14
Von Zeit zu Zeit hörte man ein leises Dröhnen wie von einer tibetanischen Klangschale aus der Schlafecke: Gendreaus magische Hände, die Kenways Schusswunde schlossen. Doc G hatte den großen Veteranen schon vor einer Weile stabilisiert; auch wenn Robin nicht genau wusste, wann. Könnte vor zehn Minuten oder auch vor einer halben Stunde gewesen sein. Wenn man auf glühenden Kohlen sitzt, fühlt sich jede Minute an wie ein ganzer Tag.
Sie konnte nur dahocken, auf Entwarnung warten und versuchen, das Mädchen nicht böse anzustarren. Robin und Carly saßen in der Frühstücksecke, die abgesägte Schrotflinte zwischen sich auf dem Tisch, als wollten sie Flaschendrehen spielen. Aus dem Radio plärrte krächzende Rockmusik. Bad Company. Six-gun sound is our claim to fame.
»Tut mir leid, dass ich Sie da reingezogen habe.« Carly berührte die Schrotflinte zaghaft mit den Fingern. »Es war meine Idee, uns hier zu verstecken.«
Robin schnaubte.
»Und es stimmt wirklich?«, fragte sie. »Sie töten echt Hexen?«
»Ja.«
Erneut unbehagliches Schweigen.
»Wie viele?«
»Zu viele. Nicht genug.« Sie war mit Narben überzogen, aber der Augenblick erschien ihr für diese Geschichten nicht richtig.
Robin schob sich aus der Sitzecke und bemerkte plötzlich, dass ihre Hände und ihr T-Shirt blutig waren. Sie zog das Oberteil aus, warf es in den Müll und wusch sich die Hände im Spülbecken. Ihr BH roch wie Würstchenwasser. Sie zog einen frischen an und darüber ein My-Favorite-Murder-T-Shirt.
Nachdem sie sich wieder gesetzt hatte, sagte Carly: »Wie Sie das blutige T-Shirt weggeworfen haben, hat mich das an etwas erinnert.«
Robin starrte sie neugierig an.
»Vor ein paar Monaten«, fuhr Carly fort, »hat sich in Keyhole Hills ein Berglöwe herumgetrieben und die Mülltonnen der Leute durchwühlt, bis der Tierfänger kam und ihn weggebracht hat. Sie haben ihn irgendwo nach Osten oder so verfrachtet. Jedenfalls war ich eines Morgens unterwegs zur Schule, und da sah ich, dass der Löwe unseren Müll aufgerissen und im ganzen Garten verstreut hatte. Dad war stinksauer, aber Mom und ich haben alles aufgesammelt, ehe er wieder nach Hause kam, und so schlimm war das gar nicht. Aber im Müll habe ich etwas entdeckt, und ich habe es schnell in meine Tasche gestopft, ehe Mom es sehen konnte.«
»Ein blutiges Hemd?«
»Ja. Und eine blutige Jeans.«
»Na ja, dein Dad gehört zu einer Biker-Gang.« Robin starrte aus dem Fenster in den Abend. Die Sonne hing wie eine riesige Dublone im staubigen Indigohimmel und fraß sich bei einer sägezahnartigen Kette schwarzer Hügel in den Boden. Sterne bildeten einen glitzernden Bogen weit oben. »Ich könnte mir vorstellen, dass er gelegentlich mit Blut auf der Kleidung nach Hause kommt.«
Angesichts ihrer geplagten Miene schien Carly nicht gern darüber nachzudenken. »Ja, aber … irgendwie nicht so.« Sie machte eine Bewegung, als würde sie etwas zerreißen. »Diese Klamotten waren … total zerfetzt. Als hätte der Unglaubliche Hulk sie kaputtgemacht. Hinten war die Jeans aufgeplatzt, die Beine waren auseinandergerissen, der Knopf fehlte, der Reißverschluss war kaputt. Das Hemd war völlig im Eimer. Es waren einfach nur noch Lumpen, verstehen Sie?«
Robins Nagellack stand mit einem schmutzigen Kaffeebecher und einer Flasche Ketchup am Ende des Tisches. Sie holte ihn sich. Ein tief dunkles Vampirrot. Nicht ganz schwarz, hätte aber dafür durchgehen können. Sie fing wieder an, sich die Nägel zu lackieren, was sie zuvor unterbrochen hatte, als Marina sie in der Dusche überrascht hatte.
»Und wo haben Sie diese Griffe gelernt?«, fragte Carly. »Wie den, mit dem Sie den Trottel fertiggemacht haben?«
Trottel, dieser Joaquin. Robin grinste.
