10
Nachdem Santiago sich eine Weile auf dem Rasen mit Wasser abgespritzt hatte, gab er es auf, ging ins Haus und machte sich auf die Suche nach Milch. Irgendwer – Carly? – hatte etwas von Milch gesagt, und dunkel erinnerte er sich an eine Klan-Fete, wo er gehört hatte, der Schwiegervater eines der Jungs sei von einem Bullen mit Pfefferspray besprüht worden. Wenn er recht verstanden hatte, lösten die Proteine der Milch das Öl im Spray auf. Oleorsesin capsicum hatte der Bekannte den scharfen Wirkstoff genannt. Es begeisterte ihn nicht gerade, etwas mit dem Wort »cum« darin auf dem Gesicht zu haben.
Milch fand er keine, aber ein Becher abgelaufener Joghurt hatte sich im Gemüsefach versteckt. Er holte den Joghurt mit den Fingern heraus und schmierte ihn sich ins Gesicht, und die kühle Creme fühlte sich so gut an, dass er sich beinahe in die Hose gemacht hätte.
Nachdem er sich schließlich den Joghurt abgewischt und ein schnelles Bier getrunken hatte, stieg Santiago auf La Reina und klapperte die gesamte Nachbarschaft ab, danach fuhr er in gemächlichem Tempo den Highway entlang aus der Stadt und hielt Ausschau, ob seine Frau und seine Tochter irgendwo am Straßenrand unterwegs waren. Der Verkehr staute sich hinter ihm, mancher Fahrer hupte gereizt. Er zeigte ihnen den Mittelfinger, bis es ihm lästig wurde und er sie einfach ignorierte. »Scheiße, überholt mich einfach!«, brüllte er in den Nachtwind.
Nachdem er die ganze Stadt abgefahren war und nichts gefunden hatte, kehrte er nach Hause zurück und warf sich auf die Couch.
Als er früh am Morgen aufwachte, fühlte er sich wie Rip van Winkle. Er rief seinen Bruder Alvaro an und sagte ihm, er solle die Jungs zusammentrommeln und raus zum Haus kommen. »Marina und Carly sind weggelaufen«, sagte er mit tiefer Stimme, die vom Brüllen heiser war. »Sie laufen irgendwo in der Gegend herum. Verstecken sich wahrscheinlich. Ich finde sie jedenfalls nicht. Die Kleine hat mich mit Pfefferspray besprüht, als ich mich mit ihrer Mutter gestritten habe, und da habe ich wohl ein bisschen überreagiert. Sie sind zu Fuß weg, weil ich die Schlüssel vom Blazer habe.«
Alvaro zögerte kurz. »Ja, okay«, sagte er mit noch vom Schlaf gedämpfter Stimme. »Ich gehe nur schnell kacken und duschen und bin bei dir, sobald ich kann.«
Der Morgenwind fühlte sich gut auf dem immer noch brennenden Gesicht an, als sich Santiago auf die Veranda setzte.
Was ist gestern nur mit mir passiert?
Er war klar im Kopf, doch in seinen Augen brannte eine dumpfe, schwere Hitze, als habe er die ganze Nacht mit einem Fieber gekämpft. Er stellte sein Bier ab, betrachtete seine Hände und erwartete, dieses bizarre weiße Fell an seinen Handgelenken zu sehen wie Manschetten.
Sind meine Fingernägel länger? Bilde ich mir das ein?
Er biss einen nach dem anderen mit den Zähnen ab und spuckte die schartigen kleinen Sicheln auf den verbrannten Rasen.
El Tigre, hatte Großmutter gesagt.
Abuelita lebte schon seit zwanzig Jahren oder länger nicht mehr. Sie war tot zusammengebrochen, als er in San José in der Mittelschule war. Man hatte bei ihr keine Autopsie vorgenommen, soweit er wusste, aber seine Mutter hatte gesagt, sie habe ein Blutgerinnsel im Gehirn gehabt.
El Tigre.
Sie hatte ihm immer Geschichten über den Tiger erzählt, der in einer Höhle mitten in der Wüste lebte und böse kleinen Jungen fraß. »Wenn du nicht lieb bist und dein Gemüse isst und zur Kirche gehst, kleiner Santi«, hatte sie in ihrem süßen klaren Spanisch gesagt, »holt dich El Tigre mitten in der Nacht und frisst dich auf.« Ihre gespitzten Lippen waren so ledrig wie ein Portemonnaie, nur voller falscher Zähne anstelle von Geld. Sie betonte ihre Warnungen, indem sie mit den Fingern durch die Luft krallte und dazu ein magisches Knurren von sich gab.
