27
»Wir müssen los«, sagte Robin und ging auf Elisas Wagen zu. »Wir müssen meinen Freund retten, und zwar sofort, und außerdem Marinas kleines Mädchen. Ich habe es versprochen.«
»Augenblick mal«, sagte Gendreau. »Vor nicht mal zehn Minuten waren Sie noch eine Skulptur aus verbranntem Speck. Meinen Sie nicht, Sie sollten es ein bisschen ruhiger angehen lassen, ehe Sie gegen Tiger und besessene Motorräder und Gott weiß was noch losziehen?«
Wind strich durch ihr bizarres Geweih. »Sehe ich aus, als bräuchte ich eine Pause?«
»N-nein, ich denke, nicht«, stammelte Gendreau, als sich die fünf grünen Lampenaugen auf ihn richteten.
Sobald sie unterwegs waren, fiel Robin nichts Besseres mehr ein, als ununterbrochen ihre Hände anzustarren wie ein Kiffer. Es würde ungefähr zwei Stunden dauern, bis sie im Clubhaus der Los Cambiantes eintrafen. Laut Elisa befand es sich am Stadtrand von Keyhole Hills, nahe dem Osttor einer aufgegebenen Luftwaffenbasis, in Richtung Almudena. Sie waren vorbeigefahren, als sie die Stadt im Winnebago verlassen hatten, nur hatte es niemand von ihnen gewusst.
»So, was, glauben Sie, ist das jetzt?«, fragte Gendreau und deutete überall- und nirgendwohin.
»Ich schätze, ich bin wieder komplett zum Dämon geworden.« Die Worte kamen aus ihrem Mund, klangen jedoch, als hätte sie jemand anderes gesagt.
Ein eigentümlicher Hunger lauerte in ihrer Magengrube und ließ ein zorniges Gefühl in ihr brodeln. Sie war wütend, weil sie so hungrig war, nein, eigentlich war sie regelrecht zornig, weil sie ausgehungert war. Sie wollte etwas mit den Zähnen zerfetzen und zerreißen, so wie Wölfe, die auf einen Karibu-Kadaver stoßen; sie wollte wüten und verschlingen.
Sie kannte dieses Gefühl. Es war das Gleiche, das sie an jenem Tag in Hammertown empfunden hatte, als sie sich am liebsten auf Heinrich gestürzt und ihm das Gesicht weggerissen hätte, nur um ein Vielfaches gesteigert.
Sie sah ihre Freunde an und fand sie plötzlich sehr zart, so zart, dass sie sich vorstellen konnte, die Kiefer um ihre Gesichter zu schließen, als würde sie in einen hohlen Schoko-Osterhasen beißen.
Da bin ich, sagte ihr Dämonen-Ich mit den glühenden Augen. Die Macht, die stets in dir geschlummert hat.
Robin wandte den Blick ab, beschämt und entsetzt.
»Ich meine, wir wussten, dass Sie teilweise ein Dämon sind«, sagte Gendreau nichtsahnend, »aber dieses Erscheinungsbild hat ja nun nichts mehr mit Ihrem vorherigen zu tun. Soweit ich mich erinnere, sahen Sie aus, als hätte jemand einen Korbstuhl und eine Reihe Kleiderbügel auseinandergenommen und sie zu einer menschlichen Gestalt verflochten. Aber diesmal?« Gendreau deutete auf Robin. »Sie sehen aus wie ein Power Ranger, der von Clive Barker erfunden wurde. Sie haben fünf glühende Augen und ein Geweih! Das ist nicht normal.«
»Ich glaube, meine Dämonenseite erschafft mich neu aus dem, was mich umgebracht hat. Oder dem Ort, wo ich gestorben bin. Oder so ähnlich? Wie auch immer, ich … Vielleicht ist das meine eingebaute zweite Chance. Vielleicht bin ich eine Katze mit neun Leben.«
»Vielleicht sind Sie gar nicht gestorben«, vermutete Navathe. »Möglicherweise hält Sie Ihr Dämonenanteil am Leben, gleichgültig, was mit Ihrem Körper passiert.«
»Mein Dämonenherz?«
Etwas Besseres fiel ihnen nicht ein, daher saßen sie da, schwankten auf der überdachten Ladefläche von Elisas Pick-up hin und her und vermieden jeglichen Blickkontakt. Der Feuermagier nahm sich eine leere Limonadendose und schien gebannt die Liste der Inhaltsstoffe zu lesen. Vor ihnen lag ein Besen, ein altmodisches Ding mit Holzstiel und Borsten aus Hirse. Robin strich mit der Hand über das Holz und dachte über das Gewicht und die Beschaffenheit nach – und über die Ironie, etwas so Ikonisches zu entdecken, das so sehr mit ihrem lebenslangen Feind verbunden war, und das ausgerechnet an diesem Ort und in ihrem Zustand. Aber warum eigentlich nicht?
