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Carly Valenzuela war wieder im Einkaufszentrum, und zwar wegen der Stromrechnung.

Ihre Mutter war die Einfahrt entlanggerannt, als der Ford Taurus des Postzustellers rückwärts auf die Straße setzte und mit flackernder gelber Leuchte auf dem Dach davonfuhr. Sobald sie die Zahlen auf der Rechnung gesehen hatte, hatte Marina ihre Handtasche geholt, die Haustür abgeschlossen und war direkt zur Keyhole Hills Highschool gefahren.

Der uralte Chevrolet Blazer hatte auf dem Parkplatz gestanden. Carly war aