33

Robin musste eine Weile herumfahren, bis sie das Haus der Valenzuelas in einer dunklen Ecke, oben am sanften Hang von Keyhole Hills, gefunden hatte. Über ihr ragten die Berge auf, die Grundstücke hier zogen sich in das bergige Buschland, das sie an die alte Fernsehserie M*A*S*H erinnerte.

Santiagos Motorrad parkte in der Einfahrt. Eine militärgrüne Royal Enfield, ein Prachtstück, beinahe niedlich. Kaum zu glauben, dass diese Maschine, die so mitgenommen aussah, dieses Chaos verursacht hatte. Sie stellte die Harley am Straßenrand neben dem Briefkasten ab, stieg ab und zog den provisorischen Speer aus der Gewehrtasche. Er war schwerer, als sie ihn in Erinnerung hatte.

Sie stand neben dem Motorrad und lauschte.

Wind heulte schwach aus der Wüste heran, ein paar Vögel waren draußen in den Büschen unterwegs und einen Block entfernt bellte ein Hund.

Wenn es ihr gelang, die Reliquie zu zerstören, ehe Santiago sie überhaupt bemerkte, konnte sie einen Kampf vielleicht vermeiden. Sie schlich sich zum Motorrad und überlegte, wo sich das Teratom darin befinden könnte. Hatte jemand Hexenblut in den Lack gemischt? Nein, das würde keinen Sinn ergeben. Vielleicht Haare? Teratomische Haare? Sie kniete sich hin und betrachtete die Lackierung. Nein, das war es auch nicht.

Sie durchsuchte die Satteltaschen. Nichts.

Vielleicht gab es Haare oder Knochen im Motor. Sie ging zum Schuppen und suchte nach Santiagos Werkzeugen. Viel gab es da nicht – einen Zimmermannshammer, eine Schraubzwinge, einen Kasten mit Ratsche und Steckschlüsseln und ein paar nicht zusammenpassenden Anbauteilen.

An der Wand hing eine Eisensäge. Die nahm sie.

Zurück in der Einfahrt packte Robin La Reinas Lenker und legte das rostige Sägeblatt auf das Stahlrohr.

KRA-WUMM, die Tür des Mobilheims flog nach außen auf wie eine Dose vergorener Keksteig. Eine riesige Gestalt schnellte über die Veranda und prallte auf Robin, und zusammen wälzten sie sich in einem Gewirr aus Gliedern durch einen Zaun auf die Straße. Der Briefkasten der Valenzuelas machte einen Salto in den Nachbarsgarten und spuckte unbezahlte Rechnungen auf den toten Rasen.

Im hellen Tageslicht war Santiago ein furchterregender, verwirrender Anblick, größer noch, als Robin ihn in Erinnerung hatte. Er hatte sich vollständig in die Bestie verwandelt, in ein mächtiges Wesen mit orange-schwarzem Fell und einem massigen, asymmetrischen Kopf. Tausend Zähne rangen um Platz in einem klaffenden grau-rosa Maul, und alle schwammen in Blut. Zu viele Muskeln, zu viele Gelenke, peitschenartige Anhängsel, die in Keulen mit einem Dutzend Krallen endeten. Ein Elefantenschwanz baumelte zwischen den Hinterbeinen, stachelig und lila wie eine Tiefseeanemone.

Er war eine lebendige Kampfmaschine.

»LASS SIE IN RUHE!«, brüllte Santiago und stieß Robins Kopf in den Staub.

Dunkelheit tanzte in ihren Augenwinkeln. Seine Fäuste waren in Nerz gehüllte Vorschlaghammer. Sie würde nicht sehr viele Hiebe aushalten, auch in ihrem andersartigen Zustand nicht.

