15. Kapitel

Ich möchte stark sein, um jeden Schicksalsschlag zu meistern, den der Herr mir zugedacht hat.

Elsa Harris

Elsa klappte das Tagebuch zu, in das sie seit dem Tod Luises in regelmäßigen Abständen schrieb, um so die vielen Gedanken, über die sie sich sonst in Briefen mit Luise ausgetauscht hatte, aus ihrem Bewusstsein zu entlassen. Und das gelang ihr auch, doch fehlten ihr Luises Antworten auf die vielen Fragen, die sie sich stellte, sodass sie immer wieder das Gefühl hatte, mit ihren Sorgen letztendlich doch irgendwie allein dazustehen.

Natürlich konnte sie mit ihrem Ehemann John sprechen, und auch ihre Tochter Marie hatte immer ein offenes Ohr für sie. Doch die Beziehung zu Luise war eine ganz besondere, einmalige gewesen, und sowohl die Gespräche mit ihr als auch die Briefe, in denen sie sich wirklich alles erzählten, waren durch nichts und niemanden zu ersetzen.

Elsa legte das Buch in die Schreibtischschublade und schob sie zu. Dann stand sie auf, ging in die Küche, band eine Schürze um und machte sich an den Abwasch. Sie hatte das Geschirr vom Frühstück, das sie vorhin Orson gebracht hatte, zunächst nur auf die Ablagefläche gestellt, nachdem sie vom Besuch bei ihm wieder herübergekommen war. Ihr Nachbar und Freund hatte in den letzten Wochen erheblich abgebaut. Es war nicht weiter verwunderlich, hatte Orson doch vor Kurzem seinen dreiundsiebzigsten Geburtstag gefeiert. Doch noch vor einem halben Jahr war er in regelmäßigen Abständen mit John zu Sportveranstaltungen gegangen und hatte, wie ihr Mann ihr berichtete, immer begeistert seine Favoriten angefeuert und sich dabei fast die Kehle heiser gebrüllt. Seit Weihnachten jedoch hatte sich etwas verändert, und das machte Elsa Angst.

Wie sonst auch hatte Orson als enger Freund der Familie das Weihnachtsfest bei ihnen verbracht. Marie und Will waren mit ihren Jungs Henry und Benjamin selbstverständlich auch über die Feiertage da gewesen. Alles war wie immer sehr harmonisch verlaufen, nur hatte Orson sich entschuldigt, dass sein Rücken es einfach nicht mehr zuließ, dass er sich zu Elsas Enkeln auf den Boden setzte, um dort mit ihnen zu spielen. Doch das wunderte Elsa nicht, denn dass Orsons Rücken schon seit Jahren schmerzte und augenscheinlich auch immer krummer zu werden schien, war kein Geheimnis. Aber nach dem Essen hatte Orson etwas zu John und Will gesagt, dass ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte und sie zutiefst erschreckt hatte. Die Männer hatten sich einen guten Whiskey eingeschenkt, während Elsa und Marie damit beschäftigt waren, ein wenig Ordnung in das Chaos nach dem Überreichen der Geschenke zu bringen, als Orson anmerkte, dass die Weihnachtsfeste in der Familie Harris die schönsten seines ganzen Lebens gewesen waren. Als John mit ihm und Will auf noch viele weitere Feste anstoßen wollte, hatte Orson mit einem Lächeln auf den Lippen den Kopf geschüttelt und gemeint, dass es sein letztes sei, dann aber doch sein Glas erhoben und getrunken. John hatte Elsa später davon erzählt und hinzugefügt, dass Will und er in dem Moment zu überrascht gewesen waren, um irgendwie darauf zu reagieren. Elsa hatte ihren Mann nur angesehen und war ebenfalls zu bestürzt gewesen, um etwas zu sagen. Doch seitdem sah sie Orson irgendwie mit anderen Augen. Vor allem aber hatte sie wahrgenommen, wie gebrechlich er in den letzten Wochen geworden war, und fragte sich, ob es daran liegen mochte, dass Orson sich vielleicht einfach einredete, dass seine Zeit gekommen sei. Vor ein paar Tagen dann hatte sie ihn ganz direkt darauf angesprochen, einfach weil sie es nicht mehr ausgehalten hatte und fürchtete, dass er womöglich eine schlechte Diagnose vom Arzt bekommen hatte. Doch das war laut Orson nicht der Fall. Sie hatten sich dann zusammengesetzt und miteinander geredet, und Elsa hatte ihm gesagt, dass John ihr von seiner Bemerkung am Weihnachtsabend erzählt hatte. Hierauf hatte der alte Mann ihre Hand genommen, sie angelächelt und dann erklärt, dass da so ein Gefühl in ihm war, als wäre es an der Zeit, diese Welt zu verlassen. Elsa waren die Tränen gekommen, doch Orson hatte ihre Hand gedrückt und sie damit trösten wollen, dass er das beste Leben gehabt hatte, das er sich nur vorstellen könnte. Es gab also seiner Meinung nach überhaupt keinen Grund zur Traurigkeit, mussten doch alle eines Tages sterben, und er war schon weit älter geworden als alle anderen, die er kannte. Er sagte ihr, dass es ihm leichtfiele, das loszulassen, von dem er wusste, es nicht halten zu können, und dass ihm dieses Bewusstsein Frieden schenke.

