenken hegen, sich mit dem Geschäft zu übernehmen und damit womöglich den gesamten Betrieb zu gefährden.

Es hatten sich bereits alle anderen im Konferenzzimmer versammelt und warteten nur auf sein Erscheinen, als Florentinus den Raum betrat. Sofort waren die Blicke der sieben Anwesenden auf ihn gerichtet. Der Stuhl am Kopfende des Tisches war für Florentinus frei gehalten. Rechts neben dem freien Platz saß Franz, sein Neffe, der ihm kurz zunickte, als er hereinkam.

»Guten Morgen, meine Herren«, grüßte Florentinus und hielt dann die Mappe hoch. »Bitte verzeihen Sie meine Verspätung. Ich musste das hier erst noch holen.«

Die Anwesenden erwiderten seinen Gruß, dann setzte sich Florentinus und legte die Mappe vor sich auf den Tisch.

»Zunächst möchte ich Ihnen danken, dass Sie sich heute hier eingefunden haben«, sagte er zu den Vertretern der Eisenbahngesellschaft, von denen er nur Josef Kämmerer und Friedrich Pichler kannte. Die anderen drei Männer hatte er noch nie gesehen. Neben seinem Neffen Franz Hansen saß Luitpold Steiner, sein Vorarbeiter, der sich bestens mit den aktuellen Rohstoffpreisen auskannte und auch wusste, wie hoch der Aufwand war, die vorhandenen Maschinen so anzupassen, dass sie für die Fertigung der Metallteile zur Elektrifizierung geeignet sein würden.

»Ich bin Florentinus Loising, der Inhaber dieser Fabrik. Hier zu meiner Rechten sitzt mein Neffe Franz Hansen, der eines Tages meine Nachfolge antreten wird, und neben ihm Luitpold Steiner, mein Vorarbeiter«, stellte er vor.

Friedrich Pichler räusperte sich. »Meinen Kollegen Josef Kämmerer kennen Sie ja bereits, Herr Loising. Wir sind sozusagen die Schienenmänner«, scherzte er. »Und für die Metallteile im Bereich Elektrik haben wir hier Arthur Eder, Norbert Leitner und Wolfgang Schneider.«

Die drei nickten Florentinus jeweils zu, als ihre Namen genannt wurden, was Florentinus erwiderte. Er schätzte Arthur Eder etwa im Alter von Pichler und Kämmerer, Ende fünfzig, Anfang sechzig. Leitner und Schneider waren jünger, eher Anfang vierzig. Leitner hatte volles dunkles Haar und trug eine Brille mit recht auffälligem Horngestell, während Schneider ihn mit seinen blonden, kurz geschnittenen Haaren ein wenig an seinen verstorbenen Schwager Robert erinnerte.

»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, meine Herren«, sagte Florentinus.

»Ich muss schon sagen, Herr Loising, seit meinem letzten Besuch hat sich Ihre Fabrik noch mal entwickelt. Wie ich gesehen habe, ist auf der Westseite eine weitere Halle errichtet worden«, stellte Pichler fest.

»Sie sind ein aufmerksamer Beobachter«, lobte Florentinus. »Wir haben das Grundstück neben unserer Fabrik erwerben können und uns erweitert.«

»Ich weiß gar nicht, was dort vorher war«, bemerkte Kämmerer. »Dabei war ich doch nun schon einige Male hier.«

»Dort stand eine Stofffabrik«, erklärte Florentinus. »Der Inhaber war ein Herr Müller, der die Fabrik in zweiter Generation führte. Doch sein Sohn ist im Krieg gefallen, und so hatte er niemanden mehr, an den er übergeben konnte. Deshalb hat er mir das Grundstück mit dem Gebäude darauf zum Kauf angeboten.«

»Ach«, sagte Pichler, stand auf und trat ans Fenster. Florentinus erhob sich ebenfalls und stellte sich neben ihn, worauf sich auch alle anderen erhoben und sich hinzugesellten.