Robin hob die Hände, packte seine Fäuste und schob ihn weg. Zu ihrer Überraschung war sie in der Lage, den Angriff zu stoppen. Santiago beugte sich vor und drückte mit seinem Gewicht gegen sie. Ihre Hände wurden auf den Boden gepresst, und das Tigerwesen schnappte mit dem riesigen, fleischigen Maul nach ihrem Gesicht. Zähne kratzten über ihre gepanzerte Wange, Geweihspitzen bohrten sich in seinen Gaumen, heißes Blut tropfte ihr in die Augen.

Santiago fauchte vor Schmerz, hob Robin über den Kopf und schleuderte sie auf die Hütte im hinteren Gartenteil zu. Bei ihrem Aufprall wurde Holz zerschmettert. Das gesamte Gebäude brach über ihr zusammen, mitsamt Werkzeugen, Balken, Staub und verlassenen Wespennestern.

Ehe sie wieder ganz bei Sinnen war, wühlte das Monster bereits in den Trümmern nach ihr und warf Holz und Schindeln zur Seite.

»TÖTE DICH!«, fauchte er und befreite sie vom Schutt.

»Das hast du schon einmal versucht.« Robin schlug mit dem Zimmermannshammer nach seinem Auge. Santiago fuhr zurück, und der Dorn verhakte sich in seiner Augenhöhle und riss ihr den Hammer aus der Hand. Robin krabbelte aus den Trümmern, während sich ihr Gegner schreiend auf dem Boden wälzte.

Rote Masse hing an dem Kopf des Werkzeugs wie heißer Käse. Santiago warf den Hammer beiseite, rollte sich herum und kämpfte sich auf die Beine. Blut rann über sein verzerrtes Maul.

Während sie an ihm vorbeiging, um den Osdathregar zu holen, schien er noch zu wachsen. Seine Brust gewann an Umfang, seine Arme wurden länger und schwollen an. Schlängelnde schwarze Tentakel sprossen aus dem Maul und schoben Zähne heraus. Streifen dunkler Farbe bildeten ein Marmormuster auf Schultern und Stirn: Flecken aus Wolfshaar und narbiger Eidechsenhaut. Er war nicht mehr nur der Tiger-Mensch, er wurde zu einem Lovecraft’schen Tiergott wie ein von einem Tierpräparator erschaffener Albtraum. Eine monströse Chimäre.

Ein neues Auge schob sich aus der blutigen Augenhöhle, eine schmierige Marmorkugel mit einer schmalen Krokodilspupille.

»Schau mir in die Augen, Kleines.« Die Bestie lachte.

Heilige Scheiße. Robin stürzte sich auf den Speer, und im gleichen Augenblick warf sich Santiago auf sie. Sie machte eine Judorolle

(Diesmal war sie vorbereitet.)

und die eisige Speerspitze des Osdathregar traf Santiagos zusammengestückeltes Fleisch und Fell,

(Der Hund ist ins Messer gesprungen.)

durchdrang Haut und Muskeln und bohrte sich tief in die Kehle. Übernatürliche Kälte ließ das Blut gefrieren, als es aus der Wunde spritzte, es kristallisierte mitten in der Luft. Mit einem lauten Schrei wich Santiago zurück, wälzte sich auf dem Boden und umklammerte die Wunde.

Eis bildete sich um den Schnitt im Hals. Santi stürzte auf sie zu, und sie machte sich bereit, erneut auf ihn einzustechen, doch er wich ihr aus und stürmte zur Royal Enfield. Er schleppte sie hinaus auf die Straße wie eine tote Antilope, wo er mit den Klauen am Tank zerrte. Metall quietschte. La Reinas Tank löste sich und versprühte überall auf dem Pflaster Benzin.

Augenblick mal, er zerstört das Motorrad selbst?

Der Shoggoth nahm ihn – wann war ihm ein dritter Arm gewachsen? – und galoppierte die Straße in Richtung Westen davon.

Da hat das Teratom also gesteckt. Im Benzintank.

