11
Eine halbe Stunde westlich von Keyhole Hills entschied Kenway, an einem Lokal am Stadtrand von Almudena anzuhalten, da er durstig war und die Valenzuelas etwas essen mussten. Ein hohes Neonschild zeigte einen Adler mit ausgebreiteten Schwingen und das Wort heroes. Übergroße Pick-up-Trucks standen am Bürgersteig, zusammen mit einer Harley Davidson in Bestzustand und einem Jeep Liberty, auf dessen Stoßstange Aufkleber verkündeten: Lange Tage, längere Nächte oder Fremd von Geburt an, Ka-Tet fürs Leben.
Aufsteller auf den Tischen verkündeten einen Rabatt für Soldaten und boten etwas an, das »Mangorita Chicken« hieß. Das Lokal war düster, aber sauber, in einer Ecke gab es eine Karaoke-Bühne, und an der Bar stand eine Horde Hinterwäldler, trank Bier und verfolgte ein Baseballspiel, das auf einem Flachbildfernseher lief.
»Eine Sportsbar für Veteranen?«, fragte Kenway.
»So in etwa«, sagte die Kellnerin, eine kleine, athletische Latina in T-Shirt und schwarzen Leggins. Sobald Robin sie sah, wusste sie, wem der Liberty vor der Tür gehörte. Ihr Namensschild lautete Monica. »Wir sind der inoffizielle Veteranenclub der Gegend.«
Einer der Typen an der Bar schaute dem Spiel nicht zu. Der kleine Mann mit Undercut und großen Fischaugen starrte zu ihrem Tisch und sah die Valenzuelas an, als würde er sie kennen. Ein anderer am gegenüberliegenden Ende rutschte von seinem Hocker und trug sein Bier herüber zu ihrem Tisch.
»Hi«, sagte Gil.
Ohne die Hunter-S.-Thompson-Brille hätte Robin ihn fast nicht erkannt. »Hi.«
Gil trug ein uraltes Molly-Hatchet-T-Shirt unter einer schwarzen Lederweste mit einem los cambiantes-Aufnäher über dem Herzen. Auf der anderen Seite: Vietnam-Veteran. Im trüben Neonlicht sah er wettergegerbt und ehrwürdig aus, wie der Most Interesting Man in the World aus der Dos-Equis-Werbung. Als sie sah, dass er tatsächlich Dos Equis trank, konnte sich Robin ein Prusten nicht verkneifen. »Nett, euch wiederzusehen«, sagte er. »Ihr seid ein ganz schönes Stück gefahren für ein Mittagessen, was?« Er deutete mit der Bierflasche auf einen leeren Platz. »Was dagegen …?«
»Ganz und gar nicht«, antwortete Robin.
Marina Valenzuela beobachtete ihn angespannt. Carly sah aus, als würde sie eine Klapperschlange anstarren; sie war aschfahl geworden.
Gil setzte sich und sein Bierbauch wölbte sich unter seinem T-Shirt. »Hi, Soldat.«
»Hi … Gil?«, erwiderte Kenway, und seine Miene hellte sich auf.
»Richtig.«
»Nett, dass wir uns wiedersehen.«
»Ja, nicht? Den Laden hier haben sie ’82 gebaut, als es die Airbase zwischen hier und Keyhole noch gab«, erklärte Gil. »South Gate ist nur eine halbe Meile von hier entfernt. Damals war hier eine Menge los, aber ein paar Jahre später haben die alles dichtgemacht, weiß nicht mehr genau, welches Programm, BRAC, glaube ich, und die Basis wurde geschlossen. Das Land wurde an Bauunternehmer verkauft. Deshalb sind sie jetzt nur der inoffizielle Veteranenclub.« Unter seinen Augenbrauen hervor spähte er Carly und Marina an. Ein schräger, tadelnder Blick. »Hi, Marina.«
»Hi, Gil.« Marina holte eine Zigarette hervor und wollte offensichtlich rauchen, doch im Heroes herrschte Rauchverbot. Stattdessen drehte sie den Glimmstengel in den Fingern wie einen Stift. »Wie läuft’s? Schönes Wetter heute.«
Gil zuckte mit den Schultern. »Besser geht’s nicht.«
Marina betrachtete die Zigarette in ihrer Hand so intensiv, als könnte sie diese allein mit ihren Augen in Brand setzen.