»Hoffentlich können wir es rückgängig machen«, sagte Robin und riss Gendreau und Navathe aus ihren Tagträumen. Aus dem Osdathregar strömte kein grelles Licht mehr, aber das Potenzial in ihm pulsierte dunkel. »Sonst wird es schwierig, einen neuen Führerschein zu bekommen. Der alte war in meinem Portemonnaie.«
»Ich hoffe es auch«, sagte Gendreau.
Eine Weile lang fuhren sie wachsam und schweigend dahin.
Schließlich wurde ihr bewusst, dass sie ihre Stimmen hören musste, dass sie ihre Gesellschaft brauchte. Vielleicht musste sie sich an ihr Menschsein erinnern. Um sich zu erden. Um den inneren Monolog abzuwürgen, um zu verhindern, dass sich die Stille mit Angst füllte. Diese Stille lauerte mit einer hinterhältigen Schärfe, eine lautlose Sirene, die sie mit ihrem Ruf in einen tiefen, düsteren Teil ihres Selbst lockte.
Der Teufel auf ihrer Schulter, der versuchte, sie zu schrecklichen Dingen zu überreden – davon musste sie abgelenkt werden. Von ihrem Dämonen-Ich.
»Sie haben mir gesagt, ich könne alles werden«, brach sie das Schweigen, »und ich wurde ein Hähnchen am Spieß.«
Unterdrücktes Lachen.
»Sie haben erwähnt, dass Sie befördert wurden«, sagte Navathe. »Was bedeutet das? Hat das etwas damit zu tun, dass die Sanktifikation Sie nicht in tausend Stücke zerlegt?«
So war es gewesen, als sie aus dem Höllengefängnis ihres Vaters Andras durch das Gemälde in Kenways Apartment hinausgegriffen hatte und die Welt der Sterblichen berührt hatte. Die Luft war unglaublich kalt gewesen. Die Sanktifikation machte die Erde zu einem unwirtlichen Ort für sie, als würde sie nackt einen Eismond des fernen Planeten Neptuns betreten wollen.
Oder zumindest war es letzten Oktober so gewesen. Diesmal fühlte es sich eher so an, als würde sie in einen kalten Gebirgsfluss springen. Sie war nicht sicher, weshalb sie nicht unkontrolliert zitterte, aber sie war nicht tot, und sie war nicht in die Hölle verbannt worden.
»Keine Ahnung«, antwortete sie. »Welcher Dienstgrad kommt nach Dämon?«
»Engel?«
Gendreau streckte die Hand aus und berührte sie. Seine Finger waren rußig. Sie blickte ihn an, ihr Geweih schlug an die Decke. »Sehe ich vielleicht aus wie ein Engel?«, fragte sie.
»Vielleicht«, meinte der Curandeiro. »Sie sollen schließlich furchterregend sein. Diese pausbäckigen Kinderchen in der klassischen Kunst sind keine richtigen Engel, sie heißen anders, ich habe nur vergessen, wie.«
»Wenn Dämonen nun gar keine gefallenen Engel sind?«, fragte Robin. »Wenn es andersherum ist? Wenn Engel aufgestiegene Dämonen sind? Vielleicht fangen ja alle so an. Nach dem Motto, Dämonen sind Level eins und Engel Level zehn. Und ich bin vielleicht schon bei Level fünf.« Das erschien ihr durchaus logisch. »Sollten Engel nicht Flügel haben?«
»Mehrere Paare sogar, wenn ich recht verstanden habe. Flügel aus Flammen, mit unzähligen Augen bedeckt. Zumindest werden sie so in der klassischen Literatur beschrieben. Cherubim und Seraphim. Unter anderem.«
»Flügel wären cool«, sagte Robin und nahm sich den Besen. »Mit Augen bedeckt, darauf könnte ich allerdings verzichten. Aber mal ernsthaft, ich glaube, ich bin kein Engel. Ich glaube, ich bin einfach nur wieder im Dämonenmodus. Ich habe so einen schlimmen Drang, irgendwo Stress anzufangen. Und es fällt mir schwer, diesen Drang zu kontrollieren.«
Navathe wurde blass.