Robin stand mit Kopfschmerzen und blutend im Vorgarten und zitterte vor Angst und Schock und Schmerz, war aber plötzlich dankbar, dass alle Nachbarn offensichtlich außer Haus waren. Sie betrat Santiagos mobiles Haus, zog sich durch das riesige Loch in die blutverschmierte Küche. Mit dem Speer in der Hand stand sie da und blickte sich um.

Kühlschrank. Darin ein halbe Kanne Eistee. Milo’s. Sie trank einen großen Schluck, stellte ihn ab, schnaufte und lehnte sich an die Arbeitsfläche. Alles, was sie anfasste, bekam blutige Abdrücke. Skelettteile und Innereien waren überall auf dem Teppich verstreut. Robin erkannte Marinas Schuhe und würgte, ihr Magen drehte sich um und drohte den Tee, den sie gerade getrunken hatte, wieder von sich zu geben.

»Oh mein Gott«, murmelte sie. »Er hat ihre Leiche gegessen.«

Nein, der Magen dreht sich mir nicht um, erkannte sie angewidert. Er knurrt. Sie und Santi hatten mehr gemeinsam, als ihr lieb war. Der Wut-Hunger überfiel sie in Wellen wie Geburtswehen. Im einen Moment war sie dunkel, kalt, leer, ausgehöhlt und verlassen, im nächsten loderte ein Feuer in ihr auf und sehnte sich danach, etwas zu verbrennen.

Aus dem Fenster über dem Spülbecken grinste sie eine sehr menschliche Robin dämonisch mit leuchtend grünen Augen an.

Sie hatten recht, sagte ihr Dämonen-Ich.

»Nein«, sagte Robin und zog die Gardine über das Gesicht der anderen Robin. »Ich habe alles unter Kontrolle. Ich schaffe das.«

»Geh weg!«, schrie Carly aus dem hinteren Schlafzimmer.

»Ich bin es, Kleine, ich.« Robin ging den Gang entlang, hielt sich die Seite und sprach durch die Tür. Sie lehnte sich an die Wand, biss die Zähne zusammen und schloss die Augen gegen die Hitze in ihrem Bauch. »Komm nicht heraus. Bleib in deinem Versteck, okay? Wenn meine Freunde da sind, geh mit ihnen. Ansonsten bleib in deinem Versteck.«

Das Mädchen sagte etwas, aber sie weinte dabei, und deshalb war sie nicht zu verstehen.

»Was?«

»Daddy ist durchgedreht«, sagte Carly. »Er hat sich in irgendwas verwandelt.«

»Ich weiß.«

»Was ist er?«

»Keine Ahnung. Und ich weiß leider auch nicht, ob er es überlebt, wenn ich es ihm austreibe.« Robin seufzte. »Wahrscheinlich wird einer von uns beiden dran glauben müssen. Er hat meinen Freund umgebracht und mich auch fast.« Ihre Stimme zitterte. Die Hand, mit der sie sich an der Wand abstützte, ballte sich zur Faust gegen die billige Holzvertäfelung. »Das kann ich nicht einfach so hinnehmen.«

Carly sagte nichts.

»Ich habe gesagt, ich werde mich um dich kümmern, wenn das hier vorbei ist. Und wenn ich so etwas sage, meine ich es ernst.« Ihre andere Faust hielt den Speer. »Deine Tante Elisa will mit dir sprechen. Sie wird …«

»Gehen Sie einfach«, sagte Carly kalt und tot.

Robin zögerte, der Mut verließ sie. »Ich habe dir gesagt, dass es eine schlechte Idee war. Es endet immer böse.«

Weil ich ein schlechter Mensch bin. Ich bin echt zum Kotzen.

»Es tut mir leid«, sagte sie.

