16. Kapitel
München, Sonntag, 5. April 1925
Ich muss mich zwingen, ruhig zu bleiben, wenn ich nicht riskieren will, einen Fehler zu begehen.
Helene Siegl
»Was sagst du da?« Helene wäre fast der Telefonhörer aus der Hand gefallen, als sie von ihrer Mutter erfuhr, was Onkel Georg aus Hamburg dieser berichtet hatte. Sie wusste, dass die beiden häufig miteinander telefonierten und sich gegenseitig auf dem Laufenden hielten.
»Du hast richtig gehört: Eduard wurde übel zusammengeschlagen und lag ein paar Tage in Berlin im Krankenhaus«, bestätigte ihr die Mutter am Telefon. »Und kaum, dass er auch nur wieder stehen konnte, hat er sich in seinen Lieferwagen gesetzt und ist von Berlin nach Hamburg gefahren, um sein Geschäft weiterzuführen. Georg war so derart aufgebracht, kann ich dir sagen. Er dachte wohl, da Eduard die lange Fahrt auf sich nehme, könnte es nicht so schlimm sein, wie er zunächst angenommen hatte. Doch tatsächlich, so sagte Georg, ist es noch viel schlimmer als geahnt. Er meinte, dass Eduard ganz furchtbar aussieht und dringendst der Bettruhe bedarf.«
»Und wie lange bleibt er in Hamburg?«
»Er wollte nur einen Tag bleiben, doch das hat Georg ihm schlicht verboten. Aus diesem Grund hat Georg ihn zum Hafen begleitet, weil dort wohl eine wichtige Fracht aus Spanien oder Italien oder von irgendwoher angekommen ist, die unbedingt von Eduard abgeholt werden musste. Georg hat dafür gesorgt, dass die Fässer von einigen Arbeitern in Eduards Lieferwagen verladen wurden, der nun bei der Villa Hansen trocken und sicher steht. Aber gesund ist das, was Eduard da treibt, nun wirklich nicht mehr.«
»Allerdings nicht«, gab Helene der Mutter recht. »Und wie soll es dort weitergehen?«
»Wie Georg sagte, wird Eduard jetzt für ein paar Tage in der Villa bleiben, um zu Kräften zu kommen. Und dann fährt er zurück nach Berlin und nimmt seine Geschäfte wieder auf.«
»Aber besteht denn nicht die Gefahr, dass etwas zurückbleibt, wenn er so leichtfertig handelt?«, fragte nun Helene. »Ich kenne mich zwar mit Rippenbrüchen nicht aus, aber dass es besser wäre, damit nicht noch solche Arbeiten zu verrichten, sagt mir mein gesunder Menschenverstand.«
»Wenn Eduard den nur auch beweisen würde«, gab Therese mit einem Seufzer von sich. »Aber nun ja, Georg wollte mir nur Bescheid geben, und ich fand, du solltest es auch erfahren. Ach ja, und noch etwas ist geschehen«, kündigte Therese an und erzählte Helene dann am Telefon von dem Zeitungsartikel und Richards Zitat darin.
»Georg sagte mir, dass das für ihn den endgültigen Bruch mit seinem Sohn bedeutet.«
»Wäre nicht von Richard die Rede, würde ich es wohl kaum glauben. Aber nach all dem, was er sich schon geleistet hat, glaube ich es sofort.«
»Ja, Robert hat mir damals auch so einige Geschichten über Richard erzählt. Er ist ein Mensch, den du und ich nie verstehen werden.«
»Das stimmt wohl«, gab Helene ihr recht. »Weißt du denn schon, wann die Hamburger nach Wien kommen?«
»Davon hat Georg nichts gesagt, und ich habe auch nicht danach gefragt. Da sich so viel ereignet hat, haben wir vollkommen vergessen, darüber zu sprechen.«
»Na, wir werden es schon rechtzeitig erfahren«, meinte Helene.
