19

Damals

Irgendwo in der Nähe klingelten Windspiele und gesellten sich zum Chor der Vögel, die draußen in den verkümmerten Wüstenbäumen zwitscherten. Wegen der schwarzen Rußflecken sah es aus, als wären tausend Pfund Feuerwerkskörper explodiert. Das Mädchen schlich leise durch die bröckelnden Gebäude und Mauern, die so gebaut worden waren, dass sie einem afghanischen Dorf ähneln sollten.

Vor Jahrzehnten, bevor die Armee das Gelände gekauft und in einen Übungsplatz für den Häuserkampf umgewandelt hatte, war Hammertown als Drehort für einen Spaghetti-Western mit dem Titel The Whirlwind of the Thorn Tree genutzt worden, und die Gebäude in ihrer Umgebung strahlten noch ein wenig von ihrem früheren Flair aus, selbst mit Stacheldraht und arabischen Schildern.

Als die Armee 1998 einen besseren Übungsplatz auf dem Gelände von Fort Hood anlegen ließ, nutzte die Polizei von Killeen manche Bauten und ließ andere verfallen. Später war es dann ein Treffpunkt für Teenager geworden, worauf Graffitis, benutzte Kondome und Bierdosen hingedeutet hatten, aber Heinrich hatte den Müll beseitigt und war in das größte Gebäude eingezogen, ein vierstöckiges Übungshaus für Feuerwehrleute. Die Türen waren eingetreten gewesen, aber Heinrich hatte sie gegen neue Stahltüren ausgetauscht – jede mit zwei Riegeln gesichert und hatte geschweißte Gitter aus Bewehrungsstäben vor die Fenster gesetzt.

Robin umklammerte eine Neun-Millimeter-Beretta mit den Händen. Sie bewegte sich vorsichtig, die Pistole erhoben und schussbereit, die Daumen übereinander, wie Heinrich es ihr beigebracht hatte.

In einem Fenster fuhr krächzend eine hölzerne Silhouette hoch. Darauf war primitiv ein Mann mit fürchterlichem Gesicht gemalt, der die Hände hielt, als wollte er jemanden erwürgen. Robin gab einen ohrenbetäubenden Schuss ab. Eine leere Patrone klimperte an die Wand. Die Silhouette kippte um.

Zu ihrer Linken stand eine Silhouette hinter einer Straßenbarrikade auf. Sie schoss sie ebenfalls nieder. Peng!

Aus irgendeinem Grund hatte er sie eine Schutzausrüstung anlegen lassen. Hockeymaske über dem Gesicht, Hockeyschoner an Händen und Füßen, eine Catcher-Weste, die aussah, als hätte sie schon einige Bälle einstecken müssen, und die Beine ihrer Jeans und die Ärmel ihres Hemds wurden mit mehreren Schichten Klebeband umwickelt. Und das alles über der Panzerweste und den Knöchelgewichten. Es ließ sie noch mehr schwitzen als sonst. Sie bewegte sich durch den labyrinthartigen Parcours eine verschlungene, schmale Straße entlang und feuerte Neun-Millimeter-Kugeln auf Holzbretter in Menschengestalt ab. Sie tauchten in Ecken und Fenstern auf, erhoben sich hinter Gebüschen und schwangen sich von den Unterseiten der Balkone. Heinrich lief im Zickzack zwischen den Gebäuden herum und zog die Strippen.

Drei Silhouetten noch, rechts rum, geradeaus durch den Korridor, eine Silhouette, dann …

Sie wurde schneller, ihre Schüsse wurden exakter. Sie drückte richtig ab, verzog nicht mehr, und sie nahm den Finger vom Abzug, wenn sie nicht schoss. Eine Frau mit irrem Gesicht schob sich hinter einer Fensterbank vor, die Augen groß, die Hände über dem Kopf. Peng! Ein Loch in der Brust. Die Silhouette wirbelte davon.

Heißer Atem klebte die verschwitzte Hockeymaske an ihr Gesicht. Robin betrat durch eine Tür einen dunklen Gang.

Auf halber Strecke kam eine Silhouette hoch, und sie verpasste ihr eine Kugel. Sie wandte sich nach links in den nächsten Gang, wo sie die Pistole in Anschlag brachte, aber das Ziel, das sie erwartete, kam nicht.

