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Sie fanden sie in Fort Bostock, wo sie mitten im Nichts auf der Startbahn lag. Eine Spur aus verschmiertem Blut verlor sich in der Ferne. Elisa trat mit voller Wucht auf die Bremse, und alle sprangen aus ihrem Pick-up in den dunstigen, kalten Nieselregen. Beim Aussteigen nahm sie das Gewehr hinter dem Sitz hervor und überprüfte, ob es durchgeladen war.

»Helfen Sie mir raus!«, sagte eine hektische Stimme aus der Abdeckung der Ladefläche. »Ich muss dabei sein, ich will sie sehen – verdammt, helfen Sie mir raus!«

Navathe und Gendreau liefen zur Heckklappe, wo der verrußte Kenway herausrutschte und auf einem Bein stand. Er sah aus, als hätte er den übelsten Sonnenbrand der Welt, buttergelbe Blasen hatten sich auf seinem Gesicht gebildet, doch ansonsten hatte er alles ziemlich heil überstanden. Die beiden Magier halfen ihm hinüber zu der fremdartigen Gestalt, die auf dem Boden lag.

Der Osdathregar-Speer lag neben ihr und vibrierte leise.

Durch die übernatürliche Panzerung (Carbon? Sulfur? Sie waren nicht sicher) und die Behandlung von Doc G sah ihr Gesicht wieder frisch, unversehrt, gesund aus. Alles war menschlich, bis auf Robins linken Arm und den Torso … sowie die Hörner. Wo die Geweihe abgebrochen waren, ragten nur noch zwei diabolische Ziegenhörner knapp unter dem Haaransatz aus ihrer blassen Stirn, wobei das rechte ein paar Zentimeter länger war als das linke.

Aber in ihren Augen sahen sie ein fremdes, wildes, unbekanntes Wesen, was sie zögern ließ. Abgehackt zischte ihr Atem durch die Zähne wie bei einem verwundeten Tier, und obwohl ihr Gesicht menschlich war, leuchteten ihre Augen radiumgrün.

»Anscheinend fällt es ihr schwer, ihre menschliche Form zu bewahren«, stellte Navathe fest. »Vielleicht ist es nicht die beste Idee, sich in ihrer Nähe aufzuhalten?«

Gendreau warf ihm einen Seitenblick zu. »Bislang waren wir auch in ihrer Nähe. Wenn sie hätte ausrasten wollen, hätte sie das schon im Haus auf dem Hügel machen können.« Er betrachtete ihr Gesicht, während sich ihre Augen bewegten und für einen Moment auf die Neuankömmlinge richteten, ehe sie wieder leer in den Himmel blickten »Und selbst wenn sie kurz davor stünde, den Verstand zu verlieren, ist sie viel zu geschwächt, um eine Gefahr darzustellen. Sie sollte im Krankenhaus sein, nicht auf Asphalt im Regen liegen. Und mein Gott, Mann, wir sind Freunde. Wir können sie nicht einfach hier im Stich lassen.«

Der Pyromantiker fühlte sich gescholten. Er stand auf, ging hinter ihnen hin und her und betrachtete voller Sorge das Mädchen-Wesen, das sich am Boden wand. Ironischerweise wirkte der Dämon tatsächlich besessen, wie er sich in den Asphalt krallte und den Blick schweifen ließ.

»Was trägt sie da?«, fragte Kenway. »Ist das eine Art Panzerung?«

Aus drei äußerst fiesen Stichwunden in Bauch und Brust rann immer noch helles rotes Blut, dick wie Wandfarbe. Dünne Schichten gelben Fetts waren zwischen zerrissenen Muskelfasern und Schmutz und Grashalmen sichtbar. »Alles bestens. Ich habe alles im Griff«, erklärte Robin ihnen mit einer Stimme, als würden sich Eisberge aneinanderreiben: tief, metallisch, zischend. »Ich habe die Sache unter Kontrolle, ja. Das ist nichts, okay? Nichts. Ugggghhrrr … Ich schaff das schon. Ehrlich.«

»Ich weiß nicht, ob sie die Panzerung trägt oder ob sie zu ihr gehört.« Gendreau spülte die Wunden mit Wasser aus einer Flasche und begann dann mit der mühseligen Arbeit, die Löcher zu schließen. Eine grimmige rote Wunderkerze loderte aus seinem Ring auf, und die Funken der Energie stoben wirbelnd auf die Wunden zu wie Glühwürmchen, die durch ein Rohr fliegen. »Versuchen Sie, die Transfiguration im Augenblick noch nicht zu beenden. In rein menschlicher Gestalt würden Sie diese Wunden vielleicht nicht überleben.«

»Meine kleine Teufelin.« Kenway hielt ihren Kopf. »Ich bin so glücklich, dass du lebst.«

»Das Gleiche könnte ich über dich sagen.« Sie kniff die leuchtend grünen Augen zusammen und musterte sein schmutziges Gesicht. »Was ist passiert? Das Clubhaus ist in die Luft geflogen. Man hat mir gesagt, ihr wärt drin gewesen. Ich habe dich für tot gehalten.«

Kenways Kleidung war verkohlt und an manchen Stellen verbrannt, und dahinter zeigten sich Blasen auf der Haut. Seine Augenbrauen waren verschwunden. »In dem Keller, in dem wir eingesperrt waren, gab es ein Gasleck, und als der Kerl seine Schrotflinte abgeschossen hat, ist das Gas explodiert. Wir hatten uns zu dem Zeitpunkt in einem kleinen Kühlraum versteckt. Rook hat uns rausgebracht, indem sie mit ihrer Telekinese-Reliquie die Trümmer vor der Tür weggeschoben hat.«

»Wir haben ganz gut Farbe bekommen.« Rook gesellte sich zu der Gruppe. Ihr Gesicht war rußig schwarz wie das eines Schornsteinfegers. »Aber die Kühlraumtür hat die Hauptwucht der Explosion ausgehalten.« Sie rang sich ein Lächeln ab und rieb sich die Augen mit schmutzigen Ärmeln.

