9
Aufwachen!«, sagte Kenway und rüttelte an der Matratze, dass sie hin und her schaukelte. »Aufwachen!«
»Wer hat dir Meth gegeben?« Robins Augen waren verklebt und taten weh. Sonnenlicht strahlte heiß und grell durch einen Spalt in den Gardinen herein. Sie fühlte sich, als hätte sie gerade mal fünfzehn Minuten geschlafen.
Er rüttelte noch mal am Bett und zog die Vorhänge zurück. Jetzt wurde die Suite mit Morgensonne geflutet. »Niemand. Ich habe mal in einem richtigen Bett ausgeschlafen, nachdem ich abends ein heißes Bad genommen habe. Besser als Meth. Jetzt schwing deinen süßen Hintern aus dem Bett, dann holen wir Willy und machen uns auf die Suche nach Frühstück.«
Sie schob den Kopf unter ihr Kissen und knurrte.
»Kaffeeee«, hauchte er mit tiefer Stimme.
Widerwillig erhob sie sich aus dem Bett und zog sich ihre Jeans an.
Die Felge war gerade angekommen, als die drei gegen neun Uhr in der Werkstatt eintrafen. »Ich denke, so gegen Mittag können Sie ihn abholen«, sagte Jake, und das war in Ordnung, aber als Robin in den Wagen stieg und ihre Kleidung vom Vortag im Wäschekorb verstauen wollte, fiel ihr auf, dass jemand das Fliegengitter am Fenster über dem Spülbecken zerfetzt hatte.
»Was soll der Scheiß?«, schimpfte sie und stürmte hinaus.
»Was denn?«
»Das da!« Sie zeigte auf das Fenster, an dem ein Fetzen Fliegengitter im Wind flatterte. »Wer hat mein Fenster aufgeschlitzt?«
Der Mechaniker checkte sein Klemmbrett, als könnte er die Antwort dort finden. 7 Uhr: Ölwechsel. 8 Uhr: polieren und wachsen. 9 Uhr: Fliegengitter aufschlitzen. »Äh, keine Ahnung, Ma’am. Haben Sie den Wagen nicht so abgegeben?«
»Scheiße, nein!« Robin wandte sich an Kenway. »Schaust du nach, ob irgendetwas gestohlen wurde?«
»Ja, sicher.«
Sie hob hilflos die Hände, zuckte mit den Schultern und starrte in den Himmel, als wäre die Bedeutung des Ganzen vielleicht in die Wolken geschrieben. Dabei bemerkte sie eine Sicherheitskamera an einem Strommast in der Ecke des Geländes.
»Die Kamera!«, sagte sie und zeigte darauf.
Jakes Blick folgte ihrem Finger.
»Das führt zu nichts«, sagte er. »Die hängt da schon seit zehn Jahren oder so. Früher hat sie funktioniert, bis jemand einen Stein danach geworfen und die Linse kaputt gemacht hat.« Er trommelte mit dem Stift auf das Klemmbrett. »Diese verdammten Jugendlichen. Ich habe sie nicht reparieren lassen, mir war es nicht so wichtig, und es kostet ja auch Geld. Hier bricht sowieso niemand ein. Nur ein paar Schrottkarren auf platten Reifen. Das Einzige, was man hier stehlen könnte, sind meine Werkzeuge, und die schließe ich in einem Schrank in einem abgesperrten Abstellraum ein. Wenn Sie …«
Robin sah über Jakes Schulter und entdeckte ihr Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken, und zuerst meinte sie, zwei geschwungene Hörner zu sehen, die aus ihrem Schädel ragten,
(wir wollten sehen, wie menschlich Sie sind)
aber als sie sich bewegte, bemerkte sie, dass sie vor einer alten Bierreklame aus Blech stand. Ein geprägtes Bild eines silbernen Bullen mit langen, spitzen Hörnern ragte über einem verschneiten Gebirge auf. »Na ja, egal!«, knurrte sie wütend, weil sie sich wegen ihres dummen Spiegelbilds so erschrocken hatte. »In Houston finde ich sicherlich jemanden, der das Fliegengitter erneuern kann.«
Kenway kam aus dem Winnebago. »Alles sieht aus, wie es aussehen sollte, soweit ich sagen kann.« Halbherzig fuchtelte er vor seinem Gesicht herum, als wollte er eine lästige Fliege vertreiben. »Willst du bei der Polizei Anzeige erstatten?«
Er riecht ihn, dachte Robin. Den Schwefel.
»Dürfte wenig Sinn haben«, antwortete sie. »Selbst wenn die vorbeikommen und sich richtig Mühe geben, werden sie keine Spuren finden, und gestohlen wurde nichts. Also unternehmen sie nichts.« Sie stürmte vom Werkstattgelände, die Männer hinter ihr her. »Suchen wir uns was zu essen und was zu trinken, ehe ich anfange, irgendwen mit bloßen Händen zu erwürgen.«
Sechs heiße Blocks weiter fanden sie ein Waffle House, wo sie Eier mit Speck und jede Menge Kaffee verschlangen.
»Warum nennen Sie beide eigentlich Ihr Wohnmobil ›Willy‹?«, fragte Gendreau. In seinem makellosen weißen Hemd mit ordentlich hochgekrempelten Ärmeln sah er gepflegt und elegant aus.
»Braveheart«, sagte sie.
»Der Film mit Mel Gibson?«
»Es ist ein 1974 Winnebago Brave. In Oregon haben sie kürzlich im Spätprogramm Braveheart gesendet, und von da an haben wir den Wagen Brave William Wallace genannt. Das hat sich eingebürgert und verkürzte sich zu Willy.«
Auf der anderen Straßenseite fand sie einen kleinen Coffeeshop mit WiFi, wo sich jeder einen eiskalten Frappuccino bestellte, um sich gegen die steigenden Temperaturen zu wappnen, und Robin verbrachte den Rest des Morgens damit, Videos für YouTube zu schneiden. Tausende Kommentare unter den Videos von Malus Domestica warteten darauf, gelesen zu werden, während sich ihre Uploads durch das Modem des Coffeeshops zwängten, und sie schaffte nur dreihundert, bevor ihr die Buchstaben vor den Augen verschwammen.
Gegen Mittag gingen sie in das Einkaufszentrum nebenan und entdeckten ein Pfandhaus. Glücklicherweise jedoch ohne Reliquien von Hexen.
Ein kleiner Röhrenfernseher stand ausgestöpselt auf einem Regal. Traurigkeit und Einsamkeit strahlten von den Lautsprecherschlitzen aus wie Frostdämpfe aus einer Kühltruhe. Robin berührte ihn, und für einen Augenblick blitzte auf dem Bildschirm eine Szene auf, in der Fred Astaire mit Grace Kelly tanzte. Sie sah ein Blumenmuster vor sich, grelles Neonlicht, nahm das Quietschen von Schuhen auf Fliesen und den Geruch von industriellem Desinfektionsmittel wahr.
Seit den Ereignissen im letzten Oktober hatte sich bei ihr eine Art sechster Sinn für alte Gegenstände ausgeprägt. Vielleicht ein Gefühl für Übernatürliches. Vermutlich war das ein Nebenprodukt davon, dass sie diese Sensibilität für Teratom-Reliquien entwickelt hatte. Vielleicht war es auch nur Bullshit. Sie hatte nie mit jemandem darüber gesprochen. Möglicherweise handelte es sich lediglich um ihre hyperaktive Fantasie. Wahrscheinlich.
In Antiquitäten spuken Erinnerungen als Widerhall ihrer Benutzung; sie verstrahlen eine Aura wie die Hitze der Sonne, die in der Karosserie eines Wagens eine Zeit lang spürbar bleibt. Die meisten Menschen können dies bis zu einem gewissen Grad empfinden. Wenn man in einem Pfandleihhaus eine alte Violine betrachtet, sieht man die Abnutzung und stellt sich die Leidenschaft der Person vor, die sie ursprünglich besessen hat: jeden Abend üben, bis es die Eltern in den Wahnsinn treibt. Man sieht einen alten Videorekorder und fragt sich, wem er gehört haben mag, und man stellt sich eine Gruppe Teenager vor, die eine schwüle Sommernacht damit verbringen, sich Freitag der 13. auf Video anzusehen. Robin dagegen konnte ihre Hand auf eine Antiquität oder ein Objekt in einer Pfandleihe legen und Dinge über diese Gegenstände sagen, die eigentlich niemand wissen konnte. Keineswegs eindeutige Begriffe, sondern nur flüchtige, schwache Stimmungen – ein Ehering flüsterte vielleicht Hoffentlich wird es ein Mädchen, oder ein Messer erzeugte akustische Halluzinationen von den Geräuschen, die beim Ausweiden eines Hirsches entstanden waren.
Hinter dem Tresen hing eine blau-beige Gitarre an der Wand.
»Kann ich die mal in die Hand nehmen?«
Der Verkäufer lächelte. »Natürlich.«
Während sie das Instrument hielt, schoss ihr ein Bild durch den Kopf: weibliche Hände mit schwarzen Fingernägeln, die am Hals auf- und abglitten und ein Mötley-Crüe-Riff spielten.
Die Gitarre eines Mädchens. Robin kaufte sie.
Als der Mechaniker den Hauch von Schwefel roch, der immer noch in ihrer Kleidung hing, traute er sich nicht mehr, ihr in die Augen zu schauen. »Eine zusätzliche Felge ist im Kofferraum beim Reservereifen.«
»Haben Sie herausgefunden, was mit meinem Fenster passiert ist?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, nicht. Aber ich habe es zusammengeklebt. Hatte meine Heißklebepistole herumliegen. Sollte inzwischen getrocknet sein. Nur provisorisch. Sodass Sie es nach Houston schaffen, ohne dass die Mücken reinkommen.«
»Danke.«
Sie handelten die Rechnung aus. Alles war einwandfrei. Sie bezahlte mit Bargeld, das sie vor der Pfandleihe aus einem Automaten gezogen hatte. »Gute Arbeit, Mann«, sagte sie. »Wenn ich in der Nähe bin und Probleme mit dem Wagen habe, komme ich ganz sicher wieder hier vorbei.« Sie hob die Hand, und er schlug nach einem kurzen Zögern ein.
Im Wohnmobil schien die Luft zu glühen. Kenway stieg auf den Fahrersitz, stellte den Motor an, schaltete die Klimaanlage ein und flutete die Kabine mit kühler Luft. Während er aus der Parklücke fuhr, brachte Robin ihre neue Gitarre im Schlafraum unter und schloss überall die Fenster.
»On the road again«, sang Gendreau und imitierte Willie Nelson, so gut er konnte. Er parkte seinen schmalen Hintern in der Frühstücksecke. »Nun, wo geht es hin, Miss Martine?«
»Ich hatte gehofft, das könnten Sie mir sagen, Mr. Auditor.«
Seit Robin angefangen hatte, für Gendreau Hexen zu jagen, ließ er sie auch immer nach Teratom-Reliquien suchen. In diesem Jahr hatten sie nur eine gefunden, eine antike Glassturzuhr mit einem Zehenknochen im Inneren.
Ehe die Hunde des Odysseus Teratome benutzt hatten, um eigene Reliquien zu erschaffen, waren die einzigen Personen, die sie herstellten, Zeitgenossen von Aleister Crowley gewesen – Magier der Schwarzen und Roten Magie. Als Gendreaus Großvater Francis in den Sechzigern die Leitung übernahm, zerstörten oder stahlen diese alten Magier viele Reliquien, bevor die Weißen Magier sie in die Finger bekamen.
Wenn ein Magier, der eine Reliquie besaß, starb, wurde sie für gewöhnlich an seine Nachkommen oder nächsten Verwandten weitergegeben, die oftmals wenig über die Fähigkeiten wussten. Gendreau war auf die Uhr durch einen Zeitungsartikel über ein »spukendes Erbstück« aufmerksam geworden. Die Familie, an welche die Uhr gegangen war, behauptete, der Geist des Großvaters der Frau hause darin, denn seit dem Tag, an dem sie auf dem Kaminsims abgestellt worden war, ereigneten sich seltsame Vorfälle: Papiere wurden vom Wohnzimmertisch geweht, Türen schlugen zu. Eines Abends, während eines Streits, wurde der Hund von einer unsichtbaren Kraft aus dem Fenster geworfen, und der unheimliche Wind hatte mehrere Minuten im Zimmer getost.
