35

Gebäude ragten über ihr auf wie die Felswände eines Cañons, und der sich verdunkelnde Himmel raubte dem Tag das Licht. Robin schritt durch eine Tiefseewelt, als lägen die Ruinen von Fort Bostock am Grunde eines Ozeans.

Schwarze Fenster klafften wie Augenhöhlen in riesigen Schädeln, manche waren mit blindem Glas überzogen. Sie ging langsam voran und hielt den Speer bereit.

Sie sog alles in sich ein, in Herz und Kopf, sie kontrollierte den Wut-Hunger des Dämons und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe, anstatt zurück in die Stadt zu wandern. Jeder Schritt zerrte an einem Seil, das in ihrem Inneren befestigt schien, und zog sie zurück zur Zivilisation. Sie sah das Leuchten am Himmel, wo Keyhole Hills und Lockwood ihr Abendlicht in die Dämmerung sandten, und wollte dort hingehen und es niedermachen. Sie könnte den Hunden des Odysseus sagen, die Gefahr, dass sie die Kontrolle über sich verlöre, bestehe nicht mehr, denn zu diesem Zeitpunkt bestand sie tatsächlich nicht … Aber wenn sie durch die nächste Transformation – vorausgesetzt, es folgte eine weitere – den Zugriff auf ihre menschliche Seite verlor, konnte sie das nicht garantieren. Jedes Mal, wenn es passierte, fühlte es sich natürlicher an … und animalischer.

Das darf ich nicht zulassen.

Zerschmetterte Fenster grinsten sie an. Dies muss das letzte Mal gewesen sein. Kein Nancy-Drew-Mist mehr, kein Rufen-Sie-Dexter mehr, keine Hilfe für Fremde, die von Stalkern und gewalttätigen Ehemännern und perversen Onkeln befreit werden mussten. Keine Opfer mehr. Kein Märtyrertum für die Geknechteten. Wenn du das so weiterlaufen lässt, bist du irgendwann entweder ein unkontrollierbares Monster oder weg vom Fenster. Sie fühlte sich, als würde sie alle im Stich lassen, aber zur Abwechslung musste sie auch mal an sich denken.

Sie hatte sich so weit von ihren Freunden entfernt wie möglich. So weit wie möglich von allen. Sie konnte Kenway nicht mehr retten – er hatte jede Rettung hinter sich gelassen, dank seiner verfluchten Mutantin –, aber sie konnte die Hunde des Odysseus und die Parkins und Joel und alle in Blackfield vor dem Dämon in ihr retten.

Kleine Schritte. Du kannst nicht alle voreinander retten, aber du kannst sie vor dir selbst schützen. Tu, was du kannst, mit dem, was du hast.

Sie seufzte. Alter, das verfluchte Übernatürliche nervt.

»Gib mir die Reliquie, Santi«, rief sie, doch ihre verzweifelte raue Stimme schien keine fünf Meter weit zu tragen. »Dann ist die Sache vorbei. Deine Tochter lebt noch.«

»Nein.« Santiagos Stimme klang, als käme sie aus einem ganzen Chor von Mündern. Sie hätte schwören können, dass aus allen Fenstern um sie herum jemand sprach. »Ich muss dich töten, sonst wird sie getötet.«

»Wer?« Robin drehte sich im Kreis und suchte nach dem Sprecher. »Wer wird wen töten?«

»Du. Und deine Freunde. Ihr werdet meine Tochter töten wie schon meine Frau.«

»Was? Ich habe ihr versprochen, sie zu retten

»Meiner Frau auch.« Santis Stimme kam als Wispern einer verschwörerischen Versammlung. »Sie ist tot. Hast du ihr nicht auch versprochen, sie zu retten?«

Robins Herz klopfte beklommen in ihrer Brust. Sie fragte sich, ob es dieser Sturm reinen Lichts war, dieser heiße Stern, wie im letzten Jahr, als sie in Dämonengestalt im Düsterhaus gewesen war, oder ob es diesmal ihr echtes Herz war. »Nein!«, widersprach sie. »Marina ist gestorben, weil uns dein Freund Tuco überfallen hat; er hat den Unfall des Wohnmobils verursacht. Marina ist durch das …«