Dieses Schreckgespenst war bei ihrem Gute-Nacht-Ritual entstanden, einer Geschichte, die aus einer Auswahl von Erzählungen aus Rudyard Kiplings Dschungelbuch stammte, das in den Siebzigern gedruckt worden war, als Doppelbuch und zweimal so dick, wie man es erwartet hätte; wenn man es umdrehte, konnte man Rikki-Tikki-Tavi lesen. Aber der indische Mungo interessierte ihn nicht; er wollte nur Moglis Abenteuer im Dschungel mit Balu, dem Bären, und Baghira, dem Panther, hören. Abuelita wollte deren richtige Namen jedoch nicht benutzen, deshalb hatte sie ihnen spanische gegeben, weil sie das für passender hielt, und so hießen sie bei ihr Oso Papá und Gato Negro. Bärenpapa und Schwarze Katze. Shir Khan, der Tiger, war der Bösewicht in der Geschichte, der schmollende Schurke, der Mogli, den Wolfsjungen, fressen wollte. Abuelita wollte auch seinen Namen nicht benutzen, daher nannte sie ihn den Tiger.
Warum musste er jetzt daran denken? Es war so lange her …
Er kehrte in das Mobilheim zurück, wo er in der Küche stand und den Blick langsam über Schränke und Regale schweifen ließ.
Zwei Schachteln, eine braun, eine blau: Carlys Cocoa Pebbles und Marinas Frosted Flakes. Er nahm die Frosted Flakes, schüttelte sich eine Schüssel voll, steckte einen Löffel hinein und erinnerte sich zu spät, dass es keine Milch im Haus gab. »Ihr wollt mich echt verscheißern«, fluchte er im stillen Raum vor sich hin.
Sein Blick fiel auf das Bier in seiner Hand.
Santi goss es in die Schüssel, setzte sich und aß, niedergeschlagen, aber ruhig. Es schmeckte wie ein süßer, fauliger Horror, wie Diabetikerpisse. Tony, der Cartoon-Tiger, grinste ihn von der Packung fröhlich und idiotisch an. Santiago aß Bier mit Flocken, bis er das Knattern von Motorrädern in der Einfahrt hörte.
Drei Motorräder, vier Personen: Tuco, Maximo und Santiagos Bruder und Schwester, Alvaro und Elisa. Elisa fuhr bei ihrem Bruder mit, und sie war wohl gerade erst von der Arbeit gekommen, denn sie trug noch ihr Walmart-Hemd. Die anderen trugen Kluft: die Lederwesten der Los Cambiantes, die gleichen wie seine, mit dem großen Wolfskopf auf dem Rücken.
»Morgen, Santi«, sagte sein Bruder. Alvaro war eine kleinere, dünnere und ein wenig besser aussehende Version von Santiago. Mit den langen Haaren und der schlanken Figur sahen die beiden aus wie Fehlversuche bei einem Antonio-Banderas-Klonprojekt, wobei Santi den Kürzeren gezogen hatte.
»Morgen, Alfie.«
Seine kleine Schwester Elisa hatte diesen misstrauischen Blick im Gesicht – Was hast du diesmal wieder angestellt? – , aber sie sagte nichts.
Als Zweiter stieg Maximo von seinem Bike, der verdammt noch mal größte Halbmexikaner, den irgendwer je gesehen hatte: ein Meter fünfundachtzig Muskeln, das Gesicht hinter einem Kapitän-Haddock-Bart versteckt. Max führte eine Muckibude in Keyhole Hills, eine Art Countryclub für Muskelprotze in einem früheren Billigwarenhaus mit einem Boxring und gerade genug Gewichten für eine Handvoll Mitglieder.
Als Letzter kam Tuco herüber, ein spindeldürrer, kleiner kubanischer Hipster mit Rattengesicht und Schildpattsonnenbrille, mit der er aussah, als wäre er gerade einem Remake von Der Frühstücksclub entlaufen. Er wirkte wie ein harmloser Trottel, doch wie Santi wusste, hatte Tuco für das Kartel gearbeitet und kannte sich bestens mit Autobatterien und Nippelklemmen aus.
»Ich habe die Beherrschung verloren.« Santi blickte hinüber zu dem zerbrochenen Fenster. »Carlita hat mich mit Pfefferspray besprüht, und ich habe die Nerven verloren. Habe die beiden wohl ein bisschen verängstigt, und sie sind aus dem Haus gerannt.« Er lachte steif. »Hat wehgetan wie Hölle. Auf der Dose stand Bärenspray. Mit dem Zeug kann man den Lack von einem Cadillac lösen.«
»Woher zum Teufel hatte sie Bärenspray?«
»Wahrscheinlich aus dem Internet«, sagte Tuco. »Man kann jeden Scheiß bei Amazon kaufen, Mann. Man kriegt alles im Internet, man braucht nur zu wissen, wo man suchen muss.«
»Egal, wo sie es herhat.« Santiago ging zu La Reina und stieg auf. »Es ist nur wichtig, wo sie sind. Ihr helft mir bei der Suche.«
»Weißt du, in welche Richtung sie gelaufen sind?«, fragte Tuco.