»Mein alter Boss Heinrich hat mir das beigebracht. Er meinte, das wäre praktisch, wenn man gegen hexische Wesen kämpft.«
»Hexische Wesen?«
»Hexen können Hauskatzen opfern und ihre Seelen in Menschen schicken. Dadurch werden die Menschen in brutale Wahnsinnige verwandelt. Im Prinzip verwandeln sie sich dann in solche Zombies wie in diesem Film 28 Tage später, nur sobald man sie eine Weile allein lässt, fangen sie an sich die Eier zu lecken.«
»Wow«, sagte Carly. »Ich habe immer gedacht, Ihre Videos wären Fake.«
»Nee. Aber das ist Absicht.«
Bad Company wurde von Kansas abgelöst. Carry on, my wayward son. Robin war mit ihrer linken Hand fertig und begutachtete sie. »Ich könnte mir vorstellen, dass diese blutige Kleidung etwas mit dem zu tun hat, was Gil erzählt hat. Darüber, wie er deinen Vater im Wald gesehen hat.«
»Mit den Tiermasken?«
»Ich glaube, das waren keine Masken.«
Der Horror verdüsterte Carlys Miene. »Sie meinen … ihre Köpfe haben sich verändert? Meinen Sie das?«
»Da hat sich noch mehr verändert.« Robin pustete auf ihre Nägel. »Ich habe mal gesehen, wie sich eine Hexe in ein Schweinemonster von einer Tonne Gewicht verwandelt hat, sodass ihr die Titten auf den Boden hingen. Eine andere ist an der Decke entlanggekrabbelt und dann durch ein Loch von der Größe eines Baseballs verschwunden.«
»Wie Werwölfe?«, fragte Carly ungläubig. »Denken Sie, mein Dad und seine Freunde sind Werwölfe?«
»Werwölfe gibt es nicht.«
»Was sind sie denn dann, zum Teufel?«
»Ich glaube, es handelt sich um eine Reliquie der Ereshkigal, die die Biker mit der Gabe der Transfiguration verändert hat.«
Carly blickte sie sprachlos an.
»Hexen beziehen ihre Kräfte aus einem Tumorgewächs in ihrem Körper, das ›Teratom‹ heißt. Wenn ein Hexenjäger eine Hexe tötet, kann ein Spezialist, ein Origo, das Teratom aus der Leiche der Hexe entnehmen und daraus eine magische Waffe erschaffen.« Während sie die Funktionsweise von Reliquien erklärte, bot sie Carly den Nagellack an. Vielleicht könnte sich das Mädchen mit so etwas Schlichtem wie Nägellackieren ablenken und beruhigen. Mit geübten Bewegungen, die besser aussahen als Robins Stümperei, nahm das Mädchen ihre rechte Hand und machte dort weiter. »Hexen wurden durch eine alte Göttin des Todes namens Ereshkigal erschaffen. Seit sie jedoch ins Jenseits verbannt wurde, versucht sie, durch unsere Körper auf Erden wiederaufzuerstehen. Teratome bestehen für gewöhnlich aus Haar oder Knochen oder manchmal auch aus einem kompletten Körperteil wie einem Finger oder einem Augapfel. Das ist jeweils ein Teil von Ereshkigals Körper. Wir sind praktisch die Türen, durch die sie unaufhörlich einzudringen versucht.«
»Mein Dad besitzt also eine dieser … Reliquien?«
»Ich glaube, schon.« Robin blies sich wieder auf die Nägel. »Hat dein Vater irgendwelche Familienerbstücke? Irgendetwas, an dem er wirklich hängt?«
Das Mädchen schluckte. Der Nagellackpinsel zitterte knapp über Robins Finger in der Luft. »Ja, tatsächlich. Er hat sich vor ein paar Jahren ein Motorrad gekauft, bei einer Polizeiauktion. Er nennt es La Reina.«
»Lorena?«
»Nein, La Reina, die Königin.« Sie begann wieder zu pinseln. Robin spürte, wie sie nach Worten suchte. »Manchmal guckt er ganz komisch, so wie Mr. Delgados Hund, wenn ich ein komisches Geräusch mache und er den Kopf schief legt.«
Das muss es sein, dachte Robin und blies sich auf die Finger. Sie ließ Carly ihre Nägel bis zu Ende lackieren. Es war eine besänftigende, meditative Tätigkeit, und es beruhigte sie beide. Ich habe noch nie eine so große Reliquie gesehen. Ich frage mich, wo das Teratom steckt?