Robin spürte es, sobald sie die Hände auf die Uhr legte: ein Hexen-Teratom, das mit der Gabe der Telekinese ausgestattet war. Die Familie hatte die psychokinetischen Kräfte der Reliquie versehentlich durch ihre Emotionen gechannelt. Ein menschengemachter Poltergeist.
Laut Gendreau konnte man solche Reliquien für gewöhnlich als Ursache für folgende paranormalen Phänomene ausmachen:
Poltergeister
spontane Selbstentzündung eines Menschen
Zeitverschiebungen
Objekte, die einfach vom Himmel fielen, wie Fische, Knöpfe, Münzen oder Steine
außerkörperliche Erfahrungen
zufällige Dimensionssprünge
Wer mit Reliquien nicht vertraut war, verstand oft nicht, was vor sich ging. Selbst wenn die tückischen Effekte der Reliquie bemerkt wurden, schrieb man sie Geistern, schlechten Träumen oder Kohlenmonoxid zu. Selig sind die geistig Armen, so hieß es, und die Unwissenden würden die verzwicktesten mentalen Verrenkungen anstellen, um die seltsamen Phänomene zu erklären. Alles, damit ihre Seligkeit nicht angetastet wurde, diese dünne Membran zwischen der alltäglichen Welt und dem Unbegreiflichen.
Manchmal zwang ein gravierender Einschnitt sie letztlich, das anzuerkennen, was ihnen widerfuhr, und ihre Erfahrungen entwickelten eine Logik. Sie hatten einen Autounfall. Sie fielen ins Koma. Sie erwachten mit der Gabe der Hellsichtigkeit in einem Krankenhaus. Sie wurden verprügelt, ausgeraubt, vergewaltigt oder in der Schule gemobbt, sie verloren eine geliebte Person, und plötzlich entwickelten sie Telekinese oder Pyrokinese – wobei sie in all diesen Fällen nicht einmal erkannten, dass die paranormale Energie schon in ihnen geschlummert hatte und nur unterdrückt worden war, um die so wichtige Seligkeit zu erhalten. Dass sie auf ihre Chance gewartet hatte und nach und nach kleine Beweisstücke ihrer Existenz von sich gegeben hatte: winzige Einsichten, geheimnisvolle Brände, Poltergeist-Aktivitäten, Ratten oder Schlangen, die ihnen überallhin folgten.
Selbstgefälligkeit und der Wunsch nach Normalität und Sicherheit konnten eine Menge seltsamen Kram übertünchen.
Am gefährlichsten unter den Besitzern dieser Reliquien waren die Selbstbewussten. Sie hatten ihre Erfahrungen und die Phänomene akzeptiert; sie hatten verstanden, was sie da besaßen, und sie würden sich mit Händen und Füßen sträuben, es abzugeben. Glücklicherweise war sie noch nicht auf diese Sorte gestoßen.
Gendreau holte sein Telefon hervor. »Ich will nur kurz nach meinen E-Mails schauen.«
»Ich verschwinde mal eben«, sagte Robin und zeigte auf das Badezimmer. Sie taumelte kurz, weil das Wohnmobil schwankte. »Ich brauche eine Minute für mich.« Im Badezimmer öffnete sie das winzige Fenster und ließ den Fahrtwind herein.
In einem Behälter unter dem Waschbecken suchte und fand sie ein Fläschchen Nagellack. Mitternachtsschwarz. Sie stemmte einen Fuß gegen die gegenüberliegende Wand, um sich abzustützen, und lehnte sich zurück. Dann tupfte sie schwarzen Lack auf den Nagel ihres linken Zeigefingers und hielt ihn in die Höhe. Das ist gut. Manchmal hatte sie solche Anwandlungen und wollte Dinge tun, die der Vorbesitzer eines Objekts getan hatte. Sich die Nägel schwarz lackieren wie das Mädchen, dem die Gitarre gehört hatte, zum Beispiel. So wie sie die Kräfte der Teratome aufsaugte, wurden dann die Erinnerungen ein wenig zu ihren eigenen, wenn sie gebrauchte Gegenstände bekam. Wie Ruß, der abfärbte, wenn man Holzkohle anfasste.