Elsa hatte in diesem Moment stark sein und ihre Tränen so gut es ging zurückhalten wollen. Als sie dann jedoch in ihr Haus zurückgekehrt war, wurde sie von ihren Gefühlen übermannt und hatte über Stunden lang nur geweint. Das war nun bereits fast zwei Monate her, und seitdem war eine kontinuierliche Verschlechterung von Orsons Gesundheitszustand festzustellen. Seit gut einer Woche lag er die meiste Zeit auf der Couch in seinem Wohnzimmer und verzichtete auf die morgendlichen Spaziergänge, die er sonst so gern unternommen hatte.

Wie schon in den letzten Tagen hatte Elsa ihm bei sich in der Küche das Frühstück zubereitet und es Orson, der im Haus nebenan wohnte, rübergebracht. Sie hatte sich zu ihm gesetzt, während er aß, und sie hatten miteinander geplaudert und gescherzt. Doch als Elsa ihn zu ermuntern versuchte und sagte, ihm ginge es bestimmt schon bald wieder gut genug, dass er seine morgendlichen Spaziergänge machen könnte, hatte er sie nur angelächelt und war einer Antwort ausgewichen. In diesem Augenblick hatte Elsa gespürt, dass sie im Grunde gar nicht Orson Mut zusprechen wollte, sondern sich selbst. Denn er konnte ganz offensichtlich mit der Situation umgehen und hatte, wie er es ja selbst ausdrückte, seinen Frieden damit gemacht, während Elsa zwischen der Verzweiflung über seinen Zustand und der Hoffnung, dass er sich doch noch mal erholen würde, hin- und hergerissen war.

Während sie das Geschirr spülte, sah sie aus dem Fenster. Auf der Straße gingen nur einige Passanten entlang, die es scheinbar nicht besonders eilig hatten, während man sonst viele Menschen nur so vorbeihetzen sah. Doch jetzt am späten Vormittag waren die meisten längst bei ihrer Arbeit und für die Mittagspause war es noch zu früh.

Am liebsten wäre sie ein wenig hinausgegangen, war doch der April schon so warm wie mancher Sommermonat, und Elsa liebte die Frühlingsluft, die vom Duft der aufblühenden Blumen erfüllt war. Doch sie traute sich nicht, ihr Reihenhaus zu verlassen aus Furcht, dass Orson versuchen könnte, sie zu erreichen und sie dann nicht da war. Sie hatte ein längeres Kabel an seinem Telefonapparat anbringen lassen und diesen direkt neben die Couch auf den Boden gestellt, sodass er, ganz gleich, wie es ihm ging, in jedem Fall danach greifen und sie anrufen konnte.