Sie lud die Beretta nach und drückte gegen zwei Sperrholzplatten, die nach innen aufklappten und eine Tür simulierten, durch die sie schritt. Normalerweise würde nun darauf das Bild eines riesigen Wesens auftauchen und erfordern, dass sie das gesamte Magazin leerschoss, doch diesmal war auf die Rückseite der Sperrholzplatten eine wütende Menschenmenge gemalt, die auf sie zurannte und die Hände wie Katzenkrallen gekrümmt hielt. Sie fuhr herum und schoss. Peng, peng, peng-peng!

Schwarze Löcher erschienen in Gesichtern und Brustkörben. Klick. Der Verschluss blieb hinten. Leer. Sie ließ das Magazin aus der Waffe fallen, sicherte die Beretta und legte Pistole und Magazin vorsichtig auf einen kleinen Beistelltisch.

»Ich bin durch.« Heute lag ein Messer auf dem Tisch, ein übel aussehendes Ka-Bar-Kampfmesser, wie es vermutlich irgendein Marine in Vietnam getragen hatte. »Würdest du mir vielleicht verraten, warum ich diesen ganzen Kram heute tragen muss? Kommst du jetzt raus und verprügelst mich mit einem Stock? Wenn du mir ein Messer in die Hand drückst, steche ich wieder zu.«

Mehrere Sekunden Stille vergingen, während sie auf eine Antwort wartete.

»Bist du noch da, alter Mann?«

Quietsch, quietsch, quietsch. Flaschenzüge an den Wänden bewegten sich, um die Sperrholztür wieder aufzuziehen, und gaben den Blick auf den dunklen Gang frei. Irgendetwas klackte im Schatten, ein metallisches Geräusch, als würde ein Vogelkäfig geöffnet. Tick-tick-ticka-tick-tick. Klang, als würde Wasser auf Stein tropfen. Schwerer Atem.

»Nimm das Messer, Mädchen«, sagte Heinrich.

Ein Deutscher Schäferhund. Absolut riesig – achtzig oder neunzig Pfund, so wie es aussah. Weißer Flaum säumte Augenhöhlen und Lippen. Der Hund knurrte und machte ihr Angst.

Das Knurren wurde tiefer, der Hund senkte den Kopf und legte die Ohren an. Unter den Augenbrauen hervor starrte er sie an.

»Nimm das Messer«, sagte Heinrich.

»Ich ersteche keinen Hund, Arschloch.«

»Er heißt Luke. Lucky Luke, aber seine früheren Besitzer haben ihn LT genannt. Ein pensionierter Polizeihund. Zehn Jahre alt und kann nur noch auf einem Auge sehen. Er läuft ein bisschen schief, weil ihn ein Junkie mit einem Schraubenzieher in die Schulter gestochen hat. Habe ihn von jemandem gekauft, der Hundekämpfe veranstaltet, und der hat ihn aus dem Hof eines Cops gestohlen.«

»Was?«

Der Hund griff sie an. Robin drehte sich um und lief weg. Lucky Luke verfolgte sie.

Der Gang endete an einer Tür. Sie stieß sie mit der Schulter auf und taumelte die Treppe dahinter nach unten. Dort befand sie sich auf einer Art Platz inmitten von Gebäudefassaden. Sie hatte keine zehn Meter geschafft, ehe sie stolperte, das Gleichgewicht verlor und stürzte, wobei sie sich die Hände aufschrammte. Der Hund war sofort bei ihr und rammte die scharfen Zähne in ihr gepolstertes linkes Handgelenk.

»Hol ihn von mir weg!«, schrie Robin und schlug mit der freien Hand auf Lucky Lukes Gesicht ein. »Ruf ihn zurück!« Der Hund zerrte gnadenlos, unerbittlich und wild an ihrem Arm. Wich nicht vor ihren Schlägen zurück. Bei jedem Ziehen knurrte er böse wie eine Violine, die mit einer Säge gespielt wird.

»Steh auf, Dummkopf!«, schrie Heinrich, der nach draußen kam.

Glücklicherweise hatte Luke sich ihren Unterarm gepackt, nicht ihre Finger. Robin wälzte sich herum, bis sie ein Bein unter sich bekam. Als sie auf die Knie kam, zog und riss der Hund an ihrem gepolsterten Handschuh. Sie schützte sich mit der anderen Hand und stand auf.