»Hören Sie auf mit Ihren Entschuldigungen«, sagte Carly durch die Tür. »Ich habe die Entschuldigungen satt. Das ist alles, was ich zu hören bekomme, besonders von meinem Dad. Tut mir leid dies, tut mir leid das. Tut mir leid, dass ich dein Telefon kaputtgemacht habe. Tut mir leid, dass ich deiner Mutter wehgetan habe. Tut mir leid, dass ich dir wehgetan habe. Tut mir leid, dass ich deinem Vater nicht gewachsen war. Ich kann es nicht mehr hören.«

»Okay, okay, gut, ich muss das zu Ende bringen. Heute brauchst du dich nicht gegen deinen Vater aufzulehnen.«

Robin zögerte verlegen, dann ging sie davon, blieb aber am Loch in der Wand noch einmal stehen. »Du hast gewusst, dass ich ihn töten muss, von dem Moment an, in dem du mich um Hilfe gebeten hast. Ihr habt das beide gewusst.« Sie seufzte. »Er wird mir nicht erlauben, die Reliquie in dem Motorrad zu zerstören. Ich werde ihn mir vorknöpfen müssen, um daran zu gelangen.«

»Tun Sie, was Sie tun müssen«, sagte Carly matt. »Hören Sie einfach nur auf, sich dafür zu entschuldigen.«

Benzintropfen bildeten eine Spur die Straße entlang. Ah, gut. Es würde leicht werden, ihn aufzuspüren. Robin setzte sich auf die Harley, startete sie mit einem Tritt und donnerte davon, den Speer unter den Arm geklemmt und vorn auf dem Lenker abgelegt, als sei sie unterwegs zu einem mittelalterlichen Lanzenstechen.

Sie folgte der Benzinspur und gleichzeitig Santiagos Pfad der Zerstörung durch das hintere Ende von Keyhole Hills. Hier waren die Straßen miserabel asphaltiert, mit großen, unebenen Teerflecken ausgebessert und trotzdem noch voller Schlaglöcher. Sie fuhr im Slalom zwischen den Löchern hindurch, an Mimosenbäumen und Jacarandas vorbei und wirbelte gelbe Blätter und Blüten auf. Lagerhäuser und verwohnte Hütten, schäbige Wohnungen und Mobilheime begleiteten sie, während sie tiefer in den zwielichtigen Teil der Stadt eindrang. Wie viele von diesen Leuten gehören zu Santis Wolfsjungen?, dachte sie und musterte die unbewohnt wirkenden Apartments. Seit sie vor nicht einmal zwanzig Minuten in die Stadt gekommen war, hatte sie nur eine Handvoll Wagen und bewohnter Wohnungen gesehen, und zwar alle an der Durchgangsstraße und dem Highway.

Ein spindeldürrer Mann in einem riesigen weißen Hemd kam aus einem Haus, während sie vorbeifuhr, und trug seine kleine Tochter. Sie blinzelten in die Sonne und starrten Robin an. Das kleine Mädchen weinte, und ihr Vater sah aus, als habe er einen Geist gesehen.

Hat er seine Klauen auf so viele dieser Leute gelegt?

Die Benzinspur wurde schwächer und bestand nur noch aus zunehmend weiter auseinanderliegenden Flecken. Diese trockneten schnell, fast zu schnell, ehe sie den nächsten gefunden hatte. An einem Stoppschild verlor sie die Spur.

»Wo bist du?«, fragte sie.

Zu beiden Seiten lagen eingezäunte Rasenstücke, so trocken und staubig wie alle Grundstücke in Hole, und gegenüber lag noch ein drittes. Rechts von ihr, zwei Häuser weiter, waren Löcher in den Rasen gerissen – wie von Reifen, nur zeigte die Spur deutliche Anzeichen von Krallen.

Es sah aus, als wäre hier eine regelrechte Stampede über den fleckigen Rasen hinweggeprescht. Sie fuhr langsam in die nächste Straße, bog um die Ecke, fuhr auf die andere Straßenseite und weiter auf den Bürgersteig, um sich die Sache anzusehen. Das Dach des Gebäudes war beschädigt, Schindeln lagen auf dem Boden, in die Bretter war ein Loch geschlagen.

Robin stieg vom Motorrad und betrat das Grundstück und den schmalen Zwischenraum zwischen den Häusern.