Das Telefon läutete, und Elsa ließ vor Schreck den Teller fallen, den sie gerade mit einem Tuch trocknete. Er zersprang am Boden in tausend Scherben.

Elsa hastete ans Telefon. »Ja?«, meldete sie sich nur und konnte die Angst in ihrer Stimme nicht vertreiben.

»Hier ist Orson«, sagte er auf Englisch. »Könntest du wohl kurz rüberkommen?«

»Ich komme«, erwiderte sie nur und legte sogleich auf. Sie war noch nicht an der Tür, da klingelte das Telefon erneut. Eilig hastete sie zurück. »Ich bin gleich da, Orson«, sagte sie, statt sich mit Namen zu melden.

»Mrs Harris, hier spricht Amanda«, meldete sich die Sekretärin ihres Mannes. Elsa konnte hören, dass sie schluchzte.

»Amanda, was ist passiert? Ist etwas mit meinem Mann?«

»Ja.« Wieder schluchzte die Frau am anderen Ende der Leitung. »Er wurde ins Jefferson Hospital gebracht«, stieß sie hervor. »Es ist vermutlich sein Herz. Bitte, kommen Sie schnell dorthin.«

»Um Gottes willen!«, entfuhr es Elsa, die am ganzen Körper eine Gänsehaut bekam. »Ich komme. Ich komme sofort.« Elsa knallte den Hörer auf die Gabel, überlegte kurz, Orson anzurufen. Doch sie entschied sich dagegen und rief stattdessen ein Taxi. Dann griff sie ihre Handtasche und die Schlüssel, rannte aus dem Haus, lief zu Orson hinüber und erzählte diesem in wenigen Worten, was geschehen war.

»Geh zu ihm, rasch!«, drängte Orson sie. »Geh zu deinem Mann.«

»Ich komme wieder, so schnell ich kann.«

»Geh schon, geh!«, drängte Orson sie abermals.

Elsa beugte sich vor, gab ihm eilig einen Kuss auf die Wange. »Ich beeile mich.«

Nur kurz hielt er sie zurück und sah ihr fest in die Augen. »Ich liebe dich, Elsa, wie die Tochter, die ich nie hatte.«

»Ich liebe dich auch, Orson«, erwiderte sie. Dann lief sie zur Tür und hastete aus dem Haus. Das Taxi stand bereits davor.

»Zum Jefferson Hospital«, wies sie den Fahrer an. »Schnell!«

»Jefferson!«, bestätigte er und fuhr sofort los.

Elsa zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und tupfte damit die Tränen aus ihren Augenwinkeln. Dann knetete sie nervös das Taschentuch in ihrer Hand. Sie sah aus dem Fenster, ihr Herz schlug so heftig, als wollte es ihr aus der Brust springen. Elsa schloss ihre Augen und sprach ein stilles Gebet. Nicht ihr John. Ihm durfte nichts geschehen. Er war alles für sie. Einfach alles. Im Sommer würden sie ihren sechsundzwanzigsten Hochzeitstag feiern. Er war ihr Leben. Ihm durfte nichts geschehen. Nicht ihm.

Elsa sah durch die Windschutzscheibe. Gleich waren sie da. Was erwartete sie wohl, wenn sie das Hospital erreichten? In welchem Zustand würde John sein? Sie schloss kurz die Augen, als ihr die Frage durch den Kopf schoss, ob John noch am Leben war. Nein, so durfte sie nicht denken. John war stark und gerade erst neunundfünfzig Jahre alt. Er arbeitete viel, zu viel, ja, doch er hatte die Textilfabrik aus dem Nichts aufgebaut und zu einem der größten Unternehmen dieser Art im ganzen Land gemacht. Gerade letztes Jahr hatte er in neue Maschinen investiert und seither noch härter geschuftet, um das Geld auch wieder hereinzubekommen. Sie verstand das ja. Doch sie hatte John schon oft gesagt, dass es noch mehr gab als nur die Fabrik, mehr geben musste. Was nützte ihnen das Geld, wenn ihr Mann, so wie jetzt geschehen, am Ende deshalb im Hospital landete. Wieder knetete sie ihr Taschentuch und sie hatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. Elsa spürte, wie ihr linkes Bein zu zittern begann. Entschlossen drückte sie es mit ihrer Hand herunter, ganz so, als wollte sie ihrem Körper befehlen, ihr gefälligst zu gehorchen.