Ich frage mich, ob ich sie irgendwann finde und ihr die Gitarre zurückgeben kann. Das wäre schön.
Es roch sogar ein bisschen nach Holzkohle hier drin.
Und nach Schweiß. Sporthallenschweiß. Nach Füßen und Körpermief. Robin stellte die Lüftung an. Ein Ventilator begann sich rasselnd zu drehen. »Pass doch auf, Arschloch!«, schrie Kenway vorn und stieg auf die Bremse.
Die Reifen bellten mit einem Tremolo wie Robben auf einer Sandbank, und der Winnebago ruckte heftig und warf Robin an die Wand der Toilette. Eine Gestalt hinter dem Duschvorhang beugte sich zu ihr vor und drohte auf ihr zu landen. Robin standen Mund und Augen offen, und Adrenalin fuhr in ihren Körper ein. Oh, Gott, es ist eine Leiche, hier ist ein Killer unterwegs und hat eine Leiche in meiner Dusche zurückgelassen! Und dann kam eine Hand hervor, um sich über ihrem Kopf an der Wand abzustützen. Dem folgte ein weiblicher Überraschungsschrei. Der Winnebago schwankte heftig nach rechts und der Boden bebte, als Kenway in einen Parkplatz einbog.
Ihr Herz donnerte in ihrer Brust. Robin riss den Vorhang zur Seite: Dichtgedrängt standen zwei Frauen in der Dusche.
Verlegenes Schweigen. Robin starrte sie an und hielt den Vorhang mit frisch lackierten Fingernägeln. Die größere war ein dürrer Disney-Channel-Teenager. Die andere war schon älter, Mitte vierzig vielleicht. Beiden rann der Schweiß über das Gesicht, und das Make-up der älteren hatte sich in Tränen-Streifen aufgelöst.
Das junge Mädchen grinste entschuldigend.
»Wer zum Teufel sind Sie?« Robin stand empört auf und schob die ältere Frau zurück in die Dusche. Das Mädchen stieß sich den Kopf an der Plastikwand, und ein Stück Seife landete polternd auf dem Boden. »Was machen Sie in meinem Badezimmer?«
»Wir verstecken uns?«, gab die jüngere zurück.
»Was ist denn da drinnen los?«, fragte der Magier.
»Haben Sie mein Fenster aufgeschnitten?«, wollte Robin wissen. Sie spürte eine warme Gestalt hinter sich und sah Gendreau im Spiegel.
»Ja.« Das Mädchen blinzelte Robin misstrauisch an, wie jemand, der sich bemüht, ein Gesicht wiederzuerkennen. »Es … es tut mir leid. Ich habe es mit einer Nagelfeile aufgesäbelt, damit wir uns hier verstecken können. D-die Türen waren abgeschlossen.«
»Ach wirklich? Ich frage mich bloß, warum. Oder war ich zufällig in Kanada unterwegs, wo niemand die Türen abschließt und der Milchmann Mutti morgens zur Begrüßung ein Küsschen gibt?«
Das Mädchen musste gegen seinen Willen grinsen.
»Finden Sie das lustig?« Robin schrie jetzt fast. »In anderer Leute Wagen einzubrechen? Verdammt, in ihr Zuhause? Sie haben doch wohl begriffen, dass ich hier wohne, ja?«
»Wir verstecken uns vor meinem Ehemann«, sagte die ältere Frau mit starkem Akzent. Marina richtete sich stolz auf und sah Robin in die Augen. An ihrem Hals befand sich ein Ring schwacher blauer Flecken, unscharfe Tigerstreifen, die den Rand ihres Kiefers säumten.
Das Gesicht der Frau ließ Robin innehalten. Diesen Löwenmutter-Blick kannte sie.
»Vor Ihrem Ehemann?«, fragte Gendreau besorgt.
»Santiago.« Marina legte eine Hand an ihre Kehle, als wollte sie sich würgen; beinahe hätte sie noch einiges mehr von sich gegeben, sie wollte die Geste erklären, aber die Worte waren zu groß, um sie herauszubringen.
