24
Der schäbige Haufen Lumpen unter der Brücke bewegte sich ruckartig. Gendreau war von einem verstohlenen Geräusch geweckt worden. Sein sonst perlmuttblondes Haar wurde ihm von der Morgenbrise um den Kopf geweht. Nur jetzt war es grau und strähnig vom Ruß.
Hier unten war es noch dunkel. Der Magier saß auf einem Geröllhaufen neben einer der Streben, dem verunglückten Winnebago gegenüber. Wind blies ihm Rauch ins Gesicht. In den schlanken Händen hielt er den Osdathregar. Robin hatte ihm die Waffe gegeben, ehe er losgerannt war, um das Mädchen einzufangen.
Das Mädchen …
Am Grund der Schlucht sah er das getrocknete Blut, wo Marina Valenzuela aufgeschlagen war. Ein Geier hockte auf einen Stein daneben und inspizierte den schäbigen roten Fleck in der Hoffnung, Aas zu entdecken. Tucos grotesker Eidechsentorso lag noch immer dort unten, ein Haufen aus Grün und Schwarz, und der Geier pickte an einem Stück Fleisch, das aus dem offenen Bauch ragte.
Die Biker-Gang hat Marinas Leiche wohl mitgenommen.
Die gelben Eidechsenaugen starrten leblos zu ihm herauf, während der Geier an Tucos Gedärmen zupfte. Gendreau suchte sich einen baseballgroßen Stein und warf ihn. Der Vogel schwang sich schwerfällig in die Luft.
»Ach Gott! Aaahhhh …« Er setzte sich wieder und drückte die Fäuste auf die Augen.
So ein verfluchter Feigling.
Erinnerungen stiegen in ihm auf, Bilder erschienen ruckartig vor seinem inneren Auge: der Kampf in der letzten Nacht, wie er Carly verfolgt hatte, die Flucht in die Dunkelheit.
»Warte! Komm zurück!«
Das Mädchen rannte und rannte und rannte mitten durch den Poolbereich.
»Halt!«
Werwölfe, die sie jagten. Zwei. Drei der geifernden, lachenden Untiere hetzten sie durch das Motel.
Sie mussten sich verstecken. Carly rannte zur Brücke. Der Magier wusste nicht, was sie vorhatte – vielleicht suchte sie Sicherheit im Winnebago, oder vielleicht trieb es sie nach unten in die Schlucht zu ihrer Mutter – , aber er hatte den Einfall, sich unter der Brücke zu verstecken. Einerseits war er überzeugt, dass es überhaupt keinen Sinn hatte, weil sie ihn sofort finden würden, andererseits war es die einzige Deckung in Sichtweite. Er überholte sie mit seinen italienischen Lederschuhen und rannte zum Geländer der Brücke.
»Dort unten!«, rief er ihr zu und rutschte in die Schlucht. Felsen um ihn herum setzten sich in Bewegung. Aber er war allein.
Das Mädchen war ihm nicht gefolgt.
Schritte über ihm. Sie rannte weiter, über die Brücke. Er wollte schreien: »Hier unten!«, doch dann hörte er Schnaufen und Krallen auf Asphalt, weswegen er lieber den Mund hielt.
»Nein!«, schrie Carly, als die Wölfe sie erwischten. »NEIN!«
Gendreau war an Ort und Stelle wie angewurzelt stehen geblieben, sein Herz klopfte, er zitterte wie eine Stimmgabel und bereitete sich auf ihre Schreie vor, wenn die Wolfsmänner sie zerfetzen würden, doch er hörte nur Flüche und das Geräusch von heftiger Gegenwehr.
»Lasst mich los!«, schrie sie. Sie schleppten sie davon.
Voller Panik verkroch er sich im Schatten der Brücke oberhalb der Schlucht, wo er wie ein Gargoyle stand, zitterte und dem Pochen seines Herzens in seiner Brust lauschte, bis er sicher war, dass die Werwölfe abgezogen waren. Dann weinte er vor Angst und Scham.
Ein Motor. Kam näher. Wurde lauter.
Der Magier öffnete die Augen. Ein Fahrzeug klapperte über die Brücke, knurrte den langen, staubigen Highway entlang und kam quietschend vor dem Motel zum Stehen. Eine Tür wurde zugeschlagen.