»Dort hinten«, erklärte Florentinus, »ist die frühere Stofffabrik. Wie Sie sehen, haben wir zwischen den früher getrennten Grundstücken eine Halle errichtet, in der wir nun die Möglichkeit haben, bereits gefertigte Teile in größeren Mengen bis zu deren Weitertransport zu lagern. Wir haben sozusagen bei uns aufgeräumt«, scherzte Florentinus und deutete dann mit dem ausgestreckten Finger auf das Gelände. »Erkennen Sie die Schienen? Wir haben uns unser Wissen zunutze gemacht und transportieren die schweren Metalle über Schienen, die direkt in die Lagerhalle führen. Im nächsten Schritt werden wir die alte Stofffabrik umbauen und mit Maschinen neu bestücken und dann die Schienen auch bis dorthin legen lassen, sodass wir alle Produktions- und Lagerstätten miteinander verbinden.«

»So etwas habe ich auf diese Art noch nie gesehen«, staunte Pichler.

»Man muss nur wissen wie«, erwiderte Florentinus. »Und wenn ich Ihre Aufmerksamkeit auf den Bereich dort lenken darf«, wieder deutete er mit dem Finger, »werden Sie erkennen, dass wir unsererseits die Elektrifizierung bereits fertiggestellt haben. Es funktioniert einwandfrei.«

»Wirklich erstaunlich«, meinte nun Kämmerer anerkennend. »Sie lassen uns in der Entwicklung ganz schön blass aussehen, Herr Loising.«

»Ach, woher denn. Es bot sich ja geradezu an.« Kurz verharrten noch alle dort am Fenster, um die Innovationen zu bewundern, dann kehrte Florentinus als Erster zurück an den Tisch, worauf auch alle anderen wieder Platz nahmen.

»Wie ich sehe, wurden Sie bereits mit Kaffee versorgt«, stellte Florentinus fest. »Sollte jemand von Ihnen etwas anderes wünschen, lassen Sie es mich bitte wissen.«

Die Anwesenden schüttelten die Köpfe, worauf Florentinus seine Mappe aufschlug und Pichler und Kämmerer ansah. »Also, meine Herren, fangen wir an.«

»Ja, kommen wir zur Sache«, stimmte Pichler zu und schlug ebenfalls seine Unterlagen auf. »Wie wir uns vorhin überzeugen konnten, wissen Sie ja sehr genau, welche Vorteile der Ausbau des Schienensystems und die Elektrifizierung mit sich bringen«, begann er nun, zog eine Rolle hervor und breitete die Pläne auf dem Tisch aus. »Wenn Sie erlauben«, sagte er an Franz gewandt, nahm dessen Tasse und stellte sie auf die eine Seite, danach beschwerte er das andere Ende mit seiner eigenen Tasse, sodass die Pläne nun einsehbar waren. »Wie Sie sehen, betreffen die nächsten Maßnahmen die Arlbergbahn in den Abschnitten Landeck–St. Anton am Arlberg und Langen am Arlberg–Bludenz. Hier haben wir mit den Maßnahmen bereits begonnen und erwarten die Fertigstellung noch in diesem Jahr. Danach wird dann die Bahnstrecke Lindau–Bludenz im Abschnitt Bludenz–Feldkirch und danach die Bahnstrecke Feldkirch–Buchs bis hin zur Staatsgrenze folgen. Dieser Bereich soll bereits im kommenden Jahr fertiggestellt werden. Im darauffolgenden Jahr«, er fuhr mit dem Finger über die eingezeichneten Linien, »geht es weiter auf der Bahnstrecke Lindau–Bludenz im Abschnitt Feldkirch–Bregenz und noch im selben Jahr auf der Nordtiroler Bahnstrecke in den Abschnitten Innsbruck Hauptbahnhof«, er tippte auf das dort eingezeichnete Gebäude, »bis Hall in Tirol und von dort aus über Wörgl Hauptbahnhof bis Kufstein und von dort bis nach Rosenheim.«

»Das alles im Verlauf von nur drei Jahren?«, fragte Florentinus nach.

»Genau genommen, nicht einmal das. Denn das Jahr 1925 ist ja bereits in vollem Gang«, erwiderte Pichler. »Wir reden hier tatsächlich von einer Fertigstellung bis Ende des Jahres 1927.«

»Und ich dachte immer, ich wäre ehrgeizig«, sagte Florentinus in beifälligem Tonfall und blickte dann zu Franz, der den Ausführungen Pichlers aufmerksam gefolgt war.

»Darf ich eine Frage stellen?« Franz sah kurz zu Florentinus.

»Selbstverständlich. Du wirst derjenige sein, der dieses Unternehmen in die Zukunft führt«, antwortete Florentinus, ärgerte sich aber kurz über Franz. Sein Neffe musste dringend damit aufhören, für alles, was er vorhatte, um Erlaubnis zu bitten oder sich übereilig zu entschuldigen, wenn er mal etwas nicht verstand.