»Und du?«, fragte nun Therese. »Gibt es bei dir auch etwas Neues?«
»Nein, eigentlich nichts. Es ist alles wie immer. Max hat mich gefragt, ob er während der Ferien etwas mit einigen Freunden aus dem Internat unternehmen darf. Da ist der Junge die ganze Zeit von zu Hause fort und will dann nicht einmal seine Ferienzeit hier verbringen. Nicht gerade schmeichelhaft für eine Mutter.«
»Als du dreizehn warst, konnte ich dir auch nichts recht machen«, erwiderte Therese. »Und Franz war noch schlimmer. Warum also sollte es dir anders ergehen?«
»Das stimmt auch wieder. Doch ich habe manchmal das Gefühl, dass ihm die Freundschaften, die er im Internat geschlossen hat, nicht gerade guttun. Max benimmt sich mir gegenüber teilweise sehr respektlos, wenn er denn mal hier ist«, sprach Helene die Sorge aus, die sie nun schon eine Weile umtrieb.
»Es wird sich alles finden«, sagte Therese hierauf, was eine der üblichen Floskeln ihrer Mutter war, wenn diese gerade keine Lösung für ein Problem parat hatte.
»Ich muss jetzt auch Schluss machen, Lenchen. Die Arbeit ruft. Ach, es ist herrlich, das sagen zu können.«
Helene lächelte bei den Worten ihrer Mutter. Seit diese wieder selbst das Kaffeehaus führte, war sie förmlich aufgeblüht. Helene gönnte es ihr von Herzen. Ihre Mutter war einfach kein Mensch, der untätig herumsitzen konnte. Sie fühlte sich dann überflüssig, wurde geradezu melancholisch. Wahrscheinlich, so mutmaßte Helene, würde es ihr selbst später einmal ebenso gehen. Manche Menschen waren einfach nicht dafür gemacht, Mußestunden zu genießen. Und ihre Mutter und sie gehörten definitiv dazu.
»Dann wünsche ich dir einen schönen Tag im Kaffeehaus und viele nette Begegnungen«, sagte Helene.
»Danke schön, mein Schatz. Dir auch einen sonnigen Tag! Auf bald.«
»Auf bald.« Helene legte den Hörer auf die Gabel. Bernhard, der offenbar gehört hatte, dass sie das Telefonat beendete, trat von hinten an sie heran und umarmte sie. Tief sog er ihren Duft ein. Sie hatten eine leidenschaftliche Liebesnacht verbracht, und allein seine Berührung und sein Atem an ihrem Hals bescherten ihr eine Gänsehaut.
»Du riechst so gut«, sagte er und atmete nochmals ein.
Helene drehte sich zu ihm um und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss.
»Ich kenne diesen Blick«, sagte sie dann und bewegte den Zeigefinger vor seinem Gesicht. »O nein, mein Herr. Daraus wird nichts. Wir werden jetzt frühstücken. Es ist bereits fast zehn Uhr.«
»Aber es ist Sonntag! Sonntage sind bekanntlich dafür gedacht, sie im Bett zu verbringen«, entgegnete er mit gespielter Entrüstung und gab ihr wieder einen Kuss.
»Und das steht bitte wo geschrieben?« Helene lachte glockenhell auf und wand sich dann aus seinem Arm. »Sie sind unersättlich, mein Herr. Und jetzt gibt es Frühstück.« Sie fasste seine Hand und zog ihn mit sich in Richtung Küche.
»Meinetwegen«, gab er sich geschlagen, dann folgte er ihr, und sie nahmen am Küchentisch Platz, den Helene bereits vor dem Anruf ihrer Mutter gedeckt hatte.
»Ist denn bei deiner Mutter alles in Ordnung? Du klangst eben ein wenig besorgt«, erkundigte sich Bernhard, während sie frühstückten.
»Nicht ihretwegen, sondern wegen meines Großcousins beziehungsweise meines Stiefneffen, je nachdem, von welchem meiner Väter wir ausgehen«, antwortete Helene. »Eduard«, nannte sie dann seinen Namen. »Er ist Marthas Sohn. Martha ist Roberts Tochter aus erster Ehe. Und Robert wiederum ist der Bruder meines leiblichen Vaters Karl. Er war also mein Onkel, bevor er mein Stiefvater wurde.«
»Durch eure Familienverhältnisse durchzusteigen, ist eine echte Herausforderung«, stellte Bernhard fest.
