37

Als das Feuer erlosch, trieb sie in der tiefsten Dunkelheit, die sie je erlebt hatte. Nach einer Weile begriff sie, dass sie nicht auf regennassem Asphalt lag, sondern auf einem trockenen Holzfußboden, der dick mit Staub überzogen war. Ein schmaler Holzsteg dehnte sich endlos in schwarzen Raum aus.

Schemen zeichneten sich im Nichts ab und trieben wie gehisste Segel langsam und monumental auf den Steg aus Parkett zu. Große Bruchstücke von Holz und Gips, begleitet von kleineren, schartigen Stücken und roten Ziegeln. Die Ziegel fügten sich wie in einem Puzzle zu Säulen und Vorsprüngen zusammen, und das Holz mit Nut und Feder schob sich darum zusammen und bildete Wände. Gips breitete sich über dem Holz wie weiße Erdnussbutter aus und härtete augenblicklich aus. Tapeten verhüllten die Wände mit Damast in der Farbe von Rotwein.

Ein andersweltliches Haus baute sich selbst um sie herum.

Ein Licht flammte auf und blendete sie. Eine elektrische Lampe hing von der Decke, eine fragile, mit blauen Blumen bemalte Porzellankugel in einer Messinghalterung. Robin beschlich das Gefühl, dieser Ort existiere nur dann, wenn er gebraucht wurde.

In den Wänden klafften große dunkle Rechtecke auf. Türöffnungen. Bretter erschienen aus dem Abgrund und wuchsen aus der Dunkelheit zusammen – Türen, rote Türen, mit Messingknauf und glänzendem Lack. Messinggucklöcher erschienen in den Türen, winzige glitzernde Glaslinsen.

Keine der Türen hatte eine Zahl, nur die Gucklöcher. Robin erhob sich und ging zur ersten Tür.

Licht strömte durch die Linse; Robin hob die Hand und fing das Licht auf wie die Leinwand eines Kinos. In ihrer Handfläche sah sie einen windigen, felsigen Strand, und die Sonne schien an einem wolkenlosen Himmel. In der Ferne schrien Möwen. Lethargisch schlugen Wellen ans Ufer.

Am Strand saß eine Frau mit dem Rücken zur Tür. Sie drehte sich um und schaute zurück, als habe sie gespürt, dass sie beobachtet wurde, wandte sich jedoch wieder dem Ozean zu. Wer auch immer sie war, sie wirkte nicht unglücklich. Die Frau stand auf, ging davon, immer am Wasser entlang, bückte sich, hob einen Stein auf und verzog enttäuscht das Gesicht. Sie warf den Stein ins Meer.

Robin schloss die Hand, und das Bild verschwand. Dann stockte ihr kurz der Atem.

Halb im Schein der Laterne ragte im Gang eine Gestalt auf, ein Goliath in trauerschwarzer Robe, welche vorn offen stand und zwei enorme Brüste und einen glockenförmigen Bauch freigab. Die Gestalt war groß, riesengroß, die samtigen Arme von Muskeln gewölbt, und sie war barfuß. Der Kopf war der einer Kuh, schwarz und seidig, mit arglosen schwarzen Augen und mondweißen Hörnern.

In der Mitte zwischen diesen Hörnern schwebte eine Miniatur der Milchstraße, ein Spinnennetz aus Licht, das sich von Hornspitze zu Hornspitze spannte. Sternartige Punkte wanderten durch die Galaxie, die sich drehte, eine zarte und betörende Spindel.

Die kuhköpfige Frau sah sie an und ging davon in die Dunkelheit.

Robin folgte ihr.

Während sie den Gang entlanggingen, erwachten die elektrischen Porzellanlampen eine nach der anderen zum Leben und erhellten ihnen den Weg. Stets verschmolz die kuhköpfige Frau mit der Dunkelheit, ehe das nächste Licht aufflammte, sie ging voran, als brauche sie nichts zu sehen oder als wisse sie, wohin sie ging, mit Licht oder ohne. Was ganz bestimmt der Fall war, denn die Miniatur der Milchstraße warf einen schwachen Schein auf die Wände um sie wie eine Taschenlampe, die durch zusammengepresste Finger leuchtete.

»Wer bist du?«, fragte Robin.

Keine Antwort außer dem beständigen, zielstrebigen tock … tock … tock … ihrer Schuhe – oder vielleicht waren es Hufe – auf dem Holzfußboden.

»Wohin gehen wir?«

»Deine Mutter wartet«, sagte eine Stimme, die erstaunlich sanft und mütterlich klang, aber einen starken Akzent hatte, den Robin nicht einordnen konnte. Der Kuhmund bewegte sich nicht; die Stimme war einfach zu hören, als würde sie aus dem Off sprechen, und sie klang außerdem gedämpft wie durch eine dicke Decke. »Willkommen in Cosmotelluria.«

»Ist dies das Jenseits?«, fragte Robin. »Nicht ganz das, was ich mir vorgestellt habe.«

»Das Jenseits ist nicht so, wie du es dir vorstellst. Es ist so, wie sich das Jenseits dich vorstellt.«

»Sowjetrussland, wie?«

»Nein«, sagte die Kuhgöttin. »Es heißt Cosmotelluria.«

»Also, Cosmopolitana stellt sich mein Innerstes als ein altes Haus vor?«

»So könnte man es sagen.«

»Warum?«

Keine Antwort. Robin war es recht; sie hatte das Gefühl, die Antwort hätte ihr nicht gefallen.

»Könnte schlimmer sein. Zumindest bin ich kein Vape-Shop von innen.«

Sie gingen weiter.

»Was mache ich? Fühlt sich an, als wäre ich schon zu lange hier gewesen. Inzwischen sollte ich in einem Krankenwagen liegen, während Sanitäter meine Brust mit Elektroschocks malträtieren oder so.«

Die Kuhfrau beachtete sie nicht.

Robin folgte ihr den Gang entlang und bog mehrmals an Kreuzungen ab und ging um Ecken, passierte Dutzende oder vielleicht Hunderte roter Türen, durch deren Gucklöcher Licht aus anderen privaten Welten leuchtete. Einmal blieb sie stehen und hielt die Hand über eines, sodass sie in ihrer Handfläche einen Mann mit Brille sah, der still in einer riesigen Bibliothek saß, umgeben von Bücherstapeln, während die Sonne durch ein großes gotisches Fenster auf ihn schien.

»Dies sind die persönlichen Himmel einzelner Menschen, oder?«, fragte Robin die Kuhfrau.

»Diese Räume beinhalten, was immer du brauchst«, sagte die Gestalt, die Robin stets den Rücken zuwandte, während sie durch das geheimnisvolle Haus lief. »Aber nicht immer das, was du willst.«

»Wer bist du?«

Nun blickte die Kuhfrau über die breite Schulter, und die Galaxie drehte sich mit ihren Hörnern. »Die Frage wird mir nicht oft gestellt. Die meisten von euch sind mehr damit beschäftigt, wo sie sind und wohin sie gehen, als damit, wer ich bin und weshalb ich sie dorthin bringe.«

»Tja«, sagte Robin und patschte mit nackten Füßen über das Parkett, »ich habe aber danach gefragt.«

»Manche nennen mich die Herrin des Westens«, sagte die Kuhfrau, »andere das Haus der Aufgehenden Sonne. Wieder andere nennen mich die Mutter der Flüsse. Auch als Herrin der Freude bin ich bekannt. Vor allem aber bin ich die Hüterin dieses Ortes.«

»Haus der Aufgehenden Sonne? So wie in ›House of the Rising Sun‹? Aha. War deine Mutter Schneiderin?«

»Ich habe keine Mutter. Keine, an die ich mich erinnere.«

»Und deshalb hast du keinen richtigen Namen?«

»Falls ich mir je einen Namen ausgesucht habe, kann ich mich daran nicht erinnern. Nur an die, die man mir gegeben hat.« Sie hielt eine Hand vor ein Guckloch, und Robin erhaschte einen Blick auf eine Frau, die einen Waldpfad entlang durch die Sonne ging. Bestürzt erkannte sie Marina Valenzuela, zwanzig Jahre jünger, ohne jedes Grau im Haar und ohne jede Falte, dafür mir hellen, klaren Augen.

»Du hast gesagt, du bringst mich zu meiner Mutter?«

»Du wirst nicht lange hier sein«, erwiderte die Mutter der Flüsse. »Die Macht der Königin der Erde wird dich bald zurückschicken. Ich habe die Aufgabe übernommen, dich zu deiner Mutter zu bringen, während du hier bist, denn es wird eine lange Zeit bis zu deiner Rückkehr vergehen.«

»Die Königin der Erde?«, fragte Robin und blieb im Gang stehen.

»Du kennst sie als Göttin des Todes, Ereshkigal. Den Griechen ist sie als Hekate bekannt.«

»Oh.«

Robin beäugte die Tür, die zu Marinas persönlichem Jenseits führte. »Gibt es eine Möglichkeit, sie wieder mit zurück auf die Erde zu nehmen?«

»Nein«, sagte die Mutter der Flüsse.