Franz nickte dem Onkel kurz zu. Ob der Neffe seinen Gedanken wohl erspürt hatte? Seinem Blick meinte Florentinus zu entnehmen, dass dem so war.

»Ich habe mich vor unserem Termin erkundigt«, begann Franz nun. »Die von Ihnen soeben erwähnten Bahnstrecken sind doch, zumindest zum Teil, bereits vorhanden. Inwieweit ist dann überhaupt unsere Zulieferung von Eisenbahnschienen notwendig?«

»Das ist vollkommen richtig. Jedoch muss ein Teil der Schienen ersetzt werden, und die Elektrifizierung kann dann in diesen Bereichen im gleichen Arbeitsschritt erfolgen. Zwei Fliegen mit einer Klappe«, erklärte Pichler.

»Ich verstehe«, sagte Franz. »Danke.«

Pichler sah wieder auf die Karte. »Im Frühjahr 1928 soll dann der Abschnitt Saalfelden bis Wörgl Hauptbahnhof fertiggestellt werden und im Herbst des gleichen Jahres die Brennerbahn von Innsbruck Hauptbahnhof bis Brennersee.« Wieder fuhr er mit dem Finger die Strecke auf dem Plan entlang. »Im Jahr 1929 dann der Anschluss Salzburg Hauptbahnhof bis Schwarzach–St. Veit und im Folgejahr Schwarzach–St. Veit bis Saalfelden.« Er blickte auf. »So, damit sind die nächsten fünf Jahre skizziert, und danach geht es weiter. Doch heute soll es hier um die Belieferung für diesen Zeitraum gehen. Wenn es für beide Seiten zufriedenstellend läuft, wovon wir ja alle ausgehen, kann selbstverständlich schon nach der Hälfte der Zeit über einen Neuabschluss und weitergehende Geschäfte entschieden werden.« Pichler sah Florentinus an.

»Ich hatte bisher gemeint, dass wir nur über eine bestimmte Menge an Bahnschienen und die notwendigen Materialien für die Metallgestänge der Oberleitungen sprechen.«

»Ja, so war es auch anfangs gedacht. Doch wenn ich so offen sein darf, Herr Loising, haben Herr Kämmerer und ich während der bisherigen Verhandlungen den Eindruck gewonnen, dass Sie in Bezug auf das Projekt«, er suchte nach den richtigen Worten, »eine gewisse Zurückhaltung an den Tag gelegt haben.«

»Sie sind ein guter Beobachter«, räumte Florentinus ein. »Tatsächlich spricht für mich«, er sah Franz an, »für uns«, korrigierte er sich, »fast ebenso viel gegen wie für das Projekt.«

»Darf ich fragen, was Ihre Vorbehalte sind?« Josef Kämmerer sah Florentinus an.

»Mein Neffe und ich haben die Sache mit meinem Vorarbeiter Luitpold Steiner besprochen«, erklärte Florentinus. »Lui, möchtest du vielleicht die Bedenken, die du hast, hierzu ausführen?«, bat Florentinus diesen nun.

»Gern«, antwortete sein Vorarbeiter und brachte sich zum ersten Mal selbst in die Diskussion ein. Zuvor hatte er nur schweigend dagesessen und zugehört. Florentinus schätzte diese zurückhaltende Art an ihm, wusste er doch sehr genau, dass Steiner kein großer Unterhalter war und sicher nicht redete, nur um des Redens willen. Er ergriff nur dann das Wort, wenn er wirklich etwas zu sagen hatte, statt wie andere in gefälliges Geschwafel zu verfallen.

»Meine größten Bedenken gegen dieses Geschäft, die ich Herrn Loising auch mitgeteilt habe, liegen im Aufwand für den Umbau der Maschinen«, führte Steiner aus. »Die Bahnschienen sind nicht das Problem. Mir geht es um die Herstellung der Einzelteile für die Metallschienen der Oberleitungen. Wenn ich richtig informiert bin, bedarf es zwölf unterschiedlich großer und auch in der Form angepasster Stücke, um die Metallstangen miteinander zu verbinden. Zwar braucht es jeweils auf einer Gesamtstrecke mehrere Tausend Einzelteile. Doch für eine dauerhafte Produktion sind es dennoch viele unterschiedliche Teile in relativ kleiner Fertigungsmenge. Anders als beispielsweise bei Schrauben, Muttern oder Werkzeugen könnten diese Teile jedoch nur für diesen speziellen Zweck verwendet werden und ein Weiterverkauf ist bei einer möglichen Bauunterbrechung so gut wie ausgeschlossen.«

»Sie haben Angst, zu produzieren und auf den Stücken sitzen zu bleiben?«, fasste Kämmerer die Bedenken Steiners zusammen. Dieser nickte nur als Antwort.