»Schlag ihn!«, schrie Heinrich. »Schlag ihm ins Gesicht!«

»Mach ich ja«, brüllte sie ihn an. Wie in einem Albtraum konnte sie mit ihren härtesten Schlägen den knurrenden Hund nicht loswerden, als wäre sie unter Wasser und könnte die Faust nicht schnell genug bewegen.

»Ruf ihn ZURÜCK

Klappernd rutschte etwas über den Beton und prallte von ihrem Fuß ab. Das Kampfmesser.

»Du musst schon selbst was tun«, sagte Heinrich. Luke zerrte und zog sie auf ein Knie. »Er hört nicht auf, ehe du tot bist oder er.«

»Warum rufst du ihn nicht zurück?«, rief Robin in wachsender Panik.

»Wenn die Hexen auf dich losgehen und anfangen dich zu fressen, wird sie niemand zurückrufen. Sie werden dich wie einen Hund durch die Straße zerren und Stück für Stück auseinanderreißen, und dann werden sich dich fressen! Hexen fressen Menschen, Robin! Sie sind Kannibalen! Das tun sie wirklich! Sie entführen Kinder, stecken sie in Käfige und kochen sie!«

Inzwischen war das Messer hinter ihr. Luke hatte sie erfolgreich davon weggezerrt. Robin hielt dagegen und begann ein Tauziehen um Leben und Tod. Das war die einzige Möglichkeit, wie sie sich retten konnte. Sie musste sich das Messer holen.

»Wenn ich erst kommen und dir das Messer in die Hand drücken muss, fahre ich dich anschließend nach Killeen und setzte dich am Straßenrand ab!«, schimpfte Heinrich oben von der Treppe. »Meinetwegen kannst du dann fürs Abendessen auf den Strich gehen, ist mir scheißegal! Ich wette, zu mehr taugst du sowieso nicht!«

Die Hitze stieg Robin ins Gesicht, und sie stellte sich vor, wie sie sich das Messer schnappte. Aber anstatt den Hund abzustechen, wollte sie auf Heinrich losgehen. Sie zerrte und gewann ein wenig an Boden. Lukes Zahnfleisch hinterließ Blutflecken auf dem Armschutz. Der Hund knurrte giftig und stemmte die Pfoten auf den Boden. Robin schlug ihm, so hart sie konnte, aufs Ohr.

»Mach schon!«, schrie Heinrich und applaudierte langsam. »Beweis, dass du’s draufhast, Mädchen!«

Zu ihrer Überraschung ließ der Hund los. Sie warf sich in Richtung des Messers und versuchte verzweifelt, es mit der dicken Handschuhhand zu packen. Hab dich. Sie wälzte sich herum. Der Hund biss in die Hockeymaske.

Zähne bohrten sich durch Augenlöcher und andere Löcher, rissen ihre Nase auf und zerkratzten ihre Lippe. Sie schrie und hätte das Messer vor lauter Angst fast vergessen. Luke zerrte die Maske von ihrem Gesicht. Die Nylonriemen knallten wie Schüsse in ihren Ohren, und verwirrt wich der Hund zurück.

Spuckte die Maske aus und ging wieder auf sie los.

Diesmal streckte sie das Messer aus.

Die Spitze der Klinge traf ihn direkt unterhalb des Halsbands und glitt bis zum Heft in den harten Brustmuskel.

Selbst das bremste ihn nicht. Luke schnappte weiter nach ihrem Gesicht, sabberte und knurrte und war völlig außer sich, schnappte nach allem, was er erreichen konnte. Sie hatte die Arme gerade ausgestreckt, die Ellbogen durchgedrückt und ihre Muskeln zitterten. Nur ein Fehler, dann hätte sie seine Zähne in ihrer Kehle. Sie spielte Schildkröte und zog das Kinn unter die Catcher-Weste.

Nun ließ er von ihrem Gesicht ab, fiel auf ihren Arm und knurrte, zuckte wie eine sterbende Schlange, rollte sich zusammen, wurde steif. Wütendes Knurren wurde zu höherem und höherem Fiepen, bis es nur noch ein Winseln war.

Er hustete durch die Zähne und sprenkelte ihren Handschuh mit Blut.

