39

Robin holte tief Luft, setzte sich auf und hätte Kenway beinahe mit dem Horn getroffen. Gendreau gelang es, gleichzeitig zu schluchzen und zu lachen, und Navathe stieß wortlos die Fäuste in die Luft, als hätte er gerade das spielentscheidende Tor geschossen. Kenway umarmte sie so fest, dass ihr der Hals wehtat. »Oh mein Gott, mein Gott«, plapperte er und quetschte ihr Gesicht an seine Schulter.

Sie schloss ihn in die Arme und genoss den Geruch von Holzrauch und Moschus, der von ihm ausging. Die Dämonenrage hatte sich verflüchtigt, geblieben war tiefe Erschöpfung, und die reale Welt stellte sich ihr dar als ein Nebel, der tatsächlich nach realer Welt roch. Regen, Schweiß, verbrannte Farbe, nasser Ruß. Bis zu diesem Augenblick war ihr nicht aufgefallen, wie sauber das Jenseits gewirkt hatte.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich bin gestorben, jetzt fühle ich mich aber besser.«

Kenway lachte heiser.

Robin stockte der Atem. »Wo ist Marina?«

»Was?«, fragte er. »Du weißt doch …«

»Nein! Nein! Ich habe sie gesehen! Dort! Ich habe sie gesehen, sie war in Mittelerde oder so einem Scheiß mit einem Ziegenmann. Ich habe sie gerettet. Ereshkigal hat uns entdeckt, und ich habe ihre Kräfte gegen sie selbst eingesetzt, um uns wieder zum Leben zu erwecken. Die Kuh hat gesagt, ich solle es lassen, aber ich habe mich nicht dran gehalten. Ich denke, im Himmel ist es illegal, Magie zu stehlen.«

»Die Kuh hat es dir gesagt?«, fragte Gendreau.

Gegen den schreienden Widerstand ihres schmerzenden Körpers wälzte sie sich auf Hände und Knie, stand auf und suchte mit den Augen die Umgebung ab. »Wo ist sie? Bitte sagt, dass sie es zurückgeschafft hat.«

Alle schauten sich um, was man ihnen durchaus zugutehalten musste.

»Ich …«, setzte Elisa an. »Sie ist nicht hier.«

Oh, nein, dachte Robin verzweifelt. Am Ende hatte sie es doch nicht geschafft. »Ich habe es nicht richtig gemacht.« Sie drückte die Fäuste auf die Augen und kämpfte gegen den Drang an, gleichzeitig zu schreien und zu weinen. Sie hatte ihr goldenes Ticket verschwendet.

Ein Stein lag auf der Rollbahn.

Sie schnappte ihn sich, warf ihn hinaus ins Ödland und stieß einen Wutschrei aus, der ihr die Kehle zerfetzte.

Sie luden Robin hinten auf Elisas Pick-up und fuhren die Rollbahn entlang, um nach den Überresten von Santiagos verwandeltem Körper zu suchen. »Halten Sie mal an«, sagte sie durch die Heckscheibe, als sie sich der Straße näherten, wo der Kampf stattgefunden hatte. Sie konnte bereits den bitteren, säuerlichen Gestank riechen, der die groteske Teermasse begleitet hatte, die aus Santiagos Wunden quoll, ein fauler Geruch irgendwo zwischen verbranntem Haar und verdorbenem Essen.

»Warum halten wir an?«, fragte Carly. »Wo ist mein Dad?«

»Ich habe keine Ahnung, was wir da finden, und du hast es verdient, ihn so in Erinnerung zu behalten, wie er war«, sagte Robin und bewegte sich steif. Ihre Wunden waren durch die Wiederauferstehung geheilt, trotzdem tat ihr noch alles weh. »Die Reliquie in seinem Motorrad hat ihn verändert, und zwar nicht zum Guten. Am Ende wurde die Sache ziemlich verrückt. Santiago gibt es nicht mehr, nicht so, dass du ihn erkennen würdest.«

Das Mädchen sah Elisa an.

»Ist vielleicht keine schlechte Idee, Schatz«, sagte Elisa besorgt und kramte hinter ihrem Sitz. Sie holte eine Taschenlampe hervor, ein schweres Ding, wie es die Polizei benutzte. »Bleib hier im Wagen, und ich schaue mir die Sache an.«

Es regnete immer noch, als Robin, Elisa und Navathe ausstiegen und eine dunkle, schmale Gasse entlanggingen. Die Tropfen ließen Robins Sicht verschwimmen und verwandelten die Scheinwerfer des Wagens in Trauben weißer Kreise. Während sie ging, untersuchte sie ihren Bauch. Die Wunden, die Santiago ihr beigebracht hatte, waren geschlossen; unglücklicherweise hatte sich der dämonische Panzer über den Wunden nicht erneuert, sodass dort nun über ihrer Brust ein zwei Finger breites Loch klaffte, das von haarfeinen Rissen gesäumt war. So funktioniert das also, dachte sie. Mein Herz. Das ist mein Kryptonit. Sie nahm sich vor, eine kugelsichere Weste zu kaufen. Anpassen und überwinden, ja. Mann, Fish, du hast gar nicht gewusst, wie recht du hast.