Der Wagen hielt vor dem Gebäude mit den kleinen Türmen am Dach und dem auffallenden, gemauerten Schornstein an. Elsa bezahlte den Fahrer, stieg sofort aus und rannte hinein.

»John Harris!«, rief sie völlig außer Atem. »Ich suche John Harris, ich bin seine Frau.«

»Bitte kommen Sie«, sagte die Schwester sofort, die zusammen mit einer Kollegin hinter dem Tresen stand. »Ich bringe Sie hin.«

»Wie geht es ihm?«, fragte Elsa voller Sorge, als sie hinter ihr herging.

»Ich darf Ihnen leider nichts dazu sagen. Doch der behandelnde Arzt, Dr. Sailer, ist einer der besten seines Fachs.«

Elsa folgte der Krankenschwester die Gänge entlang, bis diese schließlich vor einer Tür stehen blieb, klopfte und sogleich öffnete. »Dr. Sailer, die Frau des Patienten ist da.«

»Sie soll hereinkommen«, hörte Elsa den Mediziner nun sagen, worauf die Krankenschwester ihr den Weg freigab. Elsa straffte den Rücken und betrat das Zimmer. Sie konnte nicht verhindern, dass sie am ganzen Körper zu zittern begann.

»Mrs Harris? Guten Tag, mein Name ist Sailer, Doktor Joseph Sailer.« Er streckte ihr die Rechte entgegen.

»Elsa Harris.« Sie sah sich um. Es standen insgesamt fünf Betten in dem Zimmer, nur eines davon war besetzt. Sie konnte allerdings das Gesicht des Mannes, der darin lag, nicht erkennen, da Dr. Sailer davorstand.

»Darling, komm zu mir«, hörte sie nun eine vertraute Stimme sagen, worauf ihr ein Stein vom Herzen fiel. Dr. Sailer lächelte sie an und trat einen Schritt zur Seite.

Elsas und Johns Blicke trafen sich, und ohne den Mediziner noch weiter zu beachten, rannte sie hinüber, beugte sich zu ihm hinunter und gab ihm einen Kuss. »John, mein Gott, ich hatte ja solche Angst.«

»Du kennst mich doch, Darling, einen wie mich haut so was nicht um. Ich habe es dir doch damals schon gesagt, du wirst mich nicht mehr los.«

Elsa war so erleichtert, dass ihr die Tränen kamen. »Dass du das gefälligst auch ja nie vergisst.« Wieder gab sie ihm einen Kuss.

Dr. Sailer war ihr zum Bett ihres Mannes gefolgt und stellte sich nun neben sie.

Elsa gab ihrem John noch einen Kuss, wischte die Tränen weg und richtete sich wieder auf. »Was ist denn nur passiert?«, fragte sie und sah zwischen John und dem Arzt hin und her.

»Ein leichtes Ziehen in der Brust, und ich muss wohl kurz das Bewusstsein verloren haben«, berichtete John.

»Ganz so war es, wie ich fürchte, nicht«, stellte Dr. Sailer fest. »Ein Mitarbeiter Ihres Mannes hat ihn hierher begleitet. Der Patient klagte über plötzlichen, krampfenden Schmerz in der Brust und hat dann für mehrere Minuten das Bewusstsein verloren. Hätte man in der Fabrik nicht so schnell gehandelt, hätte es schlecht ausgesehen.«

»Was ist Ihre Diagnose, Dr. Sailer?«, fragte Elsa besorgt, aber gefasst. Sie wusste ja, wie John war und dass er ganz sicher nicht zugegeben hätte, wie es ihm wirklich ging.