»Lügen. Du lügst mich an. Du hast sie in die Schlucht geworfen, um mich zu erwischen. Du hast meine Frau sterben lassen, damit es mir wehtut.«

»Ich sage die Wahrheit.«

»Du sagst das alles nur, um deine Haut zu retten«, knurrte Santiago mit tausend heiseren Zungen. »Lass meine Tochter in Ruhe, und ich lasse dich am Leben. Sie bleibt bei mir.«

»Warum hast du Marina verschlungen?«

»Weil ich nicht erlauben durfte, dass sie mich wieder verlässt.«

Und zu Robins Überraschung und Entsetzen und Verzweiflung sprach plötzlich Marina Valenzuelas Stimme aus den Ruinen, aus dieser verlassenen Stadt der Stimmen. »Jetzt bin ich ein Teil von ihm«, sagte die tote Frau, »für jetzt und immerdar.«

»Du bist krank, Santi.«

Santiagos raues Lachen hallte durch das Labyrinth der Gebäude. »Hat es so lange gedauert, bis du es bemerkt hast?«

»Gib mir den Benzintank, und wir gehen.«

Stille.

Sie glaubte, ein Scharren von Schuppen aus den Fenstern zu ihrer Rechten zu hören, aber vielleicht war es nur das Seufzen des verdammten Windes. Es würde regnen. Ich muss das vorher zu Ende bringen, sonst kann ich nichts mehr sehen.

»Zwing mich nicht, dich zu suchen«, rief Robin.

Noch immer keine Antwort. Sie ging auf die nächstliegende Tür zu, trat dagegen und zertrümmerte den Riegel in einer Wolke aus Staub.

»Als ich ein kleiner Junge war«, sagte Santiagos Stimme von irgendwoher, »war die Person, die ich früher war, davon überzeugt, dass unter dem Bett ein Monster wohnt.«

Sie betrat einen dunklen Vorraum mit zersplittertem Holzfußboden.

»Er wohnte in einem Mobilheim. Er und seine Großmutter.«

Die Panzerung an Robins Beinen war zu eigenartigen biomechanischen Schuhen ausgehärtet, die sie vor den Splittern schützten. Es war ein chitinöser Panzer wie der eines Käfers, eine eigenartig segmentierte Giger’sche Mischung aus Cowboystiefeln und nackten Füßen. Sie wusste nicht, wohin diese neue Entwicklung führte, aber in Santiagos Einfahrt hatte sie ihr den Arsch gerettet. Hart wie eine SWAT-Rüstung, ledrig, aber robust, fester als alles, was Heinrich Hammer ihr angezogen hatte. Kondenswasser sammelte sich darauf und ließ sie glänzen wie einen nassen Wagen.

Gepanzert in einer Rüstung aus Asche und Schatten.

»Sein Vater …« Santiago zögerte. »Also, um es abzukürzen, sein Vater entschied, es sei besser, wenn er bei seiner Abuelita wohnte.«

Robin schritt durch das Bürogebäude. Unter ihren gepanzerten Füßen knirschte der Boden. Sie drückte mehrere Türen mit dem Schaft des Speeres auf und vibrierte innerlich förmlich, weil sie einen Hinterhalt erwartete.

»Der Junge, der ich früher war, schlief in einem Etagenbett in einem Zimmer, das gerade groß genug dafür war. Sein Bruder schlief im oberen Bett.«

»Wo bist du?«, rief Robin und sah aus einem Fenster zwei Stockwerke nach unten.

»Mitten in der Nacht«, sagte Santiago und ignorierte sie, »hatte der Junge Angst, das Bett zu verlassen. Sein Bruder lag oben und erzählte ihm die schrecklichsten Geschichten über Monster und den Chupacabra und Dämonen.«

Robin nahm ihren ganzen Mut zusammen, sprang auf die Fensterbank, warf sich nach unten in den Staub, rollte sich ab und kam auf die Beine. Sie hob den Speer auf und ging zu dem Gebäude auf der anderen Seite.