»Sie haben mich jedenfalls zu Tode erschreckt.« Robin blickte zwischen den beiden Gesichtern hin und her. Schließlich seufzte sie, gab sich geschlagen und verließ das Bad. »Kommen Sie an die frische Luft, Sie schwitzen ja wie in der Sauna. Wie heißen Sie denn?«
»Ich bin Carly.« Die blinden Passagiere setzten sich nebeneinander in die Frühstücksecke. Der Blick des Mädchens schweifte zwischen Robins amethystfarbenem Iro und Gendreaus Willy-Wonka/David-Bowie-Outfit hin und her. Das Mädchen war an sich nicht schlecht gekleidet, mit einer grünen Baby-Doll-Bluse und Jeans, doch die Sachen waren alt, abgetragen und fast zu klein. Irgendwer hatte ihr letztes Jahr schöne Sachen für die Schule gekauft, aber inzwischen war sie herausgewachsen.
»Ich kenne Sie irgendwoher«, sagte sie. »Sie kommen mir bekannt vor.«
»Das höre ich häufig.« Robin ließ sich auf der anderen Seite des Tisches nieder.
»Das ist meine …«
Ihre Mutter unterbrach sie. »Marina. Marina Valenzuela.«
Robin blinzelte. Sie holte sich ihre Messenger-Tasche, wühlte darin, nahm die GoPro-Kamera heraus, schaltete sie an und drückte sie an eine kleine Wandhalterung, bis sie den ganzen Tisch im Bild hatte.
»Daher kenne ich Sie!« Carly erstarrte. »Von diesem YouTube-Kanal über Hexenjagd!«
»Hexen?«, fragte Marina.
»Irgendwie hatte ich den ganzen Morgen so ein komisches Gefühl in diesem Wohnmobil, als wäre ich schon einmal hier gewesen, und jetzt weiß ich, warum. Das ist Robin Martina …«
»Martine«, berichtigte Robin.
»… und sie macht eine Fernsehsendung darüber, wie sie quer durch die USA Hexen jagt.«
»Es kommt nicht im Fernsehen; ich mache es für YouTube.«
Inzwischen hatte sich Kenway hinter dem Steuer hervorgequetscht und war in den Wohnbereich gestiegen. Carly drehte sich auf ihrem Platz herum und tat so, als würde sie in einer Hand eine Kamera halten und mit der anderen zustechen. »Es heißt Malice Irgendwas. Ich habe es nicht abonniert, aber ein paarmal angesehen.«
»Also«, sagte Robin und winkte ab. »Mir gefällt es überhaupt nicht, wieder in so einen Mist hineingezogen zu werden. Ich habe zwei Jahre lang Nancy Drew gespielt und meine Nase in kaputte Familien gesteckt, wenn es sich zufällig ergab, aber ich weiß nicht, ob ich damit weitermachen will. Ich habe Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin. Auf einem Friedhof in Clearwater liegt ein Kinderschänder, und zwar meinetwegen.«
Kenway und Gendreau sahen sie an. Nur Kenway wirkte jedoch ehrlich überrascht. »Augenblick, du hast einen Mann umgebracht? Keine Hexe und kein Monster? Einen ganz normalen gewöhnlichen Mann?«
»Entweder er oder ich!« Robin schrie fast. »Er kam früher von der Arbeit nach Hause als normal, ehe ich sein Haus verlassen konnte, und er hat mich im Abstellraum gefunden. Glücklicherweise hat er dort seinen Golfkram aufbewahrt. Wir haben mit Neuner-Eisen gefochten, und er hat mir zwei Rippen gebrochen. Und ein Bild von der Wand geholt. Und eine Blumenvase auf dem Küchentisch zertrümmert. Ich habe den Fernseher demoliert und die Front eines Geschirrschranks zerdeppert. Beinahe hätte er mir den Arm gebrochen.« Abwehrend verschränkte sie die Arme vor der Brust und starrte aus dem Fenster in die Ferne. »Habe dem Kerl ein bisschen zu hart an den Kopf gehauen. Und … vielleicht ein bisschen zu oft. Nach dem dritten Mal hätte ich wohl aufhören sollen.«