»Tja, dass meine Mutter nach meinem Vater dessen Bruder geheiratet hat, ist wohl nicht gerade üblich.«
»Darf ich dich etwas fragen?«
»Sicher.«
»Wenn du darüber nachdenkst, wer ist dann mehr dein Vater – Robert oder Karl?«
»Robert«, kam die spontane Antwort. »Er ist der einzige Vater, an den ich mich erinnere. Und das sehr gern. Robert war immer für Franz und mich da, wirklich immer. Und ich weiß, dass er uns genau so geliebt hat wie Martha und Luise, seine leiblichen Kinder.« Helene spürte eine gewisse Trauer in sich aufsteigen. »Da hat man sogar zwei Väter, und nicht einer ist mehr da.«
»Entschuldige. Du wolltest von deinem … also von Eduard erzählen.«
»Ja, richtig«, stimmte Helene zu und berichtete Bernhard dann das, was sie soeben von ihrer Mutter erfahren hatte.
»Puh!« Bernhard blies die Wangen auf und stieß geräuschvoll die Luft aus. »Das ist wirklich hart. Hat man die Kerle gefasst?«
»Darüber hat mir meine Mutter gar nichts gesagt. Onkel Georg macht sich wohl fürchterliche Sorgen um Eduard. Und ich muss sagen, ich finde es auch reinen Wahnsinn, mit solch schweren Verletzungen einfach weiter seinen Geschäften nachzugehen, als wäre nichts geschehen.«
»Vermutlich steht er unter großem Druck«, mutmaßte Bernhard. »Er hat Läden in Hamburg und Berlin, richtig?«
»Richtig. Spirituosenhandlungen«, ergänzte sie.
»Eine Menge Verantwortung«, befand Bernhard.
»Ja, das schon. Doch wenn er nach einem solchen Überfall nicht einmal über die Einsicht verfügt, dass er jetzt Ruhe braucht, sollte er sich dringend überlegen, ob es das wert ist.«
»Da gebe ich dir recht. Doch es ist wohl nicht ganz einfach, wenn man allein dasteht und für alles selbst verantwortlich ist. Ich kenne das ja zu gut, obwohl ich nur angestellt bin. Als eigenständiger Unternehmer ist es bestimmt noch schwieriger«, sagte Bernhard und biss dann in seine Semmel.
Helene lächelte ihn an. »Ich bin gespannt, ob wir diese Woche wirklich die Papiere erhalten«, wechselte sie nun das Thema.
»Christas Anwalt hat meinem Anwalt Bescheid gegeben, dass Christa vor Gericht zu Protokoll gegeben hat, nicht schwanger zu sein. Ich glaube also wirklich, dass die Sache bald bereinigt sein könnte.«
»Abwarten«, bremste Helene ihren Geliebten. »Ich habe mich auch ein wenig schlaugemacht. Selbst wenn Christa richtiggestellt hat, nicht schwanger zu sein, kommt es sehr darauf an, was genau sie erklärt hat. Wenn sie beispielsweise angibt, das Kind verloren zu haben oder etwas in der Art, wird eure Ehe dennoch nicht geschieden werden, weil die vermeintliche Tatsache, dass ihr Beischlaf hattet, gegen eine Zerrüttung spricht.«
»Ich habe nichts mit Christa gehabt. Seit Jahren nicht«, bekräftigte Bernhard.
»Das weiß ich, aber der Richter nicht.«
»Kannst du mir nicht wenigstens die Hoffnung lassen, dass die Scheidung durchgeht?« Er sah sie mit einem flehenden Blick an.
»So gern ich das würde«, sie schüttelte den Kopf, »ich traue dieser Frau alles zu. Und bis ich das Protokoll nicht schwarz auf weiß vorliegen habe und genau das darin steht, was mit Christa vereinbart ist, glaube ich überhaupt nicht, dass die Sache ausgestanden ist.«
Das Telefon klingelte, und Helene stand sofort auf. »Entschuldige mich.« Sie ging hinüber ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab. »Siegl?«
»Guten Tag, Frau Siegl. Hier spricht Dr. Hammerschmidt.«
Helene schluckte. Dr. Hammerschmidt war der Rektor des Internats, auf das Maximilian ging. Dass er an einem Sonntagmorgen anrief, war kein gutes Zeichen. War ihrem Sohn etwas zugestoßen?