Auf der anderen Seite hatte bislang ein Holzzaun den Garten vom felsigen Hang getrennt, der hinauf in die Berge führte. Santiago war mitten hindurchgeprescht und hatte davon nur ein Chaos aus Latten hinterlassen. Sie ging durch die Lücke und über den Hügel.

Dahinter erreichte sie eine einspurige Straße, die holprig und schlecht instand gehalten war. Durstige, schmächtige Kiefern bildeten eine Art Begrenzung und folgten der Straße in die Ferne. »Gib doch auf«, flüsterte sie und joggte die einsame Straße mit dem Speer in der Hand entlang. Sie fühlte sich wie ein Buschmann auf der Jagd oder wie Hektor von Troja auf dem Weg zum Kampf gegen Achilles. »Gib schon auf, Mann. Mach es uns nicht so schwer.«

Sie bog um eine Kurve und entdeckte eine Kontrollstelle. »Was ist das denn?«

Das Glashäuschen stand auf einem Mittelstreifen und bildete im Asphaltstrom der Straße ein Dreieck. Es war zertrümmert worden und lag in Einzelteilen auf der Straße. Oben war ein Schild angebracht, Einfahrt Ost, und ein anderes darunter verkündete, wohin die Einfahrt führte: in den verlassenen Luftwaffenstützpunkt Fort Bostock.

Innerhalb des alten Stützpunkts gab es keine Bäume mehr, stattdessen wucherte überall Unkraut, das auch den Asphalt mit braunen Büscheln durchbrochen hatte. Hier sangen auch keine Vögel mehr wie im Ort, allerdings entdeckte sie ein paar Krähen, die keckerten und fraßen. Sie sah eine Legion von maroden Gebäuden, zumeist einstöckige Kasernen, die wie Eisenbahndepots aus der Zeit der Jahrhundertwende aussahen. Manche waren ausgebrannt.

Ein Kojote trottete ein paar hundert Meter entfernt vorbei, beobachtete sie wachsam und verschwand im Gebüsch.

»Lasst alle Hoffnung fahren …«, sagte sie vor sich hin.

»… die ihr eintretet«, ergänzte Annie.

Robin richtete die leuchtenden Augen auf den Geist. »Hey, Mama.«

Annie lächelte. »Hey, Kleines.«

»Wo hast du gesteckt?«

»Ich habe für ein Ticket gespart, damit ich dich besuchen kann.«

Die Sonne versteckte sich hinter einer Wolke, die von Osten heranzog. Die beiden schritten zielstrebig in den verlassenen Stützpunkt hinein und folgten einer Startbahn, die ewig weiterzuführen schien. Riesige flache Betonrechtecke erstreckten sich in verzweigten Mustern über den Wüstenboden, die Fundamente von abgerissenen Wellblechhütten.

»Mama?«, fragte Robin leise. »Bist du nur ein Gebilde meiner Fantasie?«

Annie sagte eine Weile lang nichts.

»Wie kommst du auf den Gedanken, Liebling?«

»Manchmal frage ich mich, ob ich nicht doch verrückt bin.« Robin seufzte, schwang die Arme und lockerte die Schultern. Die schwarze Panzerung klebte an ihrer Muskulatur wie früher ihre Haut. Sie fragte sich, ob das jetzt ihre Haut war und ob sie jemals wieder menschlich sein – oder zumindest aussehen – würde. »Vielleicht ist das alles nur ein Fiebertraum. Werwölfe, die mich bei lebendigem Leib verbrannt haben. Jetzt bin ich wieder ein Dämon und marschiere durch die Sonne, rede mit meiner toten Mutter und habe den Drang, jeden, den ich sehe, zu töten und zu fressen. Das ergibt doch alles keinen Sinn. Vielleicht hatte ich einen psychotischen Zusammenbruch. Vielleicht bin ich immer noch in der Psychiatrie eingesperrt und mit Chlorpromazin vollgestopft, oder mit was auch immer sie mir gegeben haben, und …«