»Ihr Mann hatte einen schweren Koronarinfarkt, also einen Herzinfarkt, und sein Herz schlägt auch jetzt leider nicht so gleichmäßig, wie es sollte. Wir haben ihm Digitalis verabreicht und ihm Sauerstoff gegeben, worauf er gut reagiert hat. Doch er wird eine Weile hierbleiben müssen, damit wir ihn in Ruhe untersuchen und jedes weitere Risiko minimieren können.«

»Ich habe schon gesagt, dass ich jede Menge Arbeit habe«, wandte John ein.

Elsa sah ihn voller Sorge an. »Also ehrlich, du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt. Lass dir ja nicht einfallen, auch nur einen einzigen Tag früher das Krankenhaus verlassen zu wollen, als dir empfohlen wird. Die Arbeit kann und wird warten.«

»Ich habe es Ihrem Mann schon gesagt, dass vor allem eine Änderung der Lebensgewohnheiten notwendig sein wird. Sein Herz ist zu stark belastet worden. Wir konnten ihn zwar fürs Erste stabilisieren, doch sein Zustand ist nach wie vor als überaus ernst einzuschätzen.«

»Ich liege hier, Dr. Sailer. Sie müssen nicht über mich reden, als bekäme ich es nicht mit.«

Der Arzt wandte sich John zu. »Offen gesagt, habe ich nicht das Gefühl, Sie mit meinen Worten erreicht zu haben, sodass es mir notwendig scheint, mich an Ihre Frau zu wenden«, stellte der Mediziner fest und sah wieder zu Elsa. »Einen weiteren Infarkt dieser Art würde Ihr Mann vermutlich nicht überleben.«

Elsa nickte zum Zeichen, ihn verstanden zu haben. »Er wird seinen Lebensstil ändern, Herr Doktor. Ich werde dafür Sorge tragen.«

»Gut«, sagte Dr. Sailer. »Dann lasse ich Sie beide jetzt allein. Aber bitte nicht zu lange. Ihr Mann braucht wirklich Ruhe.«

»In Ordnung.«

Dr. Sailer verabschiedete sich und ging hinaus, während Elsa sich einen Stuhl an das Bett ihres Mannes zog. Sie ergriff seine Hand und sah ihm in seine dunkelbraunen Augen. »Ich bin auf dem Weg hierher fast verrückt geworden vor Sorge«, sagte sie. »Bitte, versprich mir, dass du alles tun wirst, was Dr. Sailer empfiehlt, damit du wieder vollständig gesund wirst.«

»Ich glaube ja, er übertreibt. Er hat mir vorhin einen Vortrag gehalten und Zahlen genannt, wie viele Menschen, vor allem Männer meines Alters, an einem Herzinfarkt sterben, und dass gerade Herzleiden ein weit unterschätztes Risiko darstellen.« Er griff zum Nachttisch und reichte Elsa ein bedrucktes Papier. »Hier, das hat er mir gegeben. Er hat wohl zusammen mit anderen Ärzten die American Heart Association gegründet, die sich speziell damit beschäftigt. Wenn du mich fragst, suchen die finanzielle Unterstützung, um die Organisation auch bezahlen zu können.«

»Du bist derart zynisch, John. Also wirklich!«, schimpfte sie.

»Ich meine ja nur«, gab er etwas kleinlaut zurück und zog dann ihre Hand näher an seine Lippen, um ihr einen Kuss darauf zu geben. »Ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, was die hier wollen, damit mein Herz künftig solche Scherze sein lässt. In Ordnung?«

Elsa nickte. »Ich darf nicht einmal darüber nachdenken, was alles hätte passieren können.«

»Dann tu es auch nicht. Ich hätte auch heute Morgen auf der Fahrt zur Fabrik mit einem Lastwagen zusammenstoßen können. Dann ginge es mir jetzt erheblich schlechter. Solche Gedanken nützen niemandem.«