»Guten Morgen, Herr Doktor. Ist mit Maximilian alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt.
»Nun, ich formuliere es mal so, dass Ihr Sohn sich bester Gesundheit erfreut. Doch in Ordnung ist leider nichts.«
»Was ist geschehen?«, fragte Helene knapp.
Der Rektor räusperte sich. »Maximilian hat zusammen mit drei anderen Schülern mehrere Eimer Leim an die Wände neben den Fenstern geschmiert und die Gardinen daran festgeklebt. Außerdem hat er sich widerrechtlich Zugang zu den Lehrräumen verschafft und Unterrichtsmaterialien in den Fächern mit Leim übergossen. Der Schaden ist beträchtlich und wird noch genau zu beziffern sein.« Er holte Luft. »Was jedoch weit schwerer wiegt, ist die Einstellung Ihres Sohnes, werte Frau Siegl. Maximilian hat die Vorfälle zugegeben, jedoch nur darüber gelacht. Er achtet fremdes Eigentum nicht und ergeht sich dann den Lehrkräften gegenüber sogar noch in Respektlosigkeit und Beleidigungen.«
»Ich mache mich gleich auf den Weg, damit wir persönlich darüber sprechen können.«
»Das ist eine vortreffliche Idee, Frau Siegl. Jedoch muss ich Ihnen mitteilen, dass wir hier intern für die Missetäter bereits die Entscheidung einer Beurlaubung für neunundzwanzig Tage beschlossen haben. In aller Offenheit möchte ich Ihnen mitteilen, dass Maximilian und seine Kumpane dem Kollegium für eine Weile nicht unter die Augen treten sollten.«
»Sie werfen ihn aus dem Internat?«
»Er wird beurlaubt«, korrigierte er. »Wir hoffen, nach diesen neunundzwanzig Tagen eine Einsicht bei Ihrem Sohn feststellen zu können, und dass sodann in gemeinsamen Gesprächen eine Klärung herbeigeführt werden kann, ob und wie es weitergeht.«
»Ich verstehe«, sagte Helene und seufzte. »Ich bin schon unterwegs, Herr Direktor.«
»Vielen Dank. Wir erwarten Sie. Einen guten Tag.« Damit hängte er ein.
Helene legte den Hörer auf und atmete geräuschvoll aus.
»Was ist passiert?«, fragte Bernhard.
»Max. Er hat sich einige üble Streiche geleistet und ist für neunundzwanzig Tage beurlaubt. Ich fahre gleich los und hole ihn ab.«
»Für neunundzwanzig Tage?«, wiederholte Bernhard.
»Ja«, sagte sie, »genau. Neunundzwanzig. Wenn nämlich ein Schüler dreißig Tage oder eben einen Monat nicht im Internat weilt, ist auch das Schulgeld für diese Zeit nicht fällig. So jedoch habe ich voll zu bezahlen, während ich Max hier bei mir habe und dafür Sorge tragen muss, ihm den Kopf wieder geradezurücken.«
»Soll ich dich begleiten?«
»Bist du wahnsinnig?« Helene stemmte die Hände in die Hüften. »Stell dir nur vor, wie das ausschaut. Ich, die alleinerziehende Mutter, hole meinen offenbar missratenen Sohn ab und werde dabei von einem verheirateten Mann begleitet, mit dem ich frivolerweise die Nächte verbringe. Dann ist das Bild komplett, weshalb mein Sohn nur so werden konnte, wie er eben geworden ist.« Helene spürte, wie ihr die Tränen aufstiegen, ging zum Sessel und ließ sich schwer darauf niedersinken. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht. »Ich habe alles falsch gemacht, Bernhard. Alles. Dabei habe ich mich so sehr bemüht, Max eine gute Mutter zu sein. Doch den Vater kann ich ihm nun einmal nicht ersetzen.«
»Na, na«, versuchte Bernhard sie zu beruhigen. »Nun sei aber nicht so streng zu dir, hörst du?« Er hockte sich vor sie, nahm ihre Hände und suchte ihren Blick. »Du hast getan, was du konntest. Jungen in dem Alter spielen nun einmal Streiche. Das heißt nicht, dass du daran die Schuld trägst.«
»Natürlich tue ich das. Ich bin seine Mutter, und ich hätte ihm rechtzeitig Grenzen aufzeigen müssen. Ich war viel zu nachsichtig mit ihm, das weiß ich nicht erst seit heute.«
»Warst du das wirklich, oder willst du dir jetzt nur selbst die Schuld geben?«, fragte Bernhard.