»Ja! Danach lag er stundenlang wach, sogar wenn er pinkeln musste, und dachte an die Ungeheuer«, fuhr Santiago fort. »Er konnte sie sehen, im Kopf, wie sie unter seiner Matratze lagen, nur Zentimeter von seinem Rücken entfernt. Manchmal glaubte der Junge, es sei Freddy Krüger, der Mann mit Hut und Kralle, denn solche Filme schaute sich sein Dad immer gern an, wenn er high war.«

Die Tür war mit Kette und Vorhängeschloss zugesperrt, doch das bildete für den Speer kein Hindernis. Sie drückte die Klinge des Osdathregar in ein Glied und brach es sauber auf. Die Kette löste sich von den Türgriffen.

»Die Post ist da«, rief sie und drückte die Tür auf.

Keine Antwort. Robin betrat erneut eine dunkle Eingangshalle. »Eines Nachts jedoch hatte er eine Erleuchtung«, sagte Santiago von irgendwo tief im Gebäude. Seine Stimme bekam ein hohles Echo. »Da sich das Bett seines Bruders über seinem eigenen befand, war der Junge im unteren Bett selbst …«

Eine Ziege blökte hinter einer zweiflügeligen Tür vor ihr, und sie glaubte Huftritte zu hören.

Darauf folgte ein harsches, löwenartiges Fauchen.

Robin verzog das Gesicht. »Alter?«

»… EIN MONSTER

Die Tür flog auf und entließ eine Flut heißer Körper in den Raum, eine Stampede kreischender Schemen, die über sie hinwegpreschten, sie durch die Vordertür hinausdrängten und diese dabei aus den Angeln rissen. Robin wurde zu Boden gerissen und rollte sich zur Seite, der Speer überschlug sich neben ihr.

Als sie wieder auf die Beine kam, sah sie das seltsamste Wesen, dass sie je in ihrem Leben zu Gesicht bekommen hatte.

Es heißt, wenn Kanalratten Winterschlaf halten, sammeln sie sich in einer Traube, um sich zu wärmen, und weil sie so dreckig sind, können sich ihre Schwänze dabei verzurren, sodass sie dauerhaft zusammenhängen und einen Kollektivorganismus bilden, den man als »Rattenkönig« bezeichnet, einen umherziehenden Knoten von Ratten, die am Schwanz zusammenhängen. Das ist ein recht guter Vergleich für das, was Robin Martine an diesem Tag in den Ruinen von Fort Bostock sah, als Santiago Valenzuela vor ihr stand, nur anstelle von Ratten bestand es aus einer Vielzahl verschiedener Kreaturen, die zu einer einzigen Gestalt verschmolzen waren wie Knetmasse.

Das Gesicht der Bestie grinste wie ein chinesischer Löwe, in ihrem Maul sprossen Saurierzähne, und der zottelige Kopf war mit vielfarbigen Augen in tausend Formen und Größen bedeckt. Gestreiftes Fell zog sich in Orange, Rot und Gold an den fetten Flanken entlang, von Bereichen mit wächsernen weißen Schuppen unterbrochen.

Tausende Beine bewegten sich unter dem Körper, Hufe und Klauen klapperten über den sandigen Schotter. Santiago umkreiste sie mit einer Windung seines Leibes, als würde er eine Wagenburg bilden, dann warf er sich nach innen auf sie.

Sie rollte sich zur Seite, während die Kiefer krachend Zentimeter hinter ihr zusammenschlugen, und stach ihm mit dem Speer in die Rippen – zumindest in das, was sie für Rippen hielt. Das Untier brüllte und wich zurück. Das Haar um die Wunde wogte wie eine Detonationswelle und changierte von braunem Pferdehaar zu den Streifen eines Zebras und zum kräftigen Rot eines Fuchses.

Ehe sie zurückspringen konnte, schwang die Wand aus Muskeln ihr entgegen und warf sie zu Boden. Ein Adlerfuß von der Größe eines Stuhls tauchte aus dem lebenden Tumultwesen auf und fixierte ihre Beine. »Aaugh!«

Die Reliquie ist in ihm.

Durch die Berührung mit Santiago hatte sie eine Art instinktiver Einsicht erlangt – sie fühlte Ereshkigals Kräfte, die tief in ihm wirkten.

Die Reliquie ist in seinem Körper.

Dunkelheit legte sich über sie, als sich Santiagos Maul um ihren Oberkörper schloss.