»Wenn ich darauf eingehen darf?«, bat Norbert Leitner nun.

»Bitte, Herr Kollege«, sagte Kämmerer.

»Die Umrüstung des bisherigen Schienenverkehrs auf eine volle Elektrizitätsnutzung wird weder in fünf noch in zehn, ja noch nicht mal in zwanzig Jahren abgeschlossen sein«, stellte Leitner fest. »Eine komplette Elektrifizierung des Landes wird Jahrzehnte dauern, doch sie ist die Zukunft. Alles andere wäre ein gewaltiger Rückschritt.« Er zog eines der Blätter aus seinen Unterlagen hervor, das den Aufbau einer Hochspannungsleitung nebst Gestellen rechts und links der Bahnstrecke zeigte. »Wir alle wissen, dass die Entwicklung uns oftmals überholt«, führte er weiter aus. »Doch eine solche Konstruktion kann auch in Jahrzehnten nicht verbessert oder vereinfacht werden. Sie ist auf das Notwendigste reduziert und wird vermutlich noch in hundert Jahren genauso aufgebaut sein, weil sie durchdacht, funktional und zeitlos ist.« Er sah Steiner an. »Wenn Sie also fürchten, zu produzieren und am Ende keinen Abnehmer für die guten Stücke zu finden, kann ich Ihnen diese Bedenken nehmen.«

»Danke für die Erläuterung«, antwortete Steiner. »Meiner Erfahrung nach behält sich jedoch jeder Bauherr und Ingenieur vor, seine eigenen Pläne zu verfolgen und dann womöglich Details, und seien sie auch noch so gering, zu ändern, um den Dingen eine eigene Handschrift zu geben.«

»Herr Steiner hat recht«, stimmte Florentinus seinem Vorarbeiter zu. »Selbst wenn eine Änderung in Art und Gestaltung ohne Vorteile, ja sogar ohne Sinn ist, so kann sie eben doch vorgenommen werden, und dann würden die Metallteile, die wir hier fertigen, nicht mehr passen.«

»Ich verstehe Ihre Bedenken«, mischte sich nun wieder Kämmerer ein und warf Pichler einen fragenden Blick zu, der fast unmerklich nickte.

»Sie haben ja unsere Pläne gesehen. Wir haben Großes vor. Wenn Sie uns im Preis entgegenkommen, könnten wir uns vorstellen, eine Abnahmeverpflichtung für die vollen fünf Jahre einzugehen. Sie würden also auf jeden Fall Ihr Geld bekommen. Dazu würde sich die Regierung vertraglich verpflichten.«

»Wenn du erlaubst, Onkel«, sagte Franz, wartete dieses Mal aber die Zustimmung nicht ab. »Herr Steiner und ich haben die Preise im Vorfeld sehr genau kalkuliert. Natürlich hat mein Onkel das letzte Wort, doch letztendlich ist es, wie er vorhin sagte: Ich bin derjenige, der die Loising Eisenwarenfabrik in die Zukunft führt. Vielleicht erst in zehn Jahren, womöglich aber auch schon in einem. Somit würde die Verpflichtung auf mich übergehen, sollte mein Onkel sich zu einem Rückzug aus der Firmenleitung entscheiden.«

Florentinus war nicht ganz sicher, in welche Richtung Franz zu argumentieren gedachte und was er mit seinen Worten bezweckte, doch er entschied, seinem Neffen Spielraum zu lassen.