Nein, nein, nein …

Tränen stiegen Robin in die Augen, als den Hund die Kräfte verließen.

Lukes Beine gaben nach, und hechelnd kniete er neben ihr. Schließlich legte er sich in den Staub und das Blut und sah sie aus dunklen Honigaugen an.

Robin ging auf die Knie und löste ihre Finger von dem Messer. Der Griff des Ka-Bars bebte im Takt des Hundeherzens, Blut strömte hervor und bildete eine Lache.

Sie ließ sich auf die Hände fallen.

Sie weinte sich die Augen aus. Tränen fielen in den Staub zwischen ihren blutigen Handschuhen.

Sie schluchzte, bis ihr schlecht wurde, dann übergab sie sich, bis nur noch gelbe Galle kam. Heinrich sagte nichts, zündete nur einen seiner Kokosnuss-Zigarillos an, saß rauchend auf der Treppe und schaute ihr beim Weinen zu.

Stich den Hurensohn ab, rief es in ihrem Kopf.

Robin drehte sich zu dem Hund um und zog das Messer aus der Brust. Blut träufelte aus der Wunde auf den Boden. Sie marschierte auf ihren rauchenden Lehrer zu und hatte die feste Absicht, ihn aufzuschlitzen.

»Er hat gehumpelt, weil er ein Osteosarkom hat«, sagte Heinrich.

Robin zögerte.

»Knochenkrebs. Fortgeschritten, überall in der Wirbelsäule und den Hüften. Er wäre sowieso bald gestorben, Robin Hood. In zwei Monaten, spätestens in einem halben Jahr.« Heinrich sprach aus dem Mundwinkel, während der Zigarillo zwischen seinen Lippen hing. »Du hast es nicht gewusst, aber du hast ihm einen Gefallen getan.«

Kranke, ohnmächtige Wut wallte in ihr auf. Robin starrte ihn böse an. »Was für ein Scheißgefallen soll das gewesen sein?«, knurrte sie durch die zusammengebissenen Zähne. Sie hätte sich am liebsten auf ihn gestürzt, hätte ihn zerkratzt wie ein Affe oder ein verdammter Chupacabra, hätte ihn gebissen und gebissen, ins Gesicht, in die Nase, in den Hals. Der Zorn beherrschte sie vollständig. Von allen Dingen, zu denen er sie im Namen ihrer eigenen Rache getrieben hatte, war dies das Schlimmste. Es war eine Sache, auf Zielscheiben zu schießen oder sich von ihm schlagen zu lassen, aber …

Mit jeder Faser ihres Wesens wollte sie sich auf ihn stürzen. Sie wusste, er konnte sie fertigmachen, ohne in Schweiß auszubrechen. Vermutlich würde er nicht einmal den Zigarillo aus dem Mund nehmen. Gottverfluchte Kokosnüsse.

»Du hast ihm den Tod eines Kriegers gewährt«, sagte der Bastard.

Robin starrte ihn ungläubig an.

»FICK DICH!«, brüllte sie und warf das Messer nach ihm. Heinrich duckte sich, und das Messer flog über seinen Kopf und landete scheppernd auf der Treppe. »Fick dich und deinen manipulativen Scheiß!« Sie ging auf ihn los und wollte ihm ins Gesicht schlagen, aber er packte ihre Hände und drehte sie in einer unbeholfenen Pirouette, dann schob er sie dahin zurück, wo sie hergekommen war. Sie fiel bäuchlings hin, stolperte neben dem Hund auf Hände und Knie.

»Ich kann dich dazu bringen, alles zu tun«, sagte Heinrich ruhig mit dieser trostlosen, gebieterischen Stimme, die ihr verriet, dass er keineswegs scherzte. »Auf jeden Berg zu steigen, durch jedes Meer zu schwimmen. Ich muss dich nur richtig verärgern.«

»FICK! DICH!«, brüllte Robin ein letztes Mal und stürmte davon.

Nachdem Heinrich so viel von dem Zigarillo geraucht hatte, wie er wollte, zog er noch einmal daran und drückte den Stummel aus.

Er stand auf, sprang die Stufen hinunter und hinüber zu Luke, wo er einen Revolver aus dem Halfter zog. Robin war längst in ihrem provisorischen Schlafzimmer und packte ihre Sachen zusammen, als sie den Schuss hörte.