»Warum nicht?«

Anstelle einer Antwort wandte sich die kuhköpfige Göttin um und ging tiefer in das Labyrinth. Widerwillig riss sich Robin von Marinas Tür los und folgte. »Warum nicht?«, versuchte sie es erneut. »Sie hat eine Tochter, auf die sie aufpassen muss. Sie hat noch etwas zu erledigen. Ist das nicht der Grund, warum Geister auf der Erde festsitzen?«

Keine Antwort.

»Ich meine nicht, dass ich sie als Geist mitnehmen will – sie braucht einen Körper und so.«

Nichts.

»Bist du sicher, dass wir das nicht hinbekommen, nur ein einziges Mal als Ausnahme?«

Sie gingen weiter. Die Hartnäckigkeit ihrer Führerin ärgerte Robin, aber was sollte sie machen: sich mit einer Göttin anlegen? Das hörte sich nicht so an, als würde es ein gutes Ende nehmen.

Und doch …

»Also, Herrin von Westworld, was bedeutet Königin der Erde? Herrscht Ereshkigal wirklich über die Welt?«

»Einst«, sagte die Göttin, »vor langer Zeit, als ich jung war. Die wunderschöne Königin der Antike, eine Halbgöttin mit unermesslicher Macht, die ihr der Vater des Mondes gewährt hatte. Aber sie wurde in die Wüste der Angst verbannt, weil sie ihre Schwester ermordet hat, und dort harrt sie seitdem aus und schmiedet Pläne für die Rückkehr in ihr Königreich.«

»Und an der Stelle setzt mein Wissen ein. Danke für die Hintergrundinformationen.«

Die Mutter der Flüsse blieb mitten im Gang stehen. Obwohl sie sich nicht mehr rührte, ächzte und stöhnte der Boden, als wollte er sich unter ihren Füßen teilen. Die Decke war wenigstens vier Meter hoch, und es fehlte nicht viel, dann wären die Kuhhörner, die aus ihrem Schädel ragten, den Porzellanlaternen ins Gehege gekommen. »Wir sind da«, sagte sie. Ohne jede Erwartung in den schwarzen Kuhaugen, ohne jede Emotion. Ihre gesamte Persönlichkeit lag in ihrer Stimme. Die Göttin war monumental, unbeweglich, stoisch.

»Herrin der Freude, wie?«

Robin ging zu der Tür, die der Mutter der Flüsse am nächsten lag, und hielt die Hand vor das Guckloch.

In ihrer Handfläche sah sie zwei schwache Lichtflecken – einen tragbaren Fernseher und davor der Fernsehsessel, in dem Robin in ihrer Kindheit immer am Samstag die Trickfilmserien geguckt hatte. Sie bekam eine Gänsehaut, als sie das erkannte.

In dem Sessel saß eine ihr sehr bekannte Frau.

»Mom«, sagte Robin.

Die Mutter der Flüsse erwiderte nichts, aber dieses Nichts klang wie Zustimmung.

»Warum ist es da drin so dunkel?« Robin betrachtete das Bild auf ihrer Handfläche. »Nicht gerade wie im Himmel. Das ist doch wohl nicht ihre persönliche Hölle, oder? Bis in alle Ewigkeit im Dunkeln zu sitzen.«

»Ich habe dir gesagt, was diese Räume enthalten.«

»Ja.«

»Wenn du sehen könntest, was im Fernseher läuft, würdest du wissen, was deine Mutter braucht.«

Plötzlich wollte Robin unbedingt die Tür öffnen und hindurchgehen.

Also tat sie es.

Eine warme Sommerbrise zog durch das Fenster herein und brachte das leise Zirpen von Grillen mit. Sie war im Winnebago – in ihrem eigenen, dem Brave, der irgendwo in Texas am Geländer einer Brücke geendet war – , aber das Ding war in hervorragendem Zustand, und draußen herrschte Nacht. Die kleine Küchenecke war ausgebaut und durch den Sessel ersetzt worden, und die Waffen, die Robin an den Wänden befestigt hatte, waren gegen Keramikfiguren von Füchsen und Fuchs-Kuscheltiere ausgetauscht worden. Ihre Mutter liebte Füchse.