Während ihre Nägel trockneten, ging sie hinüber in die Schlafecke, um nach Kenway zu schauen und mit Gendreau zu reden.
»Wie geht es ihm?«
»Sie kommen gerade richtig, Miss Martine.« Der Curandeiro wischte sich mit dem Arm Schweiß von der Stirn und hinterließ einen Blutstreifen. »Helfen Sie mir, ihn umzudrehen, damit ich die Kugel aus dem Rücken holen kann.« Die Schusswunde sah aus, als sei sie mit heißer Stahlwolle kauterisiert worden; ein greller roter Hautfleck befand sich an der Stelle des münzgroßen Einschusslochs.
»Ey, Scheiße, Mann! Verflucht!«, schrie Kenway. »Können wir sie nicht einfach drinlassen?«
»Sie könnte eine Infektion verursachen. Oder in ein lebenswichtiges Organ wandern. Da sie nahe an einer Niere sitzt und wir noch weit von einem Krankenhaus entfernt sind, wäre es praktisch, wenn wir es nicht mit einem Nierenversagen zu tun bekommen, mein Freund. Denn das könnte ich vielleicht nicht behandeln.«
Der Veteran seufzte. »Also gut, also gut.«
Er drückte sich auf die Ellbogen hoch und zuckte heftig. Gendreau packte Kenways Shorts und hakte eine Hand unter seinen Arm. »Nehmen Sie seine Hand, und ziehen Sie, ich schiebe. Eins, zwei, drei«, zählte Gendreau und dann drehten sie ihn um.
»Aaarrrggh«, stöhnte Kenway in eine der wenigen Stellen der Decke, die nicht voller Blut war.
»Da ist es.« Eine kleine Stelle in der Mitte von Kenways Rücken, so schwach zu sehen, dass es sich auch um eine optische Täuschung hätte handeln können. Gendreau schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. »Genau dort, ungefähr sieben Zentimeter tief. Hat einen Knochensplitter vom Becken mitgerissen.« Der Magier massierte den Bereich mit leichten, eleganten Bewegungen und murmelte vor sich hin. Die Haut unter seinen Händen wurde blasser und bekam die Farbe von Wachs.
»Was machen Sie denn?«
»Ich treibe das Blut aus dem Bereich, damit ich reinschneiden und die Kugel herausholen kann.« Gendreau zeigte auf seine Tasche. »Schwester, holen Sie mir bitte ein Skalpell aus der Tasche, und sterilisieren Sie es mit Alkohol? Und die Pinzette auch?« Robin holte beides heraus und wischte die Instrumente ab. Der Magier nahm das Skalpell in eine Hand, als würde er einen Stift halten, und drückte die andere Hand auf die Haut. Während sich die Klinge ins Fleisch drückte, öffnete sich die Haut sauber wie eine Wurstpelle. Kein Blut trat hervor, aber das Gewebe war so rosa wie Räucherlachs.
»Ah, Misssst«, beschwerte sich Kenway in die Decke.
»Es wäre noch schlimmer, wenn ich die Nerven nicht abgetötet hätte, als ich die Blutgefäße verschlossen habe. Liegen Sie endlich still, Mann.« Gendreau nahm die Pinzette, drückte den Einschnitt mit den Fingern auf und führte die kleinen Spitzen ein.
»Ich habe herausbekommen, warum Gil diesen Scheißkerl Santiago und seine Kumpels im Wald mit Wolfsmasken gesehen hat«, sagte Robin. »Einer von ihnen hat eine Reliquie der Transfiguration. Ich würde behaupten, dass es das Motorrad ist. Aber von einer so großen Reliquie habe ich noch nie gehört.«
»Selten, kommt jedoch vor«, sagte Gendreau und sah sie an. »In Kalifornien gab es 1938 einen Wagen als Reliquie, einen Wolseley Hornet, glaube ich, dessen Besitzer beim Fahren immer die Zukunft halluzinieren konnte. Als mein Vater noch jung war, wurde ein 1958er Plymouth Fury bei einigen Mordfällen um Maine herum benutzt. Die Leute behaupteten, das Auto sei besessen, und leider wurde es in einer Schrottpresse vernichtet, ehe die Hunde es untersuchen konnten.«
Er zögerte und starrte ins Leere.
»Was ist das?«, fragte Robin.
»Hören Sie es?«
Sie spitzte die Ohren.
Neben dem unaufhörlichen Knurren der Reifen auf dem Asphalt und dem heiseren Rauschen der alten Klimaanlage hörte sie es.
Motorräder.