Elsa seufzte. Sie wusste ja, was für einen Pragmatiker sie geheiratet hatte und dass John einfach nicht fürs Nichtstun geboren war. Er ging in seiner Arbeit auf, je mehr er zu tun hatte, desto besser. Nur dann war er so richtig in seinem Element. Doch Elsa hatte sich in den vergangenen Jahren öfter schon gewünscht, dass mit der Stabilisierung der finanziellen Situation für John auch der Tag käme, an dem er mal etwas weniger schuftete. Aber bisher hatte er davon nichts hören wollen, obwohl Elsa ihn schon einige Male darum gebeten hatte. Sie hatte schon oft vorgeschlagen, endlich einmal eine Reise zu unternehmen. Seinerzeit noch nach Hawaii, um einige Zeit bei Luise und Hamza zu verbringen und eine Zeit lang nichts mit der Textilfabrik zu tun zu haben. Doch John hatte stets eingewandt, dass der Zeitpunkt jetzt überaus schwierig und er bei dem hohen Arbeitsaufkommen gerade unentbehrlich sei. Und das ging nun schon seit Jahren so. Jetzt jedoch hatte Elsa das Gefühl, dass er es ihr womöglich nicht abschlagen würde, wenn sie ihn darum bat.

»Ich möchte mit dir verreisen, John.«

»Verreisen? Aber wir haben doch hier auch alles, was uns gefällt«, widersprach er sofort.

»John, ich bitte dich jetzt seit Jahren darum, doch du hast immer mit der Begründung abgelehnt, dass gerade zu viel zu tun sei.«

»Es war auch immer zu viel zu tun.«

»John, bitte, mach mich nicht wütend.«

Er seufzte. »Das will ich auch nicht, Elsa. Du weißt, dass du und Marie das Wichtigste in meinem Leben seid. Und natürlich auch ihre Jungs. Doch über die beiden Frauen in meinem Leben geht nichts.«

»Das weiß ich, John, wirklich.« Sie streichelte seine Hand. »Doch es reicht nicht mehr, dass du mir das nur sagst. Ich möchte, dass du mir zeigst, dass ich dir wichtiger bin als die Fabrik.«

»Also wirklich, Elsa, das ist doch gar keine Frage. Die Fabrik ist unsere Einnahmequelle. Das ist alles.« Er sah sie mit einem liebevollen Blick an. »Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass du wirklich erst an zweiter Stelle kommst.«

»Nein«, sie schüttelte den Kopf. »Das denke ich auch nicht. Eigentlich. Doch ich bitte dich schon so lange darum, ein bisschen weniger zu arbeiten. Und eine Reise wollte ich mit dir auch schon seit Jahren machen.« Wieder fasste sie seine Hand etwas fester. »Bitte, John, das, was heute geschehen ist, ist ein Weckruf für mich. Für uns «, fügte sie eilig hinzu. »Wir sind nicht mehr so jung, dass noch alles vor uns liegt. Wir haben uns etwas aufgebaut, stehen finanziell gut da. Jetzt ist es an der Zeit, das Leben ein wenig zu genießen.« Sie senkte den Blick. »Denk nur an Luise. Wir waren im selben Alter, und wie oft haben sie und ich darüber gesprochen, uns endlich einmal wiederzusehen. Es ist nicht mehr dazu gekommen, wie du weißt, und ich bereue es jeden Tag. Ich möchte nicht, dass auch wir eines Tages etwas bereuen müssen. Bitte, John.«

Er sah sie an, mit diesem liebevollen Blick, der ihr wie all die Jahre direkt ins Herz ging. »Ich stimme dir zu«, sagte er dann. »Es ist an der Zeit, mal an uns zu denken. Ich reise mit dir, wohin du willst, wenn du mir einen Monat lang Zeit gibst, in der Fabrik alles dafür vorzubereiten.«

»Wirklich?« Elsa sprang auf und umarmte ihn stürmisch. Dann gaben sie sich einen langen Kuss.

»Aber was ist mit Orson?«, fragte John dann, worauf Elsa wieder ernst wurde.

»Du hast recht«, erkannte sie. »Wir können ihn in seinem jetzigen Zustand nicht allein lassen.« Es klang traurig.