Der Magier kletterte unter der Brücke zur Kante und spähte hinüber: Von dem Haus hinter dem Hügel waren nur verkohlte Balken zu sehen, die schwarz in den grauen Himmel ragten. Über der ganzen Szene hing Rauch wie ein Tornado, stieg in die Höhe und trieb nach Osten. Im Vorgarten kniete jemand vor einer Frau in Jeansjacke. Von hier sah es aus wie Navathe. Die Frau richtete ein Jagdgewehr auf sein Gesicht. Navathe war verwundet, hielt sich die Seite und hatte einen großen Blutfleck auf dem Batman-T-Shirt.
»Hey!«, rief Gendreau von der Brücke.
Beide, Mann und Frau, schauten zu ihm herüber. Die Frau fuhr herum, zielte mit dem Gewehr den Hügel hinunter und legte den Schaft an die Schulter. POCK! Eine Kugel sauste vorbei und prallte klingelnd vom Geländer neben ihm ab. Gendreau schrie und warf sich hin.
Es folgte kein zweiter Schuss.
Noch immer auf dem Boden spähte er durch sein strähniges Haar zum Hügel hinüber. Navathe sprach mit der Frau, und sie hatte die Waffe gesenkt.
Gendreau steckte den Osdathregar hinten in den Gürtel und ging mit erhobenen Händen den Hügel hinauf. Seine teuren Schuhe gruben sich in die lockere Erde. Große Bereiche des Hangs waren abgebrannt, das Gras versengt und schwarz. Es knirschte unter seinen Sohlen. Verkohlte Wolfsleichen lagen auf dem Grundstück, wenigstens zwanzig oder dreißig, und rauchten in der Morgenluft. Zu seinem Entsetzen rochen sie nach Schweinebraten.
Als er oben ankam, ging er direkt auf Navathe zu, hielt den heilenden Ring vor sich und beschäftigte sich mit der Wunde in der Flanke des Pyromantikers. »Danke«, sagte Navathe und krabbelte durch Ruß und Dreck auf ihn zu.
»Gott sei Dank ist es nicht wieder eine Schusswunde.«
»Was meinen Sie mit Magier?«, fragte die Frau. Sie hielt das Jagdgewehr, als hätte sie es ständig bei sich, und hatte schwarze glatte Haare, eine Latina. Sie war schlank und fit, trug nur Jeans und zweckmäßige Kampfstiefel und sah aus wie eine Überlebende in einem Zombie-Film.
»Genau, was ich gesagt habe, Lady«, sagte Navathe. »Unnnngh! Magier, wie in Leute, die Magie beherrschen.«
»So was machen Sie?«, fragte sie und machte eine Geste mit dem Ellbogen. »Magie?«
Kolibris aus rotem Licht flackerten zwischen dem Ring und den tiefen Kratzern von den Wolfskrallen in Navathes Seite. Während sie zuschauten, schloss sich die ausgefranste Haut langsam. »Das ist mein Beruf, Ma’am«, sagte Gendreau. »Magie.«
Ein Klingelton durchschnitt die Morgenstille und erschreckte sie mit einer Stimme, die etwas auf Spanisch schrie. Die Frau starrte die beiden Männer weiterhin misstrauisch an, klemmte das Gewehr unter den Arm, holte ihr Telefon hervor und antwortete in der gleichen Sprache. Währenddessen ließ sie die zwei nicht aus den Augen.
»Andy«, sagte Navathe.
»Ja?«
Navathe rieb sich verzweifelt das Gesicht und zögerte, als wären die Worte kalte, harte Diamanten, die in den Tiefen seines Kopfs verborgen waren und die er zuerst freischaufeln musste. »Ich glaube, sie hat es nicht geschafft.« Seine fröhliche Zuversicht hatte sich verflüchtigt, seine Hände zitterten. »Sie war im Haus, als es einstürzte.«
Er brauchte nicht zu fragen, wer mit sie gemeint war.
Gendreaus Gesicht und Hände wurden kalt, sein Bauch begann zu grummeln, sein Herz wurde schwer wie ein Stein, und der Mut verließ ihn. Er stand auf, ohne ein Wort zu sagen, und ging auf tauben Beinen zu der rauchenden Ruine.
Der Großteil der Veranda hatte das Feuer überlebt, es gab lediglich eine schwarze Spur, die zur vorderen Treppe führte. Das Dach war allerdings eingestürzt und lag als Haufen Kohle über dem Rest.