Helene wischte die Tränen ab. »Ich habe tatsächlich Fehler gemacht«, stellte sie fest. »Ich hatte Max gegenüber wohl ein schlechtes Gewissen. Er war doch noch nicht einmal sieben Jahre alt, als Emil starb, und hatte seither keinen Vater.«
»Aber das ist doch nicht deine Schuld. Wieso hattest du ein schlechtes Gewissen?«
»Ein Junge braucht einen Vater. Und ich hätte dafür Sorge tragen müssen, dass Max wieder einen bekommt. Doch das habe ich nicht gemacht, weil ich mir nicht vorstellen konnte, nach Emil überhaupt noch einen Mann in mein Leben zu lassen.«
Bernhard zog ihre Hand an seine Lippen und küsste sie. »Da habe ich ja Glück, dass du deine Meinung doch noch geändert hast.«
Helene sah ihn an. »Es tut mir leid«, stieß sie hervor. »Doch das geht jetzt auch nicht mehr. Ich muss jetzt für Max da sein und mich darum kümmern, dass alles wieder in Ordnung kommt.«
»Das verstehe ich doch«, sagte Bernhard. »Während der nächsten neunundzwanzig Tage werden wir uns nur selten sehen können.«
»Gar nicht«, stellte Helene entschieden fest. »Wir werden uns gar nicht sehen. Ich werde auch nicht zu dir hinüberkommen, wenn du das meinst.«
»Gar nicht?«, echote er. »Aber du wirst doch nicht vierundzwanzig Stunden am Tag mit deinem Sohn zusammen sein.«
»Ich kann und ich muss«, widersprach sie. »Ich muss jetzt an ihn denken, Bernhard, nicht an mich, nicht an dich, nicht an uns. Verstehst du das nicht?«
»Doch, im Grunde schon. Aber er muss mich doch ohnehin irgendwann kennenlernen. Wäre denn nicht genau in dieser Zeit die beste Gelegenheit dafür?«
»Nein! Auf gar keinen Fall.« Helene sprang auf. »Ich will das nicht.«
»Was meinst du damit, du willst das nicht? Reden wir davon, dass du das im Moment ablehnst, weil ich noch nicht geschieden bin, oder willst du auch in Zukunft nicht, dass ich deinen Sohn kennenlerne?«
Helene spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Sie hatte schon einige Male darüber nachgedacht und sich selbst gefragt, wie die Zukunft aussehen könnte. Wenn sie mit Bernhard zusammen war, schien alles immer so einfach. Und dann, wenn Max eines seiner Besuchswochenenden bei ihr verbrachte, kümmerte sie sich ausschließlich um ihren Sohn und ihr kamen Zweifel. Alles in ihr sträubte sich gegen den Gedanken, diese beiden Welten zusammenzubringen.
»Antworte mir bitte«, drängte Bernhard nun.
»Es kann doch alles so bleiben, wie es ist«, wich sie aus.
Bernhard machte einen Schritt rückwärts. »Was meinst du mit alles kann so bleiben, wie es ist ?«
Helenes Magen krampfte noch mehr, als sie die Enttäuschung im Gesicht ihres Geliebten sah. Sie suchte nach Worten, doch Bernhard kam ihr zuvor.