»Dann fahren wir, wenn er sich wieder erholt hat, in Ordnung? Du bestimmst den Zeitpunkt. Wenn du ein gutes Gefühl hast, dass wir unbesorgt wegkönnen, fahren wir. Ich verspreche es dir.« Er lächelte sie an. »Und ich habe noch nie ein Versprechen dir gegenüber gebrochen.«

»Nein, das hast du nicht«, pflichtete sie ihm bei.

Sie plauderten noch ein wenig, dann sagte Elsa, dass es für sie Zeit würde, zu gehen. Sie gab John einen zärtlichen Kuss, der sie schließlich noch bat, am nächsten Morgen in die Fabrik zu fahren und einige Unterschriften zu leisten, die er aufgrund des Vorfalls heute selbst nicht mehr geschafft hatte. Elsa hatte in allen Bereichen Vollmachten, selbst bei der Bank. Sie hatten die Fabrik damals gemeinsam gegründet, und sie hatte ihren Ehemann nach Kräften unterstützt. Doch Elsa war nicht wie Luise, die in einer solchen Aufgabe aufgegangen wäre. Entsprechend froh war sie, in John einen Mann gefunden zu haben, der es für sie tat. Aber um nach dem Rechten zu sehen, reichte ihr Wissen allemal, schließlich kannte sie die Textilfabrik aus dem Effeff. Elsa versprach John, in der Fabrik nach dem Rechten zu sehen und alles zu unterschreiben, woraufhin sich dieser tiefer in die Kissen sinken ließ.

»Ich komme morgen wieder, Darling. Schlaf gut, erhol dich.«

»Das werde ich.« Er lächelte sie an. »Zumindest werde ich es versuchen.« Er hielt ihre Hand fest. »Es ist das erste Mal in all den Jahren, dass ich ohne dich einschlafen muss.«

»Mir wird es nachher ebenso ergehen. Du fehlst mir schon jetzt.« Sie gab ihm noch einen Kuss. »Doch nun ruh dich aus. Wir sehen uns morgen.«

»Ja, bis morgen«, gab er zurück, dann lösten sie ihre Hände voneinander, und Elsa verließ das Krankenzimmer. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie weit länger geblieben war als von ihr beabsichtigt. Sie eilte nach vorn zum Empfang und wollte sich ein Taxi kommen lassen. Die Krankenschwester sagte ihr jedoch, dass immer einige Wagen direkt vor dem Hospital hielten.

Tatsächlich standen draußen ein paar Automobile bereit, und Elsa ließ sich erschöpft in dem ersten Wagen nieder und nannte ihre Adresse.

Während der Fahrt schloss sie kurz ihre Augen. Sie war nun viel ruhiger als vorhin, nachdem sie sich davon überzeugen konnte, dass es John gut ging. Doch schon im nächsten Moment kehrte die Nervosität zurück. Orson! Sie hatte ihn vorhin in der Aufregung nur ganz kurz verabschiedet, und irgendwie war es eigenartig gewesen, hatte der langjährige Freund ihr doch solange sie denken konnte nie gesagt, dass er sie wie eine Tochter liebte. Elsa fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. War das vorhin ein Abschied gewesen? Bei dem Gedanken wurde ihr heiß und kalt zugleich. Er hatte sie gebeten, nach drüben zu kommen, bevor sie den Anruf von Amanda erhalten hatte. Was hatte er gewollt? Er hatte es ihr nicht sagen können, weil sie in zu großer Sorge um ihren John gewesen war. Bilder tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Würde sie ihn gleich tot auf seiner Couch vorfinden? Bei dem Gedanken wurde ihr übel.