»Genau aus diesem Grunde bin ich die Zahlen wieder und wieder durchgegangen. Die Wirtschaftskrise hat uns allen zu schaffen gemacht, doch die Loising Eisenwarenfabrik ist stabil geblieben und hat sich auch für die Mitarbeiter als verlässlicher Arbeitgeber gezeigt, der eben keine Entlassungen hat vornehmen müssen. Diese Firma ist ein echter Partner, wenn es darum geht, ihre Verpflichtungen einzuhalten. Selbst wenn die Rohstoffpreise gestiegen sind, hat mein Onkel es stets mit seinem klugen Handeln verstanden, die Mehrkosten nicht sofort an seine Vertragspartner weitergeben zu müssen und mit dem Kauf der neuen Fläche und dem Bau der weiteren Halle dafür gesorgt, dass wir nicht darauf angewiesen sind, jeden Preis zu bezahlen, um an die Rohstoffe zu kommen, sondern diese im geeigneten Moment günstig in größeren Mengen erwerben und eben auch lagern zu können.«

»Worauf wollen Sie hinaus, Herr Hansen?«, fragte Kämmerer.

»Nun ja, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, die Bahn war in der Führung und Vergabe von Aufträgen in den letzten Jahren durchaus wechselhaft. Von der Stabilität und Verlässlichkeit, die die Firma Loising zu bieten hat, könnte sie sich eine Scheibe abschneiden.« Franz lächelte Herrn Kämmerer an. »Anders als andere Firmen neigt unsere Fabrik, oder besser, unsere Familie nicht dazu, zu spekulieren. Als ich noch ein Junge war, pflegte mein Großvater, der frühere Firmeninhaber, mir stets zu sagen, dass nichts so wichtig im Leben ist, wie zu wissen, auf wen man sich verlassen kann. Das spiegelt sich auch in dem Preis wider, den mein Onkel Ihnen genannt hat.« Franz sah Florentinus an. »Ich gebe zu, dass Herr Steiner und ich uns darüber einig sind, dass wir einen um einiges höheren Preis veranschlagt hätten, weil es doch einige Unwägbarkeiten bei dieser Partnerschaft gibt.«

»Welche Unwägbarkeiten?«, hakte Pichler nach.

»Nun, zum einen ist durchaus nicht sicher, dass Sie, meine Herren, ohne Sie brüskieren zu wollen, in zwei Jahren, vielleicht aber auch schon in ein paar Monaten noch in der Stellung sind, in der Sie sich derzeit befinden.«

»Da gebe ich Ihnen recht, Herr Hansen«, räumte Kämmerer ein. »Doch das wäre für den Fall, dass wir eine feste Abnahmemenge, und das über einen Zeitraum von fünf Jahren, vertraglich garantieren, für Ihr Unternehmen irrelevant.«

»Das stimmt. Doch sobald jemand Neues an der Spitze wäre, könnte dieser womöglich das Geschäft … nun ja, ich sage mal: auf eine gewisse Weise sabotieren und damit auch fällige Zahlungen zumindest hinauszögern.«

Florentinus nickte Franz zu. »Mein Neffe hat recht. Zwar könnte unsere Firma es verkraften, wenn es zu Zahlungsverzögerungen käme, doch das eben auch nur für eine begrenzte Zeit.«

»Man muss also«, sagte nun wieder Franz, »bei der Preiskalkulation nicht nur die Unsicherheit in Bezug auf die Rohstoffpreise mit einbeziehen, sondern auch, dass sich Unwägbarkeiten ergeben könnten, auf die unsere Fabrik keinen Einfluss hat.« Er sah Florentinus an. »Ich denke, der Ansatz mit einem Fünf-Jahres-Vertrag zu festen Konditionen und Abnahmemengen ist ein vernünftiger Vorschlag. Und auch der einzig mögliche, um überhaupt ins Geschäft zu kommen. Ansonsten würden wir am Ende womöglich im Minus landen und auch die Leute, die wir dafür neu einstellen müssten, nicht mit gutem Gewissen in Lohn und Brot bringen.«

»Du bist also eher dafür, es nicht zu machen, richtig?« Florentinus sah Franz fest in die Augen und musste sich dazu zwingen, eine undurchdringliche Miene aufzusetzen, da er nach den Ausführungen des Neffen nun endgültig begriffen hatte, worum es diesem ging. Franz wollte das Geschäft, genau wie Florentinus. Doch er hatte mit seinen Argumenten und dem Zaudern den Spieß umgedreht. Hatte es eben noch so gewirkt, als wollte die Gegenseite den Preis drücken, stand nun erheblicher Zweifel in den Gesichtern der Männer, ob man womöglich mit leeren Händen nach Hause kam.