Eine steinige, kratzige Zunge strich über ihren Rücken, und Zähne glitten zwischen zwei Panzerplatten hindurch und erzeugten einen Schmerz im Bauch wie eine riesige Grillgabel. Tentakel griffen ihren Unterleib und versuchten, den Rest zwischen die Kiefer zu heben. Sie schrie in seinen Schlund, packte zwei Zähne mit den Händen und riss sie aus. Santiago unterdrückte einen Schrei und spuckte Robin aus.

Blut floss aus den Bisswunden an ihrem Bauch und lief in Strömen an ihren Beinen hinunter. Sie hielt Zähne von der Größe einer Hacke in den Händen, doch der Osdathregar-Speer steckte noch in Santiagos Seite und wackelte hin und her. Sie sprang und versuchte, ihn zu erwischen, aber Santiago entwand sich ihr, und der Speer geriet außer Reichweite.

Eine schmerzhafte Hitze wallte in ihrem Bauch auf, wo er sie gebissen hatte. War er jetzt giftig? »Netter Versuch«, sagte Robin und stach mit seinen eigenen Zähnen wie ein Messerkämpfer nach ihm. Sie sprang auf ihn zu, rammte ihm den Zahn, den sie in der rechten Hand hielt, ins Fleisch und erzeugte so einen Haltegriff.

Das große Maul bewegte sich wieder auf sie zu. Sie machte eine Finte und ließ die Zähne knapp vor ihrem Gesicht zusammenschnappen.

Jetzt setzte sie einen Fuß auf seine Wange und katapultierte sich dadurch weiter nach oben, wo sie den anderen Fangzahn in seinen Körper stieß. Santiago brüllte und schnappte erneut zu, diesmal nach ihren Beinen. Ein Zahn durchbohrte knirschend ihre Hüfte, zerrte Robin weg und hob sie in die Luft.

Zweifelsohne beabsichtigte er, sie in die Höhe zu werfen und wie ein Hai zu verschlingen. Robin krümmte sich mit einem Schmerzensschrei, vollführte einen umgekehrten Sit-up und stach beide Zähne in die weiche Unterseite der Kehle.

Die Bestie heulte auf, würgte und schleuderte sie weg.

Robin flog über die Straße und krachte mit dem Kopf gegen eine Wand. Ihr zweites Geweih brach mit einem Knall wie von einem Schuss ab und rollte klappernd über die Steine wie ein abgebrochener Ast voller Dornen.

Die Santiago-Chimäre warf sich auf der Straße hin und her und versuchte, die Reißzähne aus der Kehle zu bekommen. Der Boden bebte unter ihr wie unter einer gewaltigen Brandung, als hätte Gott das gesamte Königreich der Tiere zum Wallen gebracht. Löwen, Kalmare und Bären ragten aus dem Fleisch und verflüchtigten sich wieder. Blut sprühte aus Wunden wie Nebel in die Luft und hinterließ Streifen und Lachen auf dem Asphalt, verrückte Graffiti-Wirbel.

»Ich schneide dir das Ding raus, Santi.« Robin humpelte um ihn herum, hielt sich die blutende Seite und machte sich zu ihrem Speer auf, der inzwischen auf der Straße lag.

Sobald sie ihn aufgehoben hatte, schnappte das Monstrum wieder nach ihr. Glücklicherweise durchbohrte diesmal kein Zahn ihre Rüstung, aber er riss den Kopf zurück und katapultierte sie in die andere Richtung.

Ihre Schultern zerschmetterten Glas, als sie durch ein Fenster in einen der Räume im ersten Stock flog.

Erschöpft rappelte sie sich auf, packte den Speer fester und rannte los. Die folgenden drei Sekunden erlebte sie in Zeitlupe, ihre Füße stampften über trockenes Parkett, zurück zum Fenster. Sie zog die Knie an, als sie über die Fensterbank sprang. Kaltes Sonnenlicht strahlte auf sie herab.

Er erwartete sie mit offenem Maul und schlug nach ihr, während sie noch in der Luft war …

… aber sie hielt den Speer bereit wie Zeus seinen Blitz. Sie bohrte ihm die Waffe ins Maul, drückte ihn in den Staub und nagelte die Zunge mit dem Osdathregar auf dem Boden fest.

Ihr Geweih lag auf der Straße. Sie hielt sich den Bauch, hob es auf und hinkte auf Santiago zu.