»Ich dachte, wenn meine Scheidung durch ist, würden wir heiraten.« Er sah sie herausfordernd an. »Wir waren hier in deiner Wohnung, als ich dich fragte und du Ja gesagt hast.«
»Und dazu stehe ich auch«, antwortete Helene. »Doch du bist nicht geschieden, und wer weiß denn überhaupt, wie lange sich das noch alles hinziehen wird.«
Bernhards Blick schien sie zu durchdringen. »Du willst mich gar nicht heiraten, richtig? Du hast nur zugestimmt, weil du wusstest, dass es gerade ohnehin nicht möglich ist. Wie hast du dir das vorgestellt? Dass wir eine nette Zeit miteinander verbringen, und dann, wenn meine Scheidung durch ist und es ernst wird, hättest du mir den Stuhl vor die Tür gestellt?«
»Nein«, widersprach sie. »So ist es nicht. Ich war aufrichtig, als ich dir sagte, dass ich dich heiraten will.«
»Und wie hast du dir das gedacht? Wir heiraten heimlich, und ich behalte drüben meine Wohnung, damit ich mich an den Wochenenden, wenn Max hier ist, dort verstecken kann?«
Helene schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich.
»Was soll das, Leni? Was treibst du hier für ein Spiel mit mir?«
»Ich treibe kein Spiel mit dir«, stellte sie klar und sah ihn an. »Ich liebe dich, Bernhard, das tue ich wirklich. Und das, obwohl ich nicht dachte, dass ich nach Emil noch einmal einen Mann so lieben könnte.«
Seine Haltung entspannte sich ein wenig. »Du hast eine seltsame Art, mir das zu zeigen.«
»Versteh mich doch bitte.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu, nahm seine Hände und sah ihm tief in die Augen. »Ich möchte dich heiraten, sobald du geschieden bist. Ich liebe es, mit dir zusammen zu sein, mit dir Spaß zu haben und zu reden, genauso wie ich es liebe, meine Nächte mit dir zu verbringen. Doch ich weiß einfach nicht, wie ich das meinem Sohn beibringen soll. Mit dir kann ich die Frau sein, die ich bin. Doch für Max bin ich seine Mutter. Und ich habe das Gefühl, dass das einfach nicht zusammenpasst.«
Bernhard senkte kurz den Blick, legte dann den Kopf schräg. »Für einen Moment hast du mir wirklich einen Schrecken eingejagt«, erwiderte er. »Jetzt verstehe ich, was du meinst. Doch glaub mir, das wird sich alles finden.«
»Ich habe einfach Angst, dass Max denken könnte, er wäre nicht mehr das Wichtigste in meinem Leben und dass ich mich hier amüsiere, während er im Internat ist.«
»Wäre das denn so schlimm?«
»Wie bitte?«
»Wäre es wirklich so schlimm, wenn du dir selbst zu leben erlaubst, während dein Sohn gut versorgt ist?«
Helene wusste nicht, was sie hierauf antworten sollte. Sie fühlte sich hin- und hergerissen.
»Ich muss jetzt los«, sagte sie leise. »Der Rektor erwartet mich.«
»Das verstehe ich. Aber versprich mir bitte, dass wir noch mal in Ruhe über all das reden.«
»Nicht solange Max hier ist«, lehnte sie sogleich ab.
»In Ordnung. Aber danach.«
Sie nickte. »Das verspreche ich.«
»Wir werden das lösen«, bekräftigte Bernhard. »Und vielleicht kann ich ja dann für Max sogar der Vater sein, den er deiner Meinung nach braucht.«
»Würdest du das denn wollen?«, fragte Helene und spürte, wie ihr schon wieder die Tränen kamen.
»Ja, das würde ich wollen«, bekräftigte Bernhard. »Max ist ein Teil von dir und war vor mir in deinem Leben. Ich weiß, dass ich mich hineinknien muss, wenn ich künftig auch ein Teil eures Lebens sein will.«
Helene umarmte ihn und gab ihm einen langen Kuss. »Wir bekommen das hin, Bernhard.«
»Ja«, stimmte er zu. »Wir bekommen das hin.«
Wieder küssten sie sich, doch Helene spürte, dass da dieses kleine Körnchen Zweifel war, ob es wirklich gelingen konnte. Sie hoffte inständig, dass der Wind dieses kleine Körnchen davontragen würde und es keinen Halt in der Erde fand, um dort zu wachsen.