17. Kapitel

Ich habe das Gefühl, stärker geworden zu sein. Und ruhiger. Ich bete, dass es so bleibt.

Franz Hansen

Seit dem Geschäftsabschluss am Montag vor einer Woche und dem Gespräch mit Emma am darauffolgenden Morgen, in dem er ihr von seinen Schwierigkeiten berichtet hatte, war Franz ein anderer Mensch. Er wurde morgens weit vor dem Weckerklingeln wach, nahm sich einen Moment, seine Gedanken zu ordnen, und dachte über seinen Traum der letzten Nacht nach, solange er sich an diesen noch erinnern konnte. Die Bilder von gefallenen und verwundeten Soldaten waren noch immer da, und er durchlebte wieder und wieder diesen verheerenden Krieg, der so viel Leid in das Leben unendlich vieler Menschen gebracht hatte. Aber dadurch, dass er nun kein Geheimnis mehr aus diesen Albträumen machte, hatte er das Gefühl, dass sie an Schrecken verloren und die Erinnerung an das, was er erlebt und gesehen hatte, nach und nach verblasste.

Und auch mit Emma verstand er sich besser denn je. Er war bemüht, mit seiner Arbeit so rechtzeitig fertig zu werden, dass ihm nach Feierabend noch immer ein wenig Zeit blieb, um mit Emma und den Mädchen in den gegenüberliegenden Park zu gehen, miteinander zu sprechen und von dem zu erzählen, was sich tagsüber in der Firma ereignet hatte. Danach gingen sie dann gemeinsam nach Haus, und oft bereitete er das Abendessen zu, während Emma die Mädchen bettfertig machte, damit diese nach dem Essen nur noch eine Geschichte zu hören bekamen und dann schliefen.

Alles wirkte auf Franz so viel ruhiger, ausgeglichener und überaus harmonisch. Und auch in der Firma spürte er die Anerkennung seines Onkels wegen des geglückten Geschäftsabschlusses überdeutlich und konnte diesem durch das neu gewonnene Selbstvertrauen mit einer größeren Lockerheit begegnen. Dies schien auch der Onkel wahrzunehmen, der Franz gerade gestern wieder einmal gesagt hatte, wie überaus zufrieden er mit dessen Entwicklung sei.

Soeben hatte Franz sich von Emma in den Tag verabschiedet, seine Tasche mit den Unterlagen gegriffen und sich auf den Weg zur Eisenwarenfabrik gemacht. Er nahm den Weg an der Wien entlang, überquerte dann die Straße und grüßte freundlich die ihm entgegenkommenden Menschen, die er fast jeden Tag traf, weil sie alle offenbar immer zur selben Zeit zum Arbeiten aufbrachen. Vor ihm befand sich nun eine Gruppe Kinder, die in Zweierreihen hinter ihrer Lehrerin hergingen und heute offenbar einen Ausflug machten. Franz lächelte bei dem Anblick. Die Kinder lärmten, doch das machte ihm nichts aus. Einzig, dass sie so dicht an der Straße gingen, auf der ein Auto nach dem anderen fuhr, bereitete ihm ein wenig Sorge. Franz trat auf die Straße, um die kleine Gruppe zu überholen. Zwei kleine Jungen stritten sich, der eine schubste den anderen, der dann gegen Franz prallte. Und genau in diesem Augenblick knallte es so heftig direkt neben Franz, dass er sofort seine Tasche fallen ließ.

»Runter!«, brüllte Franz. »In Deckung!« Er warf sich auf die Kinder, die neben ihm standen, und riss sie zu Boden. Die schrien auf, ein Tumult brach aus. Franz hielt die Kinder unter sich fest, die sich nach Kräften wehrten. Immer weitere versuchte er zu packen, um sie ebenfalls zu Boden zu ziehen.

»Hören Sie auf! Hilfe, zu Hilfe!«, rief die Lehrerin und bemühte sich mit aller Kraft, Franz von den Kindern wegzuziehen.

Einige Passanten kamen herbeigeeilt, zerrten an seiner Kleidung. Franz wehrte sich, so gut es ging. Es waren Schüsse gefallen. Er musste doch diese Kinder beschützen.

»Lassen Sie die Kinder los. Sofort!«, brüllte ihn ein Mann an und stieß ihn heftig beiseite. Erst jetzt sah Franz auf. Um ihn herum hatte sich eine Menschentraube gebildet, alle starrten ihn an. Der Mann, der ihn soeben gestoßen hatte, stand mit geballter Faust da, bereit, ihm einen Schlag zu versetzen. Franz hatte das Gefühl, nicht zu begreifen, was geschehen war. Es war doch ein Schuss gefallen.

»Es wurde geschossen«, brachte er stammelnd hervor.

Ein Mann, den er nur ein paar Jahre älter schätzte, als er selbst war, trat aus der Menge heraus, reichte ihm die Hand und zog ihn hoch.

»Eines der Autos hatte eine Fehlzündung«, sagte er, und Franz konnte im Blick des Mannes lesen, dass er verstand, was sich soeben ereignet hatte, während Franz selbst noch immer nicht wusste, was er denken sollte. Sein Körper begann unkontrolliert zu zittern.

Franz sah zu der Lehrerin, die ihn wütend anfunkelte. »Sie haben den Kindern Angst gemacht«, stieß sie vorwurfsvoll hervor.

Franz blickte auf die Kinder, einige von ihnen weinten.

»Es tut mir leid«, stammelte Franz. »Es tut mir so leid. Bitte, ich wollte nicht …« Er machte einen Schritt auf einen der Jungen zu, den er zu Boden gerissen hatte. Dieser wich ängstlich zurück und versteckte sich hinter der Lehrerin.