»Können Sie nicht schneller fahren?«, bat sie, holte einen Schein aus ihrer Handtasche und reichte ihn dem Fahrer, der die Banknote wortlos nahm und sogleich die Geschwindigkeit erhöhte. In einem halsbrecherischen Tempo legte der Taxifahrer den Weg bis zu der Reihenhaussiedlung zurück. Elsa bezahlte ihn, eilte aus dem Taxi und sogleich die Stufen zu Orsons Haustür hinauf. Sie hatte einen Schlüssel, kündigte sich aber stets mit einem Klingeln an, bevor sie sein Haus betrat. Auch jetzt drückte sie den Klingelknopf und das fast kreischend klingende Geräusch erklang. Elsa stürzte förmlich hinein.

»Orson? Orson?«, rief sie aufgewühlt und betrat dann das Wohnzimmer.

»Da bist du ja. Wie geht es John?«, fragte Orson und versuchte sich aufrechter hinzusetzen.

Elsa atmete erleichtert aus, als sie zu ihm hinüberging und sich auf den Rand der Couch setzte. »Es geht ihm so weit gut«, sagte sie. »Er ist außer Gefahr, doch sein Herz macht dem Doktor Sorgen.«

»Dein John arbeitet zu viel«, urteilte Orson.

»Wem sagst du das?« Sie blickte ihn liebevoll an. »Und wie geht es dir?«

»Gut. Entschuldige, dass ich dich heute Morgen in Sorge versetzt habe. Ich habe darüber nachgedacht, wie das auf dich gewirkt haben musste.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin ein alter Narr, Elsa.«

»Das bist du nicht. Aber sag bitte, was war denn los?«

»Ich habe wohl heute Nacht schlecht geträumt«, berichtete er. »Und als ich am Morgen wach wurde, war da so ein eigenartiges Gefühl. Dann kamst du mit dem Frühstück, und da wollte ich noch nichts sagen, um dich nicht zu beunruhigen. Doch dann, ganz plötzlich, war da das Bewusstsein, dass der Tod kommen würde. Und auch wenn ich mein Alter ja kenne und weiß, wie es um mich steht, bekam ich es in diesem Moment mit der Angst zu tun.«

»Ach, Orson.« Sie drückte zärtlich seine Hand. »Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich von solchen Dingen träume. Ich würde das an deiner Stelle nicht überbewerten.«

Orson schmunzelte. »Na, wie wir beide jetzt sehen, war es ja auch Unsinn«, stellte er fest. »Sonst könnten wir wohl nicht mehr miteinander sprechen.«

Elsa sah zur Küche hinüber. »Hast du dir zwischenzeitlich noch etwas zu essen gemacht?«

»Noch nicht. Ich hatte noch keinen Hunger.«

»Ach, Orson.« Sie schüttelte mahnend den Kopf. »Ohne mich würdest du wirklich verhungern.« Sie stand auf. »Ich gehe rasch nach drüben und bereite uns etwas zu. Dann komme ich wieder, und wir essen zusammen, ja?«

»Danke, meine Elsa.«

Sie verließ Orsons Wohnung, ging die Stufen hinunter und die Treppe zum Nebeneingang wieder hinauf. Dort blieb sie nach dem Eintreten kurz hinter der Tür stehen und atmete einmal tief durch. Sie war müde und erschöpft, doch die Erleichterung, dass heute keinem von ihren Lieben etwas geschehen war, überwog.

Sie ging in die Küche, wo noch immer der zerbrochene Teller am Boden lag. Sie bückte sich und sammelte die Scherben auf, als das Telefon klingelte. Mit einem Lächeln ging sie hinüber. Hatte Orson einen Wunsch, was sie gleich mit hinüberbringen sollte?

»Harris?«

»Spreche ich mit Elsa Harris?«

»Am Apparat.«

»Mrs Harris, hier spricht Dr. Sailer, wir haben uns vorhin kennengelernt. Es tut mir unendlich leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Ehemann soeben verstorben ist. Sie waren gerade erst gegangen, da fand die Schwester ihn tot in seinem Bett. Ich bedaure wirklich sehr … Mrs Harris, sind Sie noch da? Mrs Harris, hören Sie mich?«

Elsa glitt der Hörer aus der Hand, dann sank sie zu Boden. Orson hatte recht behalten: Der Tod war gekommen.