»Gott!«
»Seine Frau hat mir geholfen, ihn zu entsorgen.« Robin seufzte tief mit schlechtem Gewissen. »Sie war bei der Polizei gewesen, ehe ich überhaupt aufgetaucht bin, aber sie hatten nicht genug Beweise, um irgendetwas zu unternehmen, und als ihr Mann herausfand, was sie getan hatte, hat er sie übel vermöbelt.«
Plötzlich sprudelte alles in einer schnellen, nervösen Erklärung aus ihr heraus. Wie viel böses Blut an ihren Händen klebte! Die Vergewaltiger, die Kinderschänder, die gewalttätigen Ehemänner, die sie eingeschüchtert und … sag es ruhig, sprich es laut aus, okay, die Arschlöcher, die sie umgebracht hatte. »Das waren miese Stücke Scheiße, die um einen Arschtritt gebettelt haben.« Sie fühlte sich selbst wie ein Arschloch, sie hasste es, erklären zu müssen, was sie früher getan hatte, hasste, was sie getan hatte, hasste, es verteidigen zu müssen. »Aber als Kenway aufgetaucht ist, habe ich mich von niemandem mehr zu diesem Selbstjustiz-Kram drängen lassen.« Es war alles davor passiert, mehrere Monate ehe sie nach Blackfield gegangen war, um sich mit Marilyn Cuttys Hexenzirkel zu befassen. Sie sah Gendreau an, der sich wenig beeindruckt zeigte. »Sie haben es gewusst, nicht wahr?«
Der Magier zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Wir machen unsere Hausaufgaben, Miss Martine. Sie haben eine Reihe Zeitungsmeldungen hinterlassen, die kaum zu übersehen waren. Wir beobachten Ihr Vorgehen seit Neva Chandler. Da wussten wir, dass Heinrich Sie unter seine Fittiche genommen hatte. Danach brauchten wir nur noch zwei und zwei zusammenzählen.«
»Gott«, entfuhr es Kenway leise, und er starrte ins Leere. Er klang verloren, völlig aufgelöst. Der große Mann trottete zurück in die Fahrerkabine, ließ sich hinter das Steuer fallen und drehte den Foghat-Song, der aus dem Radio kam, lauter.
Was hat er denn für ein Problem?, dachte Robin. Schließlich war er Soldat. Als ob er sich große Sprüche leisten könnte! Sie starrte auf seinen Hinterkopf und dann Carly Valenzuela an. Kenway. Carly. Kenway. Carly.
»Er wusste es nicht?«, fragte Gendreau.
»Er weiß es. Jetzt. Besten Dank auch!«
Der Magier zuckte zusammen.
Sie ging hinüber und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, beugte sich zu ihrem Freund vor und fragte: »Was gibt es für ein Problem, Han Solo?«
Er sah sie aus den Augenwinkeln an. »Ich weiß nicht.« Seine blauen Augen wanderten langsam über das Armaturenbrett, das Lenkrad, das Radio. »Ich schätze, irgendwie hat sich gerade mein Blick auf dich verändert. Bislang wusste ich nur, dass du Hexen tötest. Ich hatte keine Ahnung …«
»Er war ein Kinderschänder.«
»Weißt du das auch sicher?«
»Ja.« Robin nickte ernst. »Ich habe Beweise gesehen.«
»Das gibt dir noch lange nicht das Recht, Richterin, Geschworene und Henkerin in einer Person zu spielen. Wenn ich in Afghanistan etwas gelernt habe, dann das: Niemand hat den Tod verdient.«
»Nein, aber manche betteln geradezu darum.«
Kenway starrte sie an.