Er schlug um sich und versuchte, sich von dem Dolch zu befreien wie ein Stück Papier unter einem Briefbeschwerer, hilflos, festgeklemmt, ein riesiger Blubb von der Größe seines Mobilheims, mit Dutzenden von Beinen – Löwentatzen, Pferdhufen, Eidechsenklauen. Und aus dem Rücken waren ebenso viele Flügel gesprossen: ledrige Fledermausschwingen, schillernde Vogelfedern, von Adern durchzogene Insektenhäute. Sie flatterten und schlugen unaufhörlich in die Luft.

Der Kopf war jetzt eine gigantische Verschmelzung von Häuten und Teilen, in der sich ständig Tausende Augen und Hörner und Zähne abwechselten. Der unaufhörliche Strom der Verwandlungen im Gesicht erweckte den Eindruck, er würde sich einmal durch das komplette Konzept der Evolution bewegen.

»Na, dann wollen wir mal«, knurrte Robin und rammte ihm das Geweih in die Seite. Santiago brüllte vor Schmerz und Angst. Sie zog es heraus und stach erneut zu und wieder und grub ein Loch in seine Bauchwand, als würde sie Gartenerde beackern, drückte die Stacheln in die Haut, abermals und abermals und drehte sie, bis ihr der Arm schmerzte. Bald war eine Grube von der Größe einer Wassermelone entstanden. Sie ließ das Geweih fallen und reckte sich bis zu den Schultern in die klaffende Wunde.

Das Fleisch bot keinen Widerstand und glitt zur Seite. Sie hatte das Gefühl, am versautesten Pornodreh aller Zeiten mitzuwirken. »Komm schon, Junge, gib’s mir«, sagte Robin zu ihm und suchte nach dem Benzintank. Sie fühlte tief im Inneren die dunkle Resonanz der Reliquie wie das wütende Rasseln einer Schlange. Ihre Hand traf auf etwas, das fester war als Knochen, ein Rohr mit rechtem Winkel, ein Teil des Motorradrahmens.

Plötzlich erschien wie aus dem Nichts ein Huf an dem Ungeheuer und trat ihr in die Seite.

»Ungh!« Im einen Moment stand sie noch neben ihm, im nächsten lag sie rücklings auf dem Boden, war mit Santiagos Blut und ihrem eigenen besudelt und bekam keine Luft mehr. Schwarze Punkte und Sterne kreisten am weißen Himmel, während sie gegen die Bewusstlosigkeit ankämpfte.

»Steh auf, Robin!«

»Mama?«

»STEH AUF!«, schrie Annie Martines Geist irgendwo hinter ihr. »Steh auf und hol es dir! Du hast es fast geschafft!«

»Fast geschafft«, schnaufte sie.

Robin wälzte sich herum, stand auf und taumelte zurück zu der vielgestaltigen Gorgone wie ein halb erledigter heiliger Georg, der gegen den Drachen antritt. Sie holte aus und schlug ihre Faust in die blutige Masse, schob die Hand tief hinein und packte die Strebe am Benzintank erneut.

»Hab dich.« Sie schob die zweite Hand hinterher, drückte die Wange an Santiagos geriffelte Flanke. Jetzt hielt sie den Tank mit beiden Händen fest.

Der Pferdehuf trat erneut zu, diesmal gegen ihr Bein. Ohne die Panzerung hätte er ihr den Oberschenkel zerschmettert. So jedoch ließ der Tritt nur ihr Knie einknicken und sie ging in die Hocke. Der nächste Tritt erwischte sie unter dem Arm und belebte den Schmerz der Rippe neu, die ihr die Biker im Blauen Wolf gebrochen hatten.

Robin rang um Atem. »Uhhhrr-hrr-hrrrrrgh!«

Okay, Alte, dachte sie und setzte einen Fuß auf die bebende Haut. Jetzt aber. Sie fand auch mit dem anderen Fuß Halt und zog aus Leibeskräften an dem vom Blut glitschigen Stahl.

Der nächste Tritt, diesmal in den Hintern. Brennende Krämpfe bohrten sich in ihr Bein. Und noch ein Tritt prallte von ihrem Schenkel ab.

Lange halte ich das nicht mehr durch.