Robins Dämonen-Ich schritt hinter ihr mit glühenden Augen hin und her, eine seltsame hässliche Version von Robin Martine mit Brandlöchern wie von Zigaretten auf der Haut und spitzgefeilten Zähnen. Es griff über Navathes Schulter, formte mit den Fingern eine Pistole nach und setzte sie ihm an die Schläfe. Navathe reagierte nicht darauf; niemand reagierte darauf. Zum ersten Mal hatte Robin es außerhalb des Spiegels gesehen, frei in der realen Welt, und um ehrlich zu sein, hätte ihr das einen Riesenschreck eingejagt, wenn sie nicht am Abgrund des Todes gestanden hätte.

Du stirbst, sagte ihr Dämonen-Ich und grinste. Er hat dich erwischt, Mädchen. Das war’s.

Gendreaus Reliquienring arbeitete wie ein Schweißbrenner mit zischendem Licht. Er lenkte den Energiestrom in ihre Wunden und konzentrierte sich darauf, Fleisch und Arterien zusammenzuflicken, aber das Blut sickerte zu schnell aus den Wunden.

»Bleiben Sie bei mir, Miss Martine«, verlangte er hektisch. »Ich bringe Sie da durch, aber Sie müssen schon mitkämpfen.«

Sie seufzte durch einen Mund voller rotem Blut und Rauch, der an Lippen und Zunge brannte. Robin zuckte vor Schmerzen, spuckte aus, hustete, würgte, brüllte mit dieser entsetzlichen Silberstimme. Ihre schwarze linke Hand endete in einem Rechen aus Krallen und klammerte sich voller Furcht und Zorn an ihren Freund, wobei sie Kenways Hemd noch mehr zerfetzte. Es fühlte sich an, als würde sie in Feuer ertrinken, als würde Magma aus ihrem Bauch aufsteigen und über ihr Gesicht laufen, und in ihrer Panik schnappte sie nach jedem Strohhalm, den sie erwischen konnte, und versuchte, sich aus den Flammen zu ziehen. Aber sie rutschte nicht in sie hinein; sie kamen aus ihr. Keine Flucht möglich. Sie starb, ihre Gedärme und ihre Lunge und ihre Haut verschmorten wieder, und sie starb. Beim zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen war diese Vorstellung so fürchterlich, dass man sie sich gar nicht ausmalen konnte.

»Das Feuer kommt aus ihrem Herzen«, rief Gendreau. »Santiago hat sie im Herzen getroffen, ich sehe es! Dort hat sich ihr Geburtsrecht vor der Sanktifikation versteckt, oder? Mein Gott, ein Herz voll Höllenfeuer! Deshalb haben Sie immer nach Schwefel gerochen, wenn Sie wütend waren!«

Der Schmerz war monumental, von biblischen Ausmaßen, unerträglich, als würde sie von einer Stahlmaschine aus unendlich heißen Nadeln auf subatomarer Ebene auseinandergenommen.

Das ist deine Schwäche, sagte ihr Dämonen-Ich und ragte undeutlich über ihren Freunden auf. Regen zischte und verdampfte auf ihrer schwarzen Panzerhaut wie Tropfen, die auf ein heißes Backblech fallen. Verbrennen. Erstechen. Schlagen. Zerreißen. Nichts hält dich auf. Nur eins kann dich töten: WENN MAN DIR DAS HERZ DURCHBOHRT UND DAS HÖLLENFEUER FREISETZT.

Merk dir das.

»Drückt sie auf den Boden«, sagte Rook, packte Robins Arm und kniete sich darauf. »Ehe sie sich selbst verletzt – oder einen von uns.«

Der Curandeiro unterdrückte ein Schluchzen. »Es funktioniert nicht.«

»Was?«, fragte Kenway.

»Ich bin nicht schnell genug. Das Höllenfeuer verbrennt sie innerlich.«

»Nein, nein, nein.« Kenway wiegte Robin auf seinem Schoß. »Gibt es keine andere Möglichkeit? Können die beiden anderen Sie nicht irgendwie … boostern? Ihre Kraft verstärken?«

»Schon gut«, sagte Robin mit ihrer knirschenden Stahlstimme. Ihre Augen brachen und wurden dunkel, als ihr Körper nachgab. »Ich liebe dich.«

Jeder Herzschlag fühlte sich in ihrer Brust wie ein langsames, vorsichtiges Stampfen mit einem Holzstab an.

»Ich liebe dich.«

Das Höllenfeuer beruhigte sich und erstarb und erlosch zischend.