25
Sie hörte sie ins Haus kommen, hörte die Schuhsohlen auf den verkohlten Dielen knirschen. »Robin? Robin, sind Sie da drin? Kommen Sie schon, Miss Martine, Robin, Ihnen geht es gut. Ihnen muss es gut gehen. Es muss so sein.«
»Ich bin hier«, wollte sie sagen, aber ihr Mund gehorchte nicht; ihre Kehle war zugeschnürt wie die von Marleys Geist, und sie konnte nicht Luft holen, um zu sprechen. Wie ungerecht – sie hatte nicht einmal eine Münze auf der Zunge für den Fährmann.
Der Morgenwind, eine schwarze Brise, die durch Löcher im Holz zog, fühlte sich eisig an wie ein antarktischer Sturm. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie gezittert. Das Feuer. War sie eingeschlafen? War sie gestorben? Fühlte sich so der Tod an? Die Seele geht nicht fort, bleibt einfach in der Leiche, kann sich nicht verständlich machen, muss zuschauen, wie sich die Welt weiterdreht, bis man nichts anderes als Staub geworden ist, es nichts mehr gibt, an das man sich klammern kann?
Wohin geht man danach?
Sanftes Sonnenlicht drang zu ihr vor, als die beiden Männer das Holz von ihr wegräumten und mit einem Krachen zur Seite warfen.
»Nein, nein, nein, nein, nein.«
»Tut mir so leid, mein Freund.«
Die Stimmen klangen gedämpft und hohl, fern, als kämen sie durch die Lüftungsschächte eines zugigen alten Landhauses. Sie lauschte, wie sie redeten, lauschte ihnen, wie sie dastanden und sie anstarrten. Sie wollte den Magier trösten, ihn umarmen und ihm sagen, dass …
(... dass er ohne sie besser dran sei? Nicht nur er, die ganze Welt? Nein. Solches Gerede ist das Eingeständnis der Niederlage. So reden sie in der Psychiatrie von Blackfield.)
… dass alles gut werden würde.
Bin ich noch tot, wenn ich mir selbst Mut machen kann?
»Du bist nicht tot, meine Liebe«, sagte eine warme, dritte Stimme.
Mama?
»Ja, ich bin hier.«
Mama, ich habe es nicht geschafft. Sieh mich an. Santiago hat mich übel fertiggemacht.
Visionen von Annie zogen durch Robins Kopf: wie die beiden in der Küche von 1168 saßen, Robin erst fünf, Tränen im Gesicht. Annie kniete vor ihr und klebte ein Pflaster auf eine hässliche Schramme am Knie. »Du wirst es überleben, so schlimm ist es nicht«, sagte sie und machte ihrer Tochter ein Glas Schokomilch und ein Sandwich mit Erdnussbutter und Honig, und sieh da! Tatsächlich hatte sie es überlebt.
Diesmal war es ein bisschen schlimmer, als von der Veranda zu fallen, Mama.
»Hast du vergessen, was du bist?«, fragte Annies Geist. Sie hatte wieder angefangen zu lispeln. »Wer du bist?« Eine Hand legte sich auf Robins Schulter, und es fühlte sich an, als würde sie durch einen Astronautenanzug gestreichelt. Sie war in gefühllosen Tod gehüllt, der sie umgab wie eine feste Hülle.
(Dämon, Dämon, Dämon, andersartig, Cambion)
Wie könnte ich das vergessen?
»Dann steh auf. Steh auf, kleiner Satansbraten.« Annie provozierte und schalt sie nun wie ein Drillsergeant. »Steh auf. Reiß dich zusammen. Meine Tochter lässt sich doch nicht so leicht unterkriegen.«
Was ist das für ein Geräusch? Es klingt wie
(brutzelnder Speck, und es gibt nichts, das durch guten Speck nicht noch besser wird)
das Summen von Fliegen.
»Au!«, rief Gendreau und ließ etwas auf den Boden fallen, etwas Schweres, Metallisches.
Ein kaltes, hartes Licht leuchtete vor ihr auf wie ein ferner Stern. Sie spähte durch die steifen Lider und sah den Osdathregar neben den Füßen des Magiers liegen, fast in Reichweite. Der Dolch brannte mit der Intensität weißen Feuers wie die Flamme eines Schweißers.
»Ich glaube, es mag dich«, sagte Annie.
Kann ich es behalten?
Annie, 1999, lachte, als die fünfjährige Robin ein verwahrlostes Kätzchen in die Höhe hielt. »Ja, wenn du mir versprichst …«
… es zu füttern.
Ja, es ist hungrig, oder?
Zu wem gehörst du eigentlich wirklich, Mr. Knife?