Der nächste Tritt traf sie am Kopf und hätte sie fast erledigt. Die Realität verengte sich auf einen winzigen Punkt. Geräusche drangen aus der Dunkelheit zu ihr, dünn und hoch wie aus tausend Meilen Distanz, das ferne Donnern von Santiago, der auf sie einprügelte. Langsam kroch die Bewusstlosigkeit heran.

Was sie zur Besinnung brachte, war der Druck einer riesigen Adlerkralle, die sich um ihre Hüfte legte. Die Luft wurde aus ihr herausquetscht. Santiago zog, aber Robin hatte sich festgesetzt wie eine Zecke. So glitschig ihre Hände auch waren, sie ließen nicht los. Die Klaue zog Robin in die Länge, mit strampelnden Beinen und ausgestreckten Armen wie ein fliegender Superman.

Schmatz. Knirsch. Es löste sich.

Faserige Muskeln rissen, gaben den Weg frei und knallten wie Gummibänder, während der Benzintank sich der Oberfläche näherte. Ich weiß nicht, ob er es mit Absicht tut oder nicht, aber er hilft mir. Kaltes Sonnenlicht glitzerte auf dem weißen Stern. Fast geschafft. Nur noch ein bisschen we …

Der Tank löste sich und schlug ihr ins Gesicht.

Darauf folgte sofort ein überwältigender Schwall heißer Flüssigkeit, der sich über sie ergoss wie ein Geysir aus dampfendem Blut. Literweise spritzte schwarzer Schleim aus dem Monster, das einmal Santiago Valenzuela gewesen war, und ergoss sich in dicken, teerartigen Pfützen über die Straße. Es roch nach schwarzer Lakritze und schmorendem Plastik und verwestem Schinken. Die Adlerkralle warf sie zur Seite und verwandelte sich in ein Oktopus-Tentakel, das mit Warzenschweinborsten und Stachelschweinstacheln bedeckt war und wild um sich schlug.

Im Tank klapperte etwas.

Mau Mau! Robin mühte sich in dem glitschigen Blut auf die Beine und schraubte den Tankdeckel auf. Sie hielt den Tank umgekehrt in die Höhe und schüttelte. Etwas Winziges fiel heraus, das sie zunächst für eine grüne Bohne hielt.

Ein Fingerknochen. Der sich nach Jahren im Benzin grün verfärbt hatte.

»Hab ich dich, du mesopotamisches Arschloch!« Robin warf den Benzintank zur Seite und hob den Knochen auf. Sie drückte ihn zwischen den gepanzerten Fingern und brach das spröde Ding in zwei Teile.

Die Göttin des Todes heulte vor Wut aus dem Nichts jenseits der Mauer der Welt, und der Himmel bebte.

Glühende Dämpfe wallten zwischen Robins Fingern auf, als hielte sie eine übernatürliche Kapsel mit Riechsalz. Sie inhalierte den glitzernden Nebel und sog ihn durch die blutigen Zähne, und das Ektoplasma des Herzwegs schlang sich ihre Kehle hinab und erfüllte sie mit einer Hitze, als habe sie sich an einem kalten Winterabend den Bauch mit Wodka gefüllt. Irgendwo tief in ihr wurde ein schwarzes Feuer entfacht.

Binnen Sekunden war der Fingerknochen tatsächlich nur noch ein Fingerknochen – ein zerbrochener Knochen in ihren Händen, ein Stück Kalzium ohne Bedeutung und Zweck. Sie brach zusammen und fiel auf den Rücken, Wogen heißer weißer Euphorie durchflossen sie. Ihr Innerstes bebte und brannte, als ob sich tektonische Platten verschoben, Stein und Eisen bewegten sich knirschend aneinander entlang.

Diesmal war es anders. Sie hatte schon vorher Herzwege in sich aufgenommen, doch hier handelte es sich definitiv um etwas anderes – weitaus intensiver, weitaus mehr als die schlichte Verinnerlichung von Energien. Früher hatte es sich für sie angefühlt, als … als würde sie nach gutem Sex eine Zigarette rauchen. Diesmal war es eine Bluttransfusion aus dem Zentrum des Universums, ein kosmischer Orgasmus, der ihr Innerstes mit Licht versengte und einen düsteren, fremden Teil ihrer selbst weckte.