Am Ende der Gasse schlug Navathe die Hand vor den Mund und würgte wie ein Pferd. Der Pyromantiker schaffte es gerade noch auf den Bürgersteig, wo er sich in ein verwildertes Beet übergab.

In der Mitte der Straße erhob sich ein Berg aus übelriechendem Schleim wie ein Blutpudding. Darin schwamm ein Gewirr von zotteligen Gliedern und Knochen, Fetzen von verfilztem Fell und faserigen grauen Eingeweiden. Dutzende verformter Schädel schwebten in dem Brei, manche davon hatten drei Augen oder Wolfsrachen.

»Hölle, was ist das?« Elisas Stimme zitterte. »Sieht aus, hätte hier eine Gerberei ihre Abfälle abgeladen.«

»Am Ende wusste er nicht mehr, in welches Tier er sich verwandeln sollte«, sagte Robin. »Also ist er zu allen geworden.«

»Das sind die Überreste meines Bruders?«

»Leider.«

Zuerst erkannte sie den Gegenstand nicht, der, groß wie eine Wassermelone, am Rand der Szene lag.

La Reinas Benzintank.

Nachdem das Teratom – und damit Ereshkigals Kraft – aus ihm entfernt worden war, hatte sich der Tank in einen verrosteten Kokon verwandelt, als wäre eine gigantische Zikade daraus geschlüpft und hätte ihn zurückgelassen. Ohne Zweifel würde der Rest des Motorrads das gleiche Schicksal erlitten haben; wenn sie wieder in der Stadt ankamen, würde die Enfield nur noch ein Haufen rostiger Teile und platter Reifen sein.

»Bis heute habe ich noch nie auf jemanden geschossen«, sagte Elisa verloren und sah sie an. Sie ließ den Lichtkegel über die gruseligen Überreste schweifen. »Es ist nicht wie im Film, oder?«

»Nein«, sagte Robin. »Überhaupt nicht.«

Sobald sie die Worte ausgesprochen hatte, kam eine Hand aus dem Schleim und umklammerte Navathes Unterschenkel.

Er stieß einen schrillen Schrei aus und sprang in die Luft, rannte in die entgegengesetzte Richtung davon, drückte eine der Kasernentüren auf, verschwand dahinter und fluchte die ganze Zeit.

Robin und Elisa musterten den Brei und entdeckten darin schockiert einen menschlichen Körper, der mit Blut und Schleim überzogen war.

Die Gestalt atmete abgehackt.

»Marina?«, keuchte Elisa und warf das Gewehr auf den Boden. Sie kniete neben ihr und ergriff ihre Hände. Robin packte Marina unter den Armen, und gemeinsam zogen sie die Frau von dem stinkenden Fleischhaufen weg und legten sie auf den Rücken. Sie war vollständig nackt und nur von dickem Blutschleim überdeckt.

Der heftige Regen wusch ihr das Gesicht. Carlys Mutter starrte in den Himmel. »Wo … Wo bin ich?«

»Texas«, sagte Robin.

Marina blinzelte. Elisa half ihr auf die Beine, zog ihre Jacke aus und legte sie der wiedergeborenen Frau um die Schultern.

»Ich glaube, die Hölle wäre mir lieber gewesen«, sagte Marina nüchtern.

Elisa war noch nicht ganz in die Einfahrt eingebogen, da kam ihre Freundin Isabella aus der Küchentür gestürmt, lautstark spanische Flüche ausstoßend. »Wo zur Hölle bist du gewesen?« Ihr blaues Auge hatte sich gelblich grün verfärbt. »Ich bin vor Angst fast gestorben!« Als Robin hinten von Elisas Pick-up stieg, verstummte Isabella und riss die Augen auf.

»Buenos días!«, sagte die gehörnte, blutverschmierte Hexenjägerin.

»Äh, buenos días

Isabella zog ihren Morgenmantel enger um sich.

»Mi nombre es Robin, y estoy en una biblioteca.« Sie zog einen Mundwinkel hoch und lächelte schief. »Tut mir leid, mein Spanisch ist ein bisschen eingerostet.«

Isabella riss die Augen auf. »Ah … ha«, sagte sie und wandte sich Elisa zu, während sie und Navathe ausstiegen. Robin und Rook halfen dem einbeinigen Kenway heraus. »Was ist das? Wer sind diese Leute?«

»Sie sind …«, Elisa ließ den Blick in die Runde schweifen, »neue Freunde, denke ich.«

Isabella starrte Robins schwarz glänzende Hand und die Hörner auf ihrer Stirn an. »Was hat sie da an?«

»Lange Geschichte«, sagte die Hexenjägerin. »Wenn Sie einen Kaffee und ein paar extrastarke Schmerztabletten haben, erzähle ich Ihnen alles.«