»Nein, ich war damit beschäftigt, mir das Zeug aus den Augen zu waschen.«
Alvaro rieb sich das Gesicht. »Die könnten überall sein, Mann. Und sie haben eine Nacht Vorsprung.«
»Weit können sie nicht gekommen sein«, sagte Santi. »Sie haben nicht gerade viel Geld dabei. Also werden sie sich vorerst kein Flugticket kaufen. Sie sind noch in der Stadt, wenn sie nicht getrampt sind, und das kann ich mir nicht vorstellen. Heute nimmt niemand mehr Tramper mit.«
»Carly allein vielleicht«, sagte Tuco und schob die Brille auf der Nase zurecht.
»Ey, pass auf, wie du über meine Kleine redest, Tuc.«
Maximo grunzte. »Verdammter Perversling.«
Tuco zuckte mit den Schultern. »Hey, ich mein ja nur.«
»Ja, ich will dein Scheißgerede aber nicht hören.«
»Wo wollt ihr Arschlöcher denn hin?«, fragte Isabella Talamantes, die in Flipflops den Gehweg angeschlendert kam und in der Hand einen großen Getränkebecher mit Crushed Ice hielt. Sie schlurfte in Santis Garten und gab Elisa einen Kuss. »Sucht ihr nach Marina und Carly?«
»Ja«, sagte Maximo. »Woher weißt du das?«
»Sie kamen gestern vorbei, als Elisa geschlafen hat, und haben nach einem Platz für die Nacht gesucht.«
Elisa blinzelte. »Du hast sie nicht reingelassen?«
»Wenn sie Santi nicht wütend gemacht hätten, vielleicht.« Isabella musterte Santi von Kopf bis Fuß. »Ich wollte nicht, dass dieser Elefant mit Tobsuchtsanfall in meinem Porzellanladen rumtrampelt«, sagte sie und nippte an ihrem geschmolzenen Eis.
»Sie ist meine Schwägerin, Bella«, sagte Elisa. »Du kannst ihr nicht einfach die Tür vor der Nase zuknallen.«
Isabella wich ein wenig vor der wachsenden Wut in Santiagos Gesicht zurück. »Hör mal, ich mag euch Mädels alle drei«, sagte sie, »aber ich … äh, ich …«
»Was?«, sagte Santi und drückte den Ständer des Motorrads nach unten.
»Ich wollte nichts damit zu tun haben.« Isabella trat einen halben Schritt hinter Alvaro und suchte unbewusst Schutz. »Ich habe schon genug Drama gehabt, weißt du?«
Santiago ging lässig auf sie zu. Isabella hielt ihren Becher fest in der Hand, und Alvaro ging etwas zur Seite, vielleicht aus morbider Neugier, vielleicht auch, weil er nicht ahnte, was nun kommen würde. »Warum hast du meine Frau nicht bei dir unterkommen lassen?« Er bewegte die Hände nicht beim Reden wie sonst, sondern sie spannten sich an, wurden steif. »Warum hast du sie nicht aufgehalten?«
»Ich …«
Santi schlug ihr ins Gesicht, versetzte ihr einen Hieb, der ihren Kopf nach hinten schnappen ließ. Isabella ging rückwärts zu Boden.
»Holla!«, rief Alvaro. »Hey.«
Elisa rannte zu Isabella und hielt das Gesicht ihrer Freundin. »Oh mein Gott!«
Die drei anderen Männer traten dazwischen, um sie voneinander zu trennen, aber Santiago wollte nicht noch einmal auf sie losgehen. Er bewegte sich zur anderen Seite, während Maximo ihm seine fleischige Hand auf die Schulter legte. Tuco trippelte auf einer unsichtbaren Linie hin und her wie ein Hockey-Torwart in einem Computerspiel.
»Du hast sie gehen lassen, Isabella«, giftete Santi, »und jetzt sind sie da draußen, Gott weiß, wo, liegen vielleicht irgendwo tot herum.«
Aus Isabellas Nase lief Blut über ihre Lippen. Elisa holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche, tupfte das Gesicht der Freundin ab und bog Isabellas Kopf nach hinten. »Si no la golpeó, ella todavía estaría aquí, pedazo de mierda«, knurrte Isabella durch den Stoff. Wenn du sie nicht verprügelt hättest, wäre sie noch hier, du Stück Scheiße.