Als die Euphorie nachließ, ließ sie eine Leere in ihr zurück. Robin krallte sich in die Erde und drehte sich auf den Bauch. Blut färbte den Schlamm unter ihr schwarz, während sie sich über den Boden zog und versuchte, der zusammenbrechenden Masse zu entfliehen, die von Santiago übrig geblieben war.

Lieber Gott, so ein Hunger, versuchte sie in einem Wirbelsturm aus Gedankenfetzen zu sagen.

Leider war es nicht mehr so simpel wie »Hunger«; es war diese satanische Gier, abermals zu verschlingen und zu zerstören, doch diesmal fühlte es sich übermächtig an: riesig, stahlhart, unausweichlich. Widerstand war unmöglich. Sie befand sich nicht mehr im Auge des Hurrikans, sie war der Hurrikan, sie toste und heulte und war riesig und monströs.

Als sie sich über Stein und Erde weiterschleppte, huschten unter ihren Händen winzige Spinnen in den Staub. Sie waren ölig schwarz und trugen Tron-artige rote Streifen.

Hallo, Welt, sagte ihr Dämonen-Ich aus der spiegelnden Oberfläche einer Pfütze. Ihr Atem ging schwer, tief, metallisch und dröhnte wie ein hundert Meter großer Roboter. Sie spürte, wie sie verblasste und wie der Dämon übernahm. Lass dich entführen. Lass dich davon erfüllen. So ist es richtig.

Genau das war ihre Freude am Kampf immer gewesen, oder?

Diese Blutgier, ihr Dämonen-Ich im Badezimmerspiegel. Es versuchte, durchzubrechen, hervorzukommen und die Menschen in Dunkelheit zu ertränken.

»Die Transfiguration«, sagte Annie. Das Geistergesicht ihrer Mutter wurde vom Höllenfeuer erhellt, das aus Robins Mund loderte. »Du wirst zum Tier, Kleines. Du verlierst die Kontrolle. Du musst dich dem unbedingt entgegenstellen, solange du den Durchblick hast, sonst drehst du völlig durch und die Magier müssen dich einsperren.«

Sag ihr, sie soll sich trollen, meinte ihr Dämonen-Ich.

»Nein«, sagte Robin mit Reibeisenstimme. Sie holte tief Luft, schöpfte Atem, und was aus ihr hervorkam, war das gleiche Grollen eines abgewürgten Motors wie im Albtraumhaus letztes Jahr: Grrrrrrurururuhuhuhuh.

»Das willst du doch gar nicht«, sagte Annie. »Wenn das passiert, heißt es sie oder du. Also kämpfe, für mich, okay? Bleib bei mir. Bleib hier.«

Ihre Tochter starrte sie aus Augen an, die gasartiges, durchsichtiges Plasma von sich gaben. »Ich habe ihn«, sagte Robin, wandte sich nach innen und suchte nach dem Transfigurationsherzweg von La Reina. Er war da, verbogen, eingerollt in der Grube ihrer Kehle wie eine Art Seil-Chakra, und sie zog ihn heraus. Langsam und methodisch, als versuchte sie, ein Kleid in einem Hurrikan zu nähen, fügte sie die Transfiguration ihrem Körper hinzu, ihren Gliedern, und stellte Stück um Stück ihre menschliche Erscheinung wieder her.

Eine Eidechse krabbelte auf sie zu, von der Wärme angezogen.

Der Dämon schlug sie mit der Faust platt, und sie fütterte sich damit, als würde sie einem Löwen Fleisch hinwerfen, riss sie mit den Zähnen auseinander. Kühles Blut rann ihr über das Kinn und verdampfte augenblicklich zu süßem Rauch.

»Kämpf dagegen an«, verlangte Annie.

Der Kohlenstoffpanzer über ihrem Gesicht bekam Risse wie feines Porzellan. Robin warf die Überreste der Eidechse zur Seite und zog mit den Krallen die Panzerung weg, zerquetschte heiße Glut in ihrer Faust und legte neue rosa Haut frei. Grünes Licht strahlte weiterhin aus ihren Augen, doch das Gesicht war wieder menschlich. Sie zog die Hülle von ihrem Schädel, und ihr Haar wehte im Wind, nass, dunkel, neu.

Robin ballte die Hand zur Faust und sprengte die Carbon-Hülle mit einem scharfen Knall. Die Reste rieselten durch ihre Finger.