Gendreau hielt die Anspannung am Tisch nicht aus und bemerkte: »Offensichtlich kennen Sie sich.«
»Ich hatte früher viel mit ihrem Mann zu tun«, erklärte Gil. »Ich wusste gar nicht, dass ihr euch auch kennt. Freunde von außerhalb auf Besuch?«
Ehe Robin sich eine Lüge zurechtlegen konnte, antwortete Marina: »Nein.«
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Gil seufzte und trank einen Schluck Bier. »Was machst du für Sachen, Honey?«
»Ich esse zu Mittag, Gil«, sagte Marina. »Weil Mittagszeit ist.« Sie zögerte, da Gils Frage immer noch im Raum stand, dann hob sie das Kinn, zeigte die Würgemale und ließ den Beweis für Santis Brutalität für sich sprechen.
Wieder saßen sie schweigend da, ehe Gil das Wort ergriff und mit dem Bier in der Hand auf Marina und ihren Hals zeigte. »Du weißt, er stellt noch Schlimmeres mit dir an, wenn er dich erwischt, ja?« Der alte Mann ließ sein Dos Equis in der Flasche kreisen und trank einen Schluck. »Der nimmt sich ganz Hills vor, mit einem feinen Kamm, Marina. Seine Schwester sagt, er habe Tuco, Alfie und Max bei sich. Und er ist stinksauer.«
»Soll er stinksauer sein«, sagte Marina. »Ich habe genug.«
»Isabella hat er die Nase gebrochen, weil sie dich rausgeschmissen hat.«
Marina wurde rot.
Gil richtete den müden Blick auf Robin und strich sich abwesend durch den Bart. »Junge Frau, ich kenne dich ja nicht, aber … darf ich dir unaufgefordert einen Rat geben?«
»Nur, wenn ich ihn auch ablehnen darf.«
Amüsiert blies er durch die Nase. »Monica soll euch den Lunch in Doggiebags einpacken, und dann fahrt schnell weiter. Lasst Marina und Carly hier. Ihr wollt bestimmt nicht mehr im Heroes sein, wenn Santi und Max aufkreuzen.«
»Und warum nicht?«, fragte Robin.
Gendreau legte den Kopf verwirrt schief. »Woher sollen die überhaupt wissen, dass sie hier sind?«
Gil drehte sich steif um und deutete zur Bar. Der unheimliche Kerl mit dem Innsmouth-Aussehen und dem Undercut beäugte sie. Sein Gesicht wurde vom Licht seines Smartphones erhellt. »Seht ihr den Kerl da?«, fragte Gil. »Das ist Joaquin Oropeda. Einer von den Los Cambiantes. Ich würde einen Tausender wetten, dass er Santiago gerade eine Nachricht schickt und ihm mitteilt, dass ihr mit seiner Frau und seiner Tochter hier seid.«
Kenway beugte sich vertraulich vor und wollte wissen: »Was zum Teufel geht hier eigentlich ab?«
»Ich gebe euch nur einen gutgemeinten Rat.«
»Ich habe keine Angst vor so ein paar Frauenschlägern. Mir wäre es auch egal, wenn er mit den Hell Angels und dem Geist von Adolf Hitler auftaucht. Ich habe schon üblere Leute fertiggemacht.«
Gil nahm einen Zahnstocher, packte ihn nachdenklich aus und steckte ihn sich in den Mund. Dann starrte er Robin an, als würde er eine Speisekarte lesen. »Junge Frau, das bezweifle ich ehrlich gesagt. Seht ihr nicht, dass ich euch das Leben retten will? Wenn Santi hier auftaucht und ihr noch hier seid, zieht er euch an den Haaren nach draußen in die Wüste und bringt euch schlicht um, und keine Krähe wird danach krähen.« Er musterte die Hinterwäldler an der Bar. »Alle hier haben Angst vor Los Cambiantes. Und die Cambies fürchten sich nicht vor Joan Jett, einem Kerl mit Holzbein und einem Schwulen mit Dreihundert-Dollar-Haarschnitt.«
Gendreau wurde rot.