Auf dem Bildschirm des kleinen Schwarz-Weiß-Fernsehers sah man Kenway und die anderen neben ihrem leblosen Halbdämonenleib auf dem regennassen Asphalt von Fort Bostock knien. Robin und Annie schauten ihren Freunden beim Trauern zu. Vielleicht warteten sie auch geduldig darauf, dass etwas passieren würde. Elisa war zum Pick-up gegangen und tröstete Carly, aber Kenway und die Magier knieten weiterhin um Robins Leiche.

»Hi, Mama.«

»Hey, Kleines.«

»Wo gehst du hin, wenn ich dich nicht sehen kann?«, fragte sie. »Wenn du nicht bei mir bist – wo bist du dann? Hier?«

Annie schien darüber nachzudenken. »Ja, ich bin hier. Wenn mir die Luft ausgeht und ich mich nicht mehr in der realen Welt festhalten kann, bin ich wieder hier. Nicht schlecht hier. Warm. Ruhig. Und verdammt viel besser als Marilyn Cuttys Baum. Ein bisschen so, als würde man ein Telefon aufs Ladegerät stellen. Ich kann immer noch sehen, was bei dir los ist, aber es fühlt sich fern an, als wärst du in einer Fernsehsendung und ich würde dir auf einem kleinen tragbaren Gerät zuschauen.« Sie zeigte auf den winzigen Magnavox. »So wie der. So einen hatten wir, als du klein warst.«

»Wir haben ihn mit zum Camping genommen.« Robin holte tief Luft und seufzte, während sie sich in der Nachbildung ihres inzwischen schrottwertigen Wohnmobils umschaute. »Eigentlich ganz hübsch. Ich könnte auch ein bisschen Ruhe und Frieden gebrauchen.«

»Oh … nein, Liebling, jetzt noch nicht«, sagte Annie.

»Was meinst du damit?«

»Deine Zeit ist noch nicht gekommen.«

Ein kindlicher Trotz, den Robin seit langer Zeit nicht mehr verspürt hatte, überkam sie. »Warum nicht? Warum kann ich nicht hier bei dir bleiben? Warum muss ich zurück?« Der Trotz entwickelte sich zu Panik. »Wenn ich jemals in meinem Leben Schuld auf mich geladen habe, verdammt, dann habe ich sie längst tausend Mal beglichen. Diese schrecklichen Menschen, die ich beseitigt habe – der Pädophile in Florida, der Vergewaltiger in Louisiana, der Serienmörder in Oregon – und Gott, all die Hexen. All die verdammten Hexen. Auf mich wurde geschossen, ich wurde gebissen, auf mich wurde eingestochen, ich wurde verbrannt. Ich bin hier wie der verdammte Rasputin.« Sie starrte ihre Freunde in dem kleinen Fernseher an und schüttelte den Kopf. »Gestern bin ich gestorben, und heute sterbe ich schon wieder. Wie oft muss ich noch sterben, ehe ich die Kinderschänder, Vergewaltiger, Mörder ausgeglichen habe? Ich bin bereit, die Schuld zu begleichen, aber dann ist es auch mal irgendwann gut. Ja, ich habe ihnen wehgetan, habe sie aus der Stadt vertrieben, habe sie hinter Schloss und Riegel gebracht. Habe sie umgebracht. Hey, der Staat tut es auch. Ich überspringe doch nur eine Stufe.« Je länger sie redete, desto schneller sprudelten die Worte aus ihr heraus. »Wenn ich sie nicht aufgehalten hätte, würden sie immer noch Menschen wehtun. Das System ist Bullshit. Das System funktioniert nicht. Ich …«

»Kleines.«

»Ich bin nicht Batman!« Robin versuchte weiter, ihren Standpunkt darzulegen. »Diese Arschlöcher zu töten macht mich nicht so schlecht wie sie! Es macht mich nicht zum Monster! Es gibt Grenzen, und die haben sie überschritten! Sie sind nicht unschuldig, und ich bin kein Monster!«

»Kleines«, sagte Annie, legte ihr die Hand auf den Arm und wollte sie beruhigen.

Robin zuckte vor der Hand ihrer Mutter zurück – nicht vor Schreck, sondern vor Überraschung. Sie hatte ihre Mutter seit letztem Halloween mit schöner Regelmäßigkeit gesehen, aber berühren hatte sie Annie nie können.

»Du hast mich angefasst!«

»Komm her«, sagte Annie und streckte die Arme aus.

Das Schluchzen kam von den Menschen, die sich um ihren Körper versammelt hatten. Kenway lag auf den Knien, hatte die Stirn auf Robins leblose Brust gedrückt und heulte sich die Augen aus dem Kopf.