»Sehen Sie, was Sie angerichtet haben? Können Sie mir sagen, wie ich das den Eltern dieser Kinder erklären soll?«

»Sie sollten sich was schämen, die Kinder so zu erschrecken«, wetterte eine andere Frau nun, und auch andere Passanten ließen einige Vorhaltungen verlauten.

Der Mann, der Franz hochgeholfen hatte, trat an seine Seite. »Es ist ja keinem was passiert«, stellte er fest und hob beschwichtigend die Hände. »Wir können also alle wieder unserer Wege gehen.«

Einige der Umstehenden machten sich kopfschüttelnd davon, andere blieben noch stehen.

»Davon, dass nichts passiert ist, kann ja wohl keine Rede sein«, empörte sich die Lehrerin nun. »Sehen Sie das hier?« Sie deutete auf den Jungen, der sich hinter ihr versteckt hatte. »Huberts Hose hat Risse an den Knien. Und auch Josefs, Walters und Peters Kleidung sind verschmutzt und beschädigt. Was denken Sie, wer diesen Schaden bezahlen soll?«

»Ich«, sagte Franz leise, der nichts als unendliche Scham verspürte. »Es tut mir wirklich leid. Ich dachte, jemand hätte geschossen«, entschuldigte er sich abermals.

Die Lehrerin schüttelte missmutig den Kopf. »Gewiss werden die Eltern mir am Ende die Schuld geben. Wie kann ich Sie erreichen, damit Sie für den Schaden aufkommen?«

Franz zog eine der Visitenkarten hervor, die Florentinus für ihn hatte drucken lassen.

Die Lehrerin nahm sie ihm mit einer raschen Bewegung ab. »Nun gut, Herr …«, sie las ab, »Hansen. Ich werde mich bei Ihnen melden.« Sie wandte sich an ihre Schutzbefohlenen. »Kommt, Kinder. Stellt euch wieder in Zweierreihen auf. So ist es gut. Gehen wir. Und los.« Sie ging voran, und die Kinder folgten ihr brav, worauf sich auch die restlichen Passanten trollten. Nur der Mann, der Franz geholfen hatte, blieb noch stehen.

»Erinnerungen an die Front, nicht wahr?«, fragte er und streckte Franz dann die Hand entgegen. »Lorenz Bäumler, ebenfalls ehemaliger Soldat.«

»Franz Hansen«, stellte Franz sich vor, der Mühe hatte, endlich das Zittern unter Kontrolle zu bringen.

»Geht es jetzt wieder?«, fragte Bäumler.

»Sicher.« Franz sah zur Straße. »Ich dachte wirklich, jemand schießt.«

»Ich im ersten Moment auch«, zeigte Bäumler Verständnis. »Egal, was wir tun, das hört wohl niemals auf. Als meiner Frau neulich eine Schüssel herunterfiel, bin ich gleich in Deckung gegangen. Sie hätten ihr Gesicht sehen sollen.«

»Danke«, sagte Franz, »für Ihre Hilfe. Die müssen mich hier alle für verrückt gehalten haben.«

»Sie wären verrückt, wenn so was spurlos an Ihnen vorbeigegangen wäre«, urteilte Bäumler und schüttelte nochmals Franz’ Hand. »Nehmen Sie es sich nicht zu Herzen. Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen«, wiederholte Franz und blieb noch stehen, als Bäumler längst aus seinem Blickfeld verschwunden war. Wie lange er so verharrte, wusste Franz nicht. Nur dass seine Beine sich von selbst irgendwann wieder in Bewegung setzten. Wie hatte das nur geschehen können? Soeben, daheim, war doch noch alles gut gewesen. War es nicht erst Augenblicke her, dass er sich von Emma verabschiedet und sich so wohl und sicher gefühlt hatte? Wie konnte es von einem Moment auf den anderen wieder vollkommen anders sein? Was hatte der Mann, dessen Name ihm schon jetzt nicht mehr einfallen wollte, gesagt? Dass es nie aufhören werde, egal, was wir tun? Franz ließ der Gedanke nicht los. Hatte der Fremde damit recht? Würde es wirklich nie aufhören? Niemals? Franz war so sicher gewesen, dass es ihm gelingen würde. Dieses Mal war alles anders, dieses Mal hatte er sich nicht versteckt. Er hatte mit Emma darüber gesprochen, hatte die Hilfe seines Onkels angenommen und sich mit anderen Veteranen darüber ausgetauscht, was sie erlebt hatten. Er hatte doch alles getan, wirklich alles, um dieser endlosen Schleife von Schuld, Trauer und Entsetzen zu entrinnen. Er hatte es versucht, wieder und wieder. Doch konnte es sein, dass der Fremde soeben recht hatte mit dem, was er gesagt hatte? Was, wenn es wirklich nie aufhörte, was, wenn sein Leben immer so weiterginge und er immer wieder an diesen Punkt käme? Er hätte eines der Kinder verletzen können. Was wäre dann gewesen? Stellte er mit seiner labilen Psyche am Ende sogar eine Gefahr für andere dar? Wie würde er damit weiterleben können? Was, wenn Emma einmal nicht da wäre und er sich um Johanna und Hermine kümmerte, während irgendetwas geschah, bei dem er die Kontrolle verlor? Wenn er überreagieren und seinen Töchtern schaden würde? Die Gedanken kreisten in seinem Kopf, und es gelang ihm nicht, sich aus dem Strudel der Verzweiflung zu befreien. Die Gesichter der Kameraden, die im Krieg ihr Leben gelassen hatten, tauchten vor ihm auf. Es war, als wollten sie ihn dafür bestrafen, dass er leben durfte und sie nicht. Alles um Franz herum drehte sich. Er wollte das alles nicht mehr ertragen. Wenn er ihnen doch nur nachfolgen könnte.