»Warum bist du dann hier?« Robin tippte mit dem Finger auf den Wolf an der Weste. »Du gehörst doch offensichtlich dazu.«
»Ich habe Los Cambiantes gegründet. Ich bin der alte Herr. Daddy. Oldie-Präsident, ja? Habe damit angefangen, als ich aus dem Krieg gekommen bin. Damals war Santiago noch ein Baby. Er war der Sohn von V-Z. V-Z hat Santis Mutter wahrscheinlich an dem Tag flachgelegt, an dem er aus dem Bus gestiegen ist.«
»Was bedeutet Los Cambiantes eigentlich?«
»Die Wechselbälger«, sagte Gil. »Ich habe den Biker-Club für mich und die anderen hiesigen Veteranen gegründet, die aus dem Krieg kamen. Wir kamen nach Hause in ein Land, das sich ohne uns weiterentwickelt hatte. Wir gehörten einfach nicht mehr dazu. Wir waren keine Texaner mehr, Mann, wir galten kaum noch als Amerikaner. Wir gehörten einfach nicht mehr zu dieser Welt. Wir waren Geister.«
»Ja«, grunzte Kenway und verzog das Gesicht. Er verschränkte die Arme vor der Brust, offensichtlich zu einer grimmigen, autoritären Geste, aber eigentlich umschlang er sich selbst.
»Du weißt, wovon ich rede, Junge«, sagte Gil.
»Wölfe in einem Land der Hunde«, sagte Kenway leise, monoton, wie in Trance.
»Und, wo warst du? Bagdad?«
»Ich war in Afghanistan unterwegs. Für ein Jahr, aber nach sieben Monaten wurde ich verwundet und nach Deutschland geflogen.«
»Hört sich nicht gut an.«
Kenway zuckte mit den Schultern. So sieht es aus.
»Jedenfalls«, fuhr Gil fort, »wollte ich ein Symbol für unseren Zustand als Fische auf dem Trockenen. Etwas, das für unsere neue Entwurzelung stand. Dann bin ich auf das Wort ›Wechselbalg‹ gestoßen. Ein Freund von mir oben in der Kirche, Vater …« Er kramte in seinem Gedächtnis. »… Castellanos erzählte mir davon, er war im theologischen Seminar … oder so. Ein Wechselbalg ist, wenn eine Mutter glaubt, ihr Baby sei von Feen gestohlen und durch ein anderes Kind ersetzt worden.«
»Richtig«, sagte Robin. »Es hat aber noch eine zweite Bedeutung. Im Spanischen kann los cambiantes auch Geldwechsler oder Geldverleiher heißen, nicht?«
»Du hast deine Hausaufgaben gemacht. Wir waren auch dafür bekannt, dass wir nebenher ein bisschen Geldverleih und Geldwäsche betrieben haben. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, das wäre nicht der zweite Grund, warum ich den Namen gewählt habe. Wahrscheinlich stehe ich einfach auf mehrdeutige Namen. Als mir Vater Castellanos davon erzählt hat, war ich völlig aus dem Häuschen. Die Jungen wissen allerdings nichts von Wechselbälgern – sie denken immer nur an das Geld.«
Marina brach in hysterisches Lachen aus.
Gil blinzelte. »Warum lachst du?«
Sie bekam die Antwort nicht heraus, weil sie zu heftig lachte, hahaha, den Kopf im Nacken. »Weil … weil …« Ihre Sonnenbrille rutschte vom Kopf, und Marina konnte sie gerade noch auffangen. »Wenn diese pendejos wüssten, dass sie alle ein Haufen Feenkinder sind.«
Alle am Tisch fielen mit ein und lachten so laut, dass sich die Kerle an der Bar umdrehten und finstere Blicke zu ihnen hinüberwarfen.
