Hidden
Die Hexenjägerin wälzte sich herum und starrte sekundenlang auf die roten Zahlen, ehe sie die Ziffern lesen konnte. Drei Uhr morgens.
Ein durchdringender Geruch hing in der Luft, schwer und rauchig. Robin riss ihr Kissen hoch, unter dem der Osdathregar versteckt war, und beugte sich vor, um die Nachttischlampe einzuschalten.
Schwach knisterte Elektrizität über die Klinge. Ein markerschütterndes und doch fast unhörbares Bassdröhnen strahlte von dem Dolch ab, breitete sich im Raum aus und ließ das Kopfteil leise an der Wand vibrieren. Ein kreuzförmiges Mal hatte sich in die Rückseite des Kissens gebrannt.
Während sie den Schaden begutachtete, ging der Osdathregar in Flammen auf.
»Gott, oh Gott!«, schrie sie und rannte damit ins Badezimmer, bevor er das Bettzeug in Brand setzen konnte. Barfuß auf kaltem Boden. Sie hielt das flammende Schwert unter die Dusche und stellte sie an, um das Feuer zu löschen, das zwar kurz flackerte, dann aber munter selbst unter dem eiskalten Wasser weiterbrannte.
Augenblick – Schwert?
Sie legte es in die Wanne, setzte sich aufs Klo und zitterte vor Adrenalin.
Ja, Sie haben richtig gelesen. Irgendwie war der Dolch zum Schwert geworden, einem Breitschwert mit dünnem Heft wie bei diesen Kung-Fu-Schwertern, die man in Filmen wie Tiger and Dragon sah.
Hallöchen, sagte eine Stimme.
Robin fuhr hoch und suchte das dunkle Badezimmer ab. »Mom?«
Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, Schlüsselmeister, sagte die Stimme und kroch ihr ins Gehirn wie eine Schlange. Es ist ja schon so lange her, seit ich mit jemandem reden konnte. Nein, leider bin ich wohl nicht deine Mutter. Und auch nicht dein Vater. Ich bin viel, viel älter.
»Ereshkigal?«, fragte sie, während das Schwert in einer Wasserlache flackerte.
Wieder falsch, meine Liebe. Ein unheimliches Geräusch, das gerade deutlich genug war, um als Lachen durchzugehen. Geschlechtslos schien es den gesamten Umfang von Höhen und Tiefen zu umschließen, ein Strom Hunderter Stimmen, die zu einem Bündel von Lauten zusammengebunden waren. Einen Versuch hast du noch, und dann musst du ohne Gewinn nach Hause gehen. Möchtest du einen Vokal kaufen?
Sie erhob sich und blickte auf ihr Bild im Spiegel. Ihr Gesicht war aufgequollen, ihre Augen waren gerötet und starr.
Nein, du wirst nicht verrückt, sagte die Stimme. Du wirst auch nicht von einer Illusionshexe angegriffen. Ich bin real. So real wie die Pizza in deinem Bauch, die im Augenblick droht, wieder hochzukommen.
Kälte schüttelte ihren Körper.
Na, nimm doch einfach das Schwert. Es wird dir nicht wehtun. Plötzlich erlosch der Osdathregar von allein. Und hier hast du einen Tipp, Kind. Schau es dir genau an und lies sehr aufmerksam. Und zwar von Nahem.
Robin nahm das Schwert, trug es ins Motelzimmer, wo das Licht der Nachttischlampe auf der Schneide glänzte. »Wonach suche ich denn?«, fragte sie und setzte sich auf die Bettkante. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie mit Schweiß bedeckt war. Das Laken war durchfeuchtet.
Halt es ans Licht. Du erkennst es, wenn du es siehst.
Sie hielt den Stahl direkt unter den Lampenschirm und suchte nach einer Gravierung oder einer anderen Markierung. Dreh es um, genau hier, ja, das ist es.
In der spiegelnden Oberfläche der Klinge sah sie die Reflexion des Motelzimmers hinter ihr: die Tür, den Fernseher, das Fenster und die hässlichen braunen Verdunkelungsvorhänge. Dieses Schwert ist eigentlich die Spitze eines sehr, sehr alten Speeres. Man könnte sagen, des ältesten. Du nennst es Osdathregar, doch als es mir gehörte, habe ich es Heophoros genannt, Bringer der Morgendämmerung.
Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Silhouette in der Ecke wahr, die schärfer und besser erkennbar wurde.
Hinter ihr stand eine schwarze, gehörnte Gestalt.
Zuerst dachte sie an die Mutter der Flüsse, doch überkam sie eine Heidenangst, als die Gestalt die Augen öffnete und zwei Kugeln aus grünem Licht enthüllte, den Mund öffnete und smaragdgrünes Höllenfeuer ausspuckte. Die Hörner verdrehten sich zu zwei Widderspiralen. Es war die Kreatur, die sie ständig aus Reflexionen heraus neckte und terrorisierte, ob nun in Fensterscheiben oder Badezimmerspiegeln, der düstere Doppelgänger, der über ihrem sterbenden Körper auf dem Flugfeld von Fort Bostock gestanden hatte, ihr Dämonen-Ich. Aber es war nun größer, bulliger, fieser.
Dieser Speer ist die Waffe, die Gott getötet hat, weshalb ich aus dem Himmel verstoßen und in diese Klinge verbannt wurde, sagte ihr Dämonen-Ich. Seitdem wandelt die Klinge über die Erde, wurde von tausend Kriegern und Händlern und Dieben und Narren verkauft und bezahlt und gestohlen und weggeworfen. Einmal habe ich fast den Cambion Jesus dazu gebracht, sie zu nehmen.
Und jetzt ist sie in deiner Hand gelandet.
»Oh mein Gott«, keuchte Robin.
Ganz im Gegenteil, sagte ihr Schattenzwilling. Please allow me to introduce myself. Flammen züngelten über die Lippen des Dämons. I’m a man of wealth and taste. Ich war der erste Dämon, der sich Harfe und Heiligenschein verdient hat. Ich bin der Sohn der Aurora, der König von Babylon, der entthronte Fürst des Himmels und der verbannte Herr der Hölle. Ich bin das Schwert des Morgens. Ich habe tausendundeinen Namen in tausendundeinem Land.
Und, lieber Cambion, ich hätte gern meinen Bringer der Morgendämmerung zurück.
Ich möchte ein Ticket in die Länder der Lebenden, meine Waffe wieder in Besitz nehmen und … Du möchtest dich doch bestimmt von der Hölle fernhalten, ja? Hier unten sind dank dir eine Menge böser Kerle versammelt, du bösartiges kleines Monster.
Also …
… machen wir doch einen Deal.
Einige Sekunden lang stand sie in ihrer Unterwäsche da und starrte das Schwert und die erwartungsvolle Silhouette an, die mit schwarz-grünem Feuer die Silberklinge verdunkelte.
Sie machte den Kühlschrank auf, nahm die Zwischenböden heraus und stellte das Schwert neben ihre letzten beiden Flaschen Breakfast Stout und einen halben Burrito. Dann drehte sie den Kühlschrank auf die niedrigste Temperatur, die möglich war.
Augenblick! Nein!
»Nicht heute, Satan«, sagte sie, schloss die Tür und ging wieder ins Bett.