»Gut«, sagte Gendreau. »Die Sanktifikation zerstört Sie also nicht. Wenn Sie noch ein Dämon sind, haben Sie sich offensichtlich das Recht erworben, in dieser Gestalt hier zu sein, Miss Martine.« Die beiden starrten sie an, während er sprach. Am liebsten hätte sie ihr Gesicht versteckt. »Sie sind in diesem Feuer gestorben, oder?«, fragte er.
Ihre Antwort kam kaum lauter als ein Atemzug. »Ich habe keine Ahnung«, sagte sie. »Ich nehme es an. Bislang bin ich noch nie gestorben. Daher fehlt mir ein bisschen der Vergleich, verstehen Sie?«
»Sie haben sich geopfert, um Santiago zu besiegen und Rook zu retten«, sagte der Curandeiro. »Sie haben Ihr Leben für Rook gegeben. Für unser aller Leben. Damit haben Sie sich dies verdient.« Er betonte die letzten Worte, indem er mit dem Zeigefinger auf sie deutete, und sein Heilring glitzerte im Licht. »Was auch immer Sie jetzt sind, Dämon, Engel, paranormale Anwältin der Entrechteten, Sie haben sich das Recht verdient, hier zu sein. Sie haben Ihr übernatürliches Examen bestanden. Die Sanktifikation gilt aufgrund Ihrer Taten nicht mehr für Sie. Sie wurden von den ›Sünden Ihres Vaters‹ freigesprochen.« Er blinzelte und fügte hinzu: »Putte.«
»Wie nennen Sie mich?«
»Nein, so heißen diese Engelbabys. Sie sind keine Cherubim, sie werden Putten genannt. Also putti auf Italienisch. Ich habe in der Highschool ein paar Kunstkurse belegt, bevor ich von meinem Großvater Frank und seiner Geheimgesellschaft erfahren habe.«
»Sie wussten nicht immer über die Hunde des Odysseus Bescheid?«
»Nein.« Gendreau sah aus, als wäre er durch die Hölle gegangen – schmutzig, voller Schrammen, das modische weiße Hemd voller Blut, das Gesicht voller Kratzer. Die Narbe an seiner Kehle leuchtete rosa im Licht, das durch das Fenster hereinfiel. »Er kam, hat mich aus dem College geholt und überredet, bei den Hunden einzusteigen, weil er jemanden aus der Familie dabeihaben wollte und es meinem Vater nicht zutraute. Er wusste nicht, dass in meiner Geburtsurkunde Geschlecht: weiblich vermerkt worden war, erst ein Jahr nach meiner Einführung bei den Hunden fand er es heraus. Das hat er nicht besonders gut aufgenommen. Allerdings war es da zu spät, und er musste sich mit mir zufriedengeben. Wäre ja auch nicht fair gewesen, mich rauszuwerfen, und ehrlich gesagt weiß ich nicht mal, ob es ihm so ohne Weiteres gelungen wäre – zu dem Zeitpunkt hatte ich schon mächtige Freunde gewonnen, die für mich eingetreten wären.«
Robin nahm den Besen, zerbrach ihn über dem Knie, knapp oberhalb der Borsten, sodass sie einen Stiel von einem Meter dreißig Länge hatte. An das abgebrochene Ende drückte sie den Osdathregar und wickelte Klebeband um den Griff, wodurch ein provisorischer Speer entstand.
»Weshalb machen Sie das?«, fragte Gendreau.
»Vielleicht komme ich nicht nahe genug an ihn heran, um ihn mit dem Dolch zu treffen«, sagte sie. »Ich muss ihn festnageln. Aus einiger Entfernung erwischen.«
»Warum schießen Sie nicht? Irgendwo in Almudena muss man doch Waffen kaufen können.«
Sie probierte den Speer aus und war zufrieden, als die Spitze festsaß. »Ich habe ihn mehrfach mit dem Katana erwischt. Ich habe ihn verbrannt. Er hat nur mit den Schultern gezuckt und hat weitergemacht. Schusswaffen helfen uns hier vermutlich nicht weiter. Ich brauche etwas Übernatürliches.« Der provisorische Speer dampfte geisterhaften Dunst aus wie tiefgekühlter Stickstoff. Die Kraft des Osdathregar war bis in den Stiel zu spüren und verwandelte das Holz in ein schwarzes Etwas. »Ich schätze, meine Chancen stehen besser, wenn ich vorgehe wie ein römischer Infanterist, mit dem Osdathregar als Speer. Er vergrößert meine Reichweite.«