Joaquin Oropeda stand von seinem Hocker auf und ging nach draußen.
»Trotzdem, ich glaube, ich bin zu alt für solche Dinge geworden«, sagte Gil. »Die Hälfte der Jungs, mit denen ich den Club aufgebaut habe, ist tot – zwei haben sich eine Waffe in den Mund gesteckt, einer hat zu viele Pillen genommen, und einen hat ein Herzinfarkt erwischt. Damit blieben nur noch vier andere, und die Jungen haben sie schließlich rausgedrängt. Jetzt gibt es nur noch Santi und seine Kumpels. Eigentlich ist Maximo der ältere; Max ist Lonnie Cabrals Junge, Lonnie ist der, dem die Pumpe versagt hat, zu viele Steroide, zu viel Chorizo, zu viel was weiß ich. Der Kerl hatte größere Titten als seine alte Lady. Aber Santi gehört zu den Kids, die so wahnsinnig gut darin sind, ein Arschloch zu sein, dass man selbst genau so ein Arschloch sein möchte.«
Gil sah auf seine Armbanduhr, ein billiges Ding aus Edelstahl von Walmart. Das entging Robins Aufmerksamkeit nicht.
»Ich habe trotzdem keine Angst vor ihm.«
»Sie hat schon größere Kerle als Daddy umgebracht«, platzte Carly heraus, schien sich dann zu schämen für das, was sie gesagt hatte, und lehnte sich zurück.
Gils wässrige gelbe Augen suchten Robins Gesicht und waren offensichtlich beeindruckt von dem, was sie sahen. »Vielleicht bist du wirklich so stahlhart, junge Frau. Aber es wird dich nicht retten, wenn Santi dich in den Krallen hat. Denn deshalb bin ich hier, um euch zu sagen, dass er Krallen hat. Und die sind lang und scharf, amiga. Sie alle haben Krallen. Und Zähne.« Er trank den letzten Rest Bier. »Was habe ich euch gesagt, als ihr an meinem Haus vorbeigekommen seid?«
»Wir sollten nicht auf die andere Seite der Stadt gehen. Da gebe es Leute …«
»Leute, denen man nicht begegnen will. Und genau die habe ich gemeint. Santi und seine Jungs. Sie sind … sonderbar.«
»Sonderbar?«, fragte Robin. »Inwiefern sonderbar?«
Als wäre er lieber davongelaufen, anstatt weiterzureden, holte Gil tief Luft und blickte sich um wie ein Tier, das in die Ecke gedrängt wird. Er beugte sich vor und legte die Hände auf den Tisch, als würde er einen unsichtbaren Schuhkarton präsentieren. »Verdammt sonderbar. Sonderbar mit einem großen S.«
»Sonderbar wie … Kannibalen?«, fragte Kenway.
Gil starrte Kenway an und wischte sich den Mund mit der Hand ab. »Dieses Jahr so um den Valentinstag herum … es war so gegen eins in der Nacht – ich bin ein alter Mann und schlafe nicht gut, besonders nicht seit dem Krieg. Ich habe einen Spaziergang unternommen und landete unten an der Müllkippe. Der Fluss fließt an der Müllkippe vorbei, deshalb wachsen dort viele Bäume, die eigentlich hier im Hochland nicht gedeihen, weil es zu trocken ist.« Er wollte einen Schluck Bier trinken und erinnerte sich, dass die Flasche leer war. »Da war ich wahrscheinlich tausendmal in den letzten zehn Jahren. Ungefähr fünfzehn Minuten von mir entfernt. Ich gehe gern da hin, wenn ich nicht schlafen kann, dann sitze ich auf den Sandsteinfelsen im Mondlicht und lausche dem Fluss. Das beruhigt mich. Da komme ich besser runter als mit dieser Elchpisse. Und danach kann ich schlafen.
Jedenfalls war ich in der Nacht da unten, und ich will verdammt sein, wenn ich nicht Santi mit sechs seiner Jungs am Wasser gesehen habe: splitternackt im Dunkeln.«