Santiago zuckte, aber Maximo hielt ihn zurück. Santi starrte ihn wütend an, dann drehte er sich um, ging zu seinem Motorrad, schwenkte den Ständer nach hinten und stieg auf den Kickstarter. Der Motor startete nicht beim ersten Mal.
Ehe er einen zweiten Versuch unternehmen konnte, kam Max zu ihm. »Hey.«
Santiago sah ihm in die Augen.
»Pass auf, ich helfe dir, deine Frau und deine Kleine zu finden, Santi«, sagte der mächtige Biker. »Aber du musst cool werden, Mann. Komm mal runter. Wie willst du …«
»Ja«, sagte Santi knapp und unterbrach ihn. Er richtete den Blick auf La Reinas Benzintank, dann wieder auf Maximo. Max sagte nichts, doch seine Miene drückte grimmige Sorge aus. »Also, was in meinem Haus passiert, ist ganz allein meine Sache, klar?«
»Dein Heim ist deine Burg, Alter.«
»Ich bemühe mich. Okay? Ich habe dieses Temperament. Ich weiß.« Das Motorrad unter seinem Hintern schien zu vibrieren, obwohl der Motor gar nicht lief, ein leises Zittern wie das Nachbeben eines Nachbebens. Santiago fühlte sich auf La Reina besser, mit sich selbst im Reinen. Sie war eine rollende Zuflucht. Hier war er sicher, hatte alles unter Kontrolle.
»Vielleicht höre ich auf zu trinken oder so.« Oder vielleicht hört diese Schlampe auf, hinter meinem Rücken rumzuschnüffeln. Diese heimtückische Fingerspitze kroch wieder über die Innenseite seines Schädels. Santi lachte. »Vielleicht mache ich Yoga.«
Max zögerte. »Alles okay bei dir? Du siehst aus, als wärst du in einem Ameisenhügel ohnmächtig geworden.«
»Pfefferspray, du Penner. Das Zeug soll einen Sechshundert-Pfund-Bären vertreiben. Und ich meine nicht Yogi-Bär.« Er trat noch einmal den Kickstarter durch, und La Reina erwachte zum Leben. »Mach dir meinetwegen keine Sorgen«, rief Santi über den Motorenlärm und lächelte. »Ich fühle mich bessstennns!«
Elisa starrte Santiago wütend hinterher, bis er um die Ecke bog und verschwand.
Isabella betrachtete den Blutfleck, der sich über ihre Walmart-Weste zog. »Tut mir leid, dass ich dir die Sache vermasselt habe.«
»Tut mir leid, dass mein Bruder so ein Arschloch ist. Er war nicht immer so.«
»Gut, aber das sagst du jedes Mal, wenn er ätzend wird. Wie beim Grillen am 4. Juli, als er meinen kleinen Jungen verhauen hat? Dafür hätte ich das Sorgerecht verlieren können. Er meinte, ich sollte das Schwulsein aus ihm rausprügeln, wenn er mit Puppen spielt.« Isabella zog die Weste aus. Ihre Nasenlöcher waren mit Blut verstopft. »Ist das zu glauben?«
Darauf wusste Elisa nichts zu sagen.
»Es ist das verfluchte Motorrad«, sagte Isabella.
»Das Motorrad?«
»Das grüne Miststück, das er fährt. Seit er mit dem Ding von der Auktion nach Hause kam, ist er ein noch größeres Arschloch als je zuvor.«
»Was? Was meinst du damit?«
Isabella hatte ihren Becher mit Eis fallen lassen, als Santiago ihr ins Gesicht geschlagen hatte, und das schmolz jetzt in einer Pfütze auf dem fleckigen Rasen. Halbherzig stieß sie es mit dem Fuß auf eine dichter bewachsene Stelle. Vielleicht würde es dort dem Gras beim Wachsen helfen. »Irgendwas ist damit. Hast du noch nie gesehen, wie er den Kopf schief legt wie ein Hund und das Motorrad komisch anguckt?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Ich bin nicht verrückt«, sagte Isabella und machte sich auf den langen Heimweg zu ihrem Haus ein paar Blocks entfernt. Sie spuckte Blut ins Unkraut neben dem schiefen Briefkasten der Valenzuelas. Elisa gesellte sich zu ihr, die Hände hinter dem Rücken gefaltet und leicht gebeugt, lief sie hinter ihr her. Sie dachte sich ausgeklügelte und grausame Strafen für ihren Bruder aus. Schlag zurück. Auge um Auge.