»Verdammt«, sagte Robin und seufzte geschlagen. »Verdammt.«

Sie schlang die Arme um Annie und drückte sie so fest an sich, wie sie noch nie jemanden an sich gedrückt hatte.

»Du wirst nicht bestraft, Liebling«, sagte Annie über Robins Schulter. »Ich weiß, dass du das glaubst, weil du in den vergangenen Jahren so viel durchmachen musstest. Das gehört dazu, wenn man eine Heldin ist. Die meiste Zeit bekommen die Guten immer die harte Seite des Lebens zu spüren. Weißt du, was ich meine? Wir kriegen sie nicht alle, aber wir geben den Kampf nicht auf. Das ist der Sinn, oder? Nicht der Sieg macht dich zum Helden, sondern das Weiterkämpfen, wenn du verlierst. Wie heißt es noch? ›Wir schlafen tief und fest in unseren Betten, weil harte Männer in der Nacht bereitstehen und die Gewalt zu jenen tragen, die uns Böses wollen.‹

Aber wer will behaupten, dass man ein Mann sein muss, um hart zu sein?«

Ihre Tochter umklammerte sie noch fester.

»Böse zu sein bedeutet, den leichten Weg zu gehen. Gut zu sein heißt, sich für den härtesten Weg zu entscheiden. Du bist keine bequeme Frau. So haben ich und Heinrich, gesegnet sei sein verdorbenes Herz, dich nicht erzogen.«

»Lass mich nicht wieder allein«, sagte sie, den Kopf an Annies Schulter, und zog sie an sich.

»Das habe ich nie.« Annie befreite sich aus Robins verzweifelter Umarmung. »Also gut. Zeit zu gehen.« Sie lächelte und hielt Robin an den Schultern. »Zeig es ihnen, Schatz. Niemand schlägt meine Tochter. Ich habe ernst gemeint, was ich gesagt habe: Du bist eine harte Frau. Geh da raus und erledige deine Arbeit.«

Das erleichternde Gefühl, behütet zu werden, überkam Robin wie in jenen friedvollen Tagen von aufgeschürften Knien und Trostkeksen. »Wie soll ich denn zurückgehen?« Robin starrte auf die Fernsehversion von sich selbst, die blutbedeckt auf dem Boden lag. »Sieh mich an – ich bin tot.«

Ein seltsames Wissen funkelte in den Augen ihrer Mutter. »Meine Tochter, geh und suche Marina. Mein kleiner Satansbraten.«

»Marina?«, fragte Robin verwirrt. »Ich habe ihre Himmelstür gesehen, aber …«

»Vertrau mir«, sagte Annie und lächelte. »Und jetzt raus hier. Such Marina. Ereshkigal weiß, dass du hier bist; sie sucht nach dir. Sie kommt.«

»Ich verstehe nicht. Was bin …«

»Hast du vergessen, was ich bin?« Annie erhob sich aus dem Sessel und stellte den Fernseher ab. »Ich bin untrennbar durch meinen Herzweg mit Ereshkigal verbunden, auch ohne fleischlichen Körper.« Zu hören, wie ihre Mutter den Herzweg erwähnte – einen Ausdruck, den sie mit Hexen assoziierte, mit diesen tobenden alten Weibern mit Haifischzähnen, die sie schreiend durch dunkle Gassen gejagt oder ihr die Arme mit schmutzigen Fingernägeln aufgerissen hatten – , ließ Robin innehalten und erfüllte sie mit einem kalten Gefühl der Leere, als hätte man sie ausgehöhlt. »Ich bin wie ein Marine; nur weil ich tot bin, höre ich nicht auf, eine Hexe zu sein.« Sie führte Robin zur Tür des Wohnmobils. »Geh und suche Marina. Nimm sie mit zurück; bring sie in die Welt der Lebenden. Für Carly.«

»Wie?«

»Das kriegst du schon raus, kleiner Dämon.«

Die Unverfrorenheit, mit der ihre Mutter Dämon sagte, überraschte Robin. Das verwirrte sie noch mehr und beleidigte sie sogar ein bisschen. Sie sah Annie von der Seite an, als entdeckte sie eine ganz neue Facette an ihr. »Selbst die Chefin der Aufgehenden Sonne draußen sagt Nein. Ich habe schon gefragt.«

»Wann hast du dich von einem Nein aufhalten lassen?« Annie sah Robin in die Augen und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Was soll sie denn machen, dich rauswerfen?« Sie öffnete die Wohnmobiltür. »Geh. Ich bin direkt hinter dir«, sagte sie und schob Robin hinaus.