»Ich glaube nicht …«

»… vielleicht habe ich mir die letzten Jahre nur zusammengeträumt. Das ist die einzige rationale Erklärung, die ich dafür finde.«

»Bestimmt nicht.«

»Du glaubst nicht?«

»Ich kann nicht für alles sprechen … Die Zeit, die du mit diesem Kerl in Texas verbracht hast. Die Hexen, gegen die du gekämpft hast.« Annies Lächeln strahlte so hell, dass es die hinter den Wolken versteckte Sonne ausglich. »Kenway … oh, ich mag Kenway sehr gern, Kleines. Ehrlich. Ein guter Mann, ich bin froh, dass ihr zusammen seid. Aber ich? Spielt es eine Rolle, ob ich eine Illusion bin?«

»Wie meinst du das?«

»Was ist besser, eine schöne Halluzination, die dich aufmuntert, oder lieber gar nichts?«

»Selbst wenn sie nur da ist, um mir zu sagen, was ich hören möchte?«

Ein trockenes Grinsen stahl sich auf Annies durchscheinendes Gesicht. »Ich sage dir nur, was du hören musst.«

Hinter ihrer Mutter stand eine Ansammlung altersschwacher Bürogebäude, zweistöckige Bauten, die an spanische Missionshäuser erinnerten. Es waren Dutzende, hoch und schmal, die Fenster waren herausgebrochen. Es erinnerte sie an Hammertown – so sehr, dass sie fast bemalte Holzsilhouetten hinter den Fenstern erwartete.

Die Wände waren mit gekritzelten Graffitis verziert. Robin war erleichtert, weil sich darunter keine Hexenrunen befanden.

»Also, als du noch gelebt hast, Mama, warst du nicht so gefühlsduselig.«

»Wenn man tot ist, hat man viel Zeit, um sich gefühlsduselige Dinge zu überlegen. Du solltest dir mal mein ganzes Repertoire anhören. Wenn es im Himmel Comedy-Clubs gibt, werfen sie mich bestimmt raus.«

»Na ja, warte, bis ich mitkomme«, sagte Robin und arbeitete sich durch Salbeisträucher. »Dieser Kerl reißt mich vielleicht in Fetzen. Dann begleite ich dich nach oben.«

»Das bezweifele ich. Meine Tochter ist eine verdammt Harte.«

»Ich habe dich lieb, Mama.«

»Ich dich auch, mein zäher Knochen.«

Inzwischen war Annie fast vollständig verschwunden. Eigentlich sah Robin nur noch ihr Gesicht, das einer lieben Grinsekatze.

»Oh!«, rief Robin.

»Ja, Kleines.«

»Ich habe vergessen, dich zu fragen: Ist Marina bei dir? Geht es ihr gut?«

»Ja«, antwortete Annies körperlose Stimme. »Sie ist hier irgendwo. Die anderen kann man nur schwer sehen und schwer finden. Sie hat es sozusagen in einem Stück hier herübergeschafft. Sag der kleinen Carlita, ihr geht es gut, spirituell gesehen.«

»Sag ihr, dass mir leidtut, was passiert ist.«

»Sie versteht es«, sagte der Wind und wehte ein Blatt über die Straße. »Sie gibt dir nicht die Schuld.«

»Gut. Wäre mir auch zu viel, wenn mir noch ein Geist hinterherliefe. Einer reicht.«

Der Wind lachte und blies das Blatt in den trockenen Graben. Robin ging weiter auf das Labyrinth von Gebäuden zu. »Du hast mir meine Frage gar nicht richtig beantwortet«, sagte sie und sah hinauf zum Himmel, der sich jetzt komplett zugezogen hatte. »Bist du real oder nicht?«

Sonnenlicht schien kurz durch eine Wolkenlücke, und ihr Schatten flackerte vor ihren Füßen auf und verschwand dann so still, wie er gekommen war.