»Sie gehen direkt auf dich zu und verlangen es«, sagte sie. »Dann heißt es: sie oder du.«
»Vielleicht. Trotzdem gibt es einen Unterschied, ob irgendein Rebell mit einer Ak-47 auf dich losgeht oder Buchhalter Joe Bob, der nur ein Arschloch ist. Das eine ist Krieg. Das andere ist Dienstag.«
»Na ja, dieser Kinderschänder hat es sicherlich mehr verdient als irgendein Ziegenhirte, der auf dich schießt, damit die Taliban seine Familie nicht ermorden.«
Er seufzte. »Diesen Kerl bringst du aber nicht um, ja? Den Mann dieser Frau. Er ist doch zu hundert Prozent ein Mensch, oder?« Er schloss die Hände ums Lenkrad und knetete es fest. »Ich finde Männer, die ihre Frauen verprügeln, genauso abscheulich, und ich würde ihnen jederzeit eine Tracht Prügel dafür verabreichen, aber ich bin kein verdammter Dexter Morgan. Bei dieser Buffy-Sache bin ich dabei und kämpfe gern den ganzen Tag gegen Monster, aber wenn du in dieser anderen Richtung etwas vorhast, dann ohne mich.«
»Ich habe nichts dergleichen vor«, sagte sie entschieden. »Keine Menschen mehr. Nur noch Monster. Diese Entscheidung habe ich schon vor langer Zeit getroffen.« Sie beugte sich vor und wollte ihn auf die Stirn küssen, doch er wich ihr aus. Ein Augenblick verstrich, während sie auf seine Schläfe starrte. Er sah sie misstrauisch an. Scheint, je mehr er über mich erfährt, desto weniger steht er auf mich, dachte sie, und ihr Mut sank wie in Treibsand.
Zu ihrer Überraschung stand Annie Martine im Durchgang, war jedoch nur durch das schwache Licht auf ihrer Spektralhaut sichtbar, als wäre sie in die Realität gemalt. Wie üblich bemerkten weder Gendreau noch die beiden Frauen den Geist.
»Sie brauchen deine Hilfe«, sagte ihre tote Mutter mit ihrer hohlen Telefonstimme. »Du kannst sie nicht hierlassen, allein mit diesem Kerl, Vorsätze hin oder her.«
Verdammt. Robin seufzte.
»Also gut«, sagte sie an die Valenzuelas gerichtet, »Sie können mit uns nach Norden kommen.«
Carly setzte sich auf. »Was?«
»Ich denke doch, irgendwo in der Nähe des Vulkans, in dem Ihr Großvater sein geheimes Zaubererversteck hat, wird es in Michigan ein Frauenhaus geben, G?«
»Ja, sicherlich.« Der Magier lehnte sich an den Tresen und begutachtete seine makellosen Nägel. »Ich kenne mehrere. Habe davon gehört, als ich freiwillig in der Suppenküche gearbeitet habe. Und Francis wohnt nicht in einem Vulkan, ja? In Michigan gibt es keine Vulkane. Heutzutage jedenfalls nicht mehr.«
»Sie haben freiwillig in einer Suppenküche gearbeitet?«
»Ja? Haben Sie ein Problem damit? Halten Sie mich nicht für jemanden, der solche Sachen tut?«
Alle starrten ihn trocken an, sogar die Valenzuelas.
»Okay, ja, ich bin nicht der Typ, der am Topf steht und das Essen ausgibt, aber ich spende regelmäßig und fahre viel für sie rum … außerdem habe ich von Zeit zu Zeit in der Küche ein bisschen angegeben. Man wächst nicht in Frank Gendreaus Haus auf, ohne das eine oder andere über kreolische Küche zu lernen.« Sein Lächeln verschwand. »Warum nehmen wir sie mit nach Michigan? Warum nicht nach Houston?«
»Houston ist nicht weit genug entfernt.« Robin musterte die Gesichter von Marina und Carly. »Wie finden Sie das? Ich bin sicher, dort gibt es gute Schulen, wo man einen Highschool-Abschluss machen kann. Und bestimmt findet man auch schnell neue Freunde.«
Mit einem einzigen Blick verständigten sich die Valenzuelas ohne Worte.
»Ich weiß nicht«, sagte Marina, »wir haben unser Leben hier, wissen Sie? Wie können wir das einfach aufgeben?«
»Dieses Leben?« Während sie es sagte, rieb sich Robin den Hals. »Ich passe auf Sie beide auf«, sagte sie vielleicht ein bisschen verzweifelter, als sie es meinte. »Ich … ich verspreche es. Nur zerschlitzen Sie meine Fenster nicht mehr, okay?«
Die gehetzte Frau hatte wohl lange nichts so Nettes mehr gehört, denn ihre Augen füllten sich mit Tränen der Erleichterung.