»Richtig, Onkel, so leid es mir tut.« Franz wandte sich wieder an Kämmerer und sah auch Pichler an. »Ich entschuldige mich, meine Herren. Und womöglich mag es daran liegen, dass ich noch nicht über die langjährige Erfahrung meines Onkels hinsichtlich solch großer Geschäfte verfüge. Doch die Sicherheit der Firma, die sich nun schon seit Generationen im Besitz meiner Familie befindet, steht für mich über allem.«

»Sie müssen sich nicht dafür entschuldigen, derart umsichtig und klug zu handeln«, versicherte Kämmerer. »Würden Sie meinen Kollegen und mich wohl kurz entschuldigen. Tatsächlich müssen wir unter vier Augen miteinander sprechen.«

»Aber sicher«, stimmte Florentinus zu.

Die drei anderen, die für die Elektrifizierung zuständig waren, sahen Pichler und Kämmerer nach, als diese beiden den Raum verließen. Florentinus meinte ihnen anzumerken, dass es ihnen nicht gefiel, von den Älteren einfach so ungefragt hier sitzen gelassen zu werden, und dass ganz offensichtlich kein Wert darauf gelegt wurde, welche Meinung sie zu dem Ganzen hatten.

Es dauerte nicht lange, bis die beiden wieder hereinkamen und Kämmerer, noch bevor er wieder saß, das Wort ergriff:

»Wir haben uns soeben beraten«, erklärte er nun. »Auch wenn Ihr offenes Wort für uns und die Institution, die wir vertreten, nicht gerade schmeichelhaft war, so können wir doch die Wahrheit dahinter nicht verleugnen«, sagte er an Franz gewandt. »Ich mache keinen Hehl daraus, dass der Preis, den wir vor Beginn des Gesprächs anstrebten, ein anderer war als der, den Sie geboten haben. Und ich mache auch keinen Hehl daraus, dass wir uns durchaus ein erhebliches Entgegenkommen gewünscht beziehungsweise sogar erwartet hätten.« Er räusperte sich. »Doch die Geschichte der Bahn und die Entscheidung der Vorstände sprechen eine eigene Sprache, und Sie, Herr Hansen, vermochten dieser offenbar sehr genau zu lauschen.«

»Wir sind ermächtigt, hier und heute das Geschäft zum Abschluss zu bringen, selbst zu den Konditionen, deren Verhandlung unserem Eindruck nach offenbar obsolet ist«, führte nun Pichler aus und tauschte noch einen Blick mit Kämmerer.

»Wenn wir also eine neue Ära einleiten und unsere Geschäftsbeziehung ebenso in die Zukunft führen wollen, könnten wir ohne weitere Verhandlungen den Vertrag schließen mit einem festen Abschluss von fünf Jahren, laufend bis zum 31. Dezember 1930.« Er beugte sich zu Franz. »Wir bitten dies als größtmöglichen Vertrauensbeweis unsererseits zu werten.«

Franz nickte ihm zu. »Ohne meinem Onkel vorgreifen zu wollen, der ja letztendlich die Entscheidung zu treffen hat, möchte ich Ihnen sagen, dass ich Männer wie Sie über die Maßen schätze und in Ihrem Vorgehen eine Größe erkenne, die meine Bedenken vollends zu entkräften versteht.«

»Ich danke Ihnen, Herr Hansen«, antwortete Pichler, worauf Franz ihm abermals zunickte.

Franz sah Florentinus an. »Nun liegt es an dir, Onkel.«

Florentinus zögerte, dann stand er auf und trat hinter die Stühle Pichlers und Kämmerers, die sich hierauf ebenfalls erhoben. Florentinus streckte ihnen die Hand entgegen. »Dann sind wir uns einig«, sagte er und schüttelte beiden nacheinander die Hände. »Ich lasse sogleich den Justiziar unseres Hauses kommen und die Verträge abfassen. Und während sie ausgestellt werden, lasse ich uns Speisen und Getränke bringen, und wir haben genug Zeit, bereits jetzt auf unsere künftige Zusammenarbeit anzustoßen.«

»Ja, Herr Loising«, sagte Kämmerer zufrieden und schüttelte Florentinus’ Hand noch fester. »Es ist ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen.«

In diesem Moment fiel die Anspannung der letzten Tage von Florentinus ab, und er warf Franz einen kurzen, vielsagenden Blick zu. Er war gerade einmal ein halbes Jahr in dieser Firma und hatte sich so großartig entwickelt, dass Florentinus es kaum glauben konnte. Auch wenn er sein Neffe war, fühlte Florentinus nichts weniger als väterlichen Stolz.