Der faulige Geruch von verbrannter Farbe und Unrat hing in der Luft. Als einzige Geräusche waren das leise Knistern versteckter Brandherde, das hohle Hauchen des Windes und der Klang seiner Schuhe auf der Erde zu hören. Gendreau taumelte um das Haus herum und versuchte, in den Trümmern einen Eingang zu finden. Das Haus war in sich zusammengebrochen und sah jetzt aus wie die Überreste eines riesigen Lagerfeuers, wie ein Haufen schwarzer Stacheln. »Sie ist ein Dämon, sie ist ein Dämon«, murmelte er endlos vor sich hin und suchte die schwarzen Ecken des Hauses ab. »Sie ist ein Dämon, sie ist ein Dämon. Natürlich hat sie überlebt. Sie leben im Feuer, oder? Sie sind von Feuer erfüllt. Bei ihnen geht es nur um Feuer. Feuer, etwas anderes kennen sie gar nicht, oder?«
Die schwarze Wand der Küche war noch überwiegend intakt, sie war jedoch umgekippt und bildete eine Art Torbogen, durch den Gendreau auf Händen über eine malträtierte Schatzkarte aus Linoleum ins Haus krabbelte.
Rechts führte eine Schräge aus verkohltem Holz hinauf ins Freie, wo sich zuvor der erste Stock befunden hatte. Gendreau spähte durch das Loch neben dem Kühlschrank und sah, wo der Wohnzimmerboden in den Keller gekracht war. »Robin?«, fragte er oder versuchte es zumindest. Die Stimme versagte ihm. Er stand in der zerstörten Küche, drückte den Osdathregar an die Brust und versuchte es erneut. »Robin? Sind Sie da drin?« Seine Brust spürte einen heißen, schweren Schmerz, während sein Blick durch die Ruine schweifte. »Kommen Sie schon, Miss Martine, Robin, Ihnen geht es gut. Ihnen muss es gut gehen. Es muss so sein.«
Navathe schlüpfte unter der Küchenwand hindurch. »Hey«, sagte er sanft.
»Was?«
Der Pyromantiker zeigte auf den Boden eines Schuttberges, wo die Decke über der Kellertreppe eingestürzt war. Er sagte nichts, und er brauchte nichts zu sagen.
Gendreau überlief es heiß und kalt, dann wandte er sich ab und schritt in den Resten der Küche herum. Ein Schluchzen löste sich tief aus seinem Bauch. Eine verkohlte Hand ragte unter der eingestürzten Decke hervor, zu einer schwarzen Klauenfaust verbrannt.
Der Curandeiro steckte den Dolch wieder in den Gürtel und gesellte sich widerwillig zu Navathe, der begann, den Schutt von dem Körper zu räumen, zu dem die Hand gehörte. Gemeinsam zerrten sie verbranntes Holz zur Seite und warfen es in den Keller, wo es krachend landete. Rauch und Ruß wallten auf. Darunter kam eine Gestalt zum Vorschein, die sich in Embryohaltung zusammengekauert hatte, ein Geist aus Kohle.
Schwaches orangefarbenes Licht flackerte entlang der Adern auf der verkohlten Haut, wo das Gewebe im Inneren noch glühte. Die Zähne waren weiße Perlen in einem schwarzen Mund.
Tränen strömten aus Gendreaus Augen. »Nein, nein, nein, nein, nein.«
»Es tut mir so leid, mein Freund«, murmelte Navathe.
Voller Verzweiflung und Unglauben starrte er sie an. »Ich weiß nicht, ich weiß einfach nicht, wie konnte das passieren?« Gendreau wischte sich die Tränen mit den Armen aus dem Gesicht und hinterließ eine graue Kriegsbemalung. »Ich weiß nicht, wie Dämonen funktionieren, aber verflucht. Verflucht, Mann. Wie kann das sein? Ich verstehe es nicht.« In seinem Hirn bewegte sich ein Wirrwarr von losgelösten Gedanken, die alle um Aufmerksamkeit buhlten. »Sie hat ihren verdammten Arm nachwachsen lassen. Das hätte nicht passieren dürfen …«
Seine Hände schmerzten plötzlich. Gendreau betrachtete sie.
»Au.« Der silberne Osdathregar in seinen Fäusten. »Au! Mist!« Er wurde heiß, als hätte man ihn ins Feuer gehalten. Sekunden später war die Hitze unerträglich. Er ließ den Dolch auf den Boden fallen.
Dünner blauer Rauch wie der ölige Qualm aus dem Schornstein einer Modelleisenbahn stieg von dem Linoleum unter dem Dolch auf, als würde er ein Loch hindurchfressen.
»Was in aller Welt ist das?«, fragte Navathe.
Knack.
Navathe zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück. »Oh mein Gott! Oh verflucht, mein Gott, Andy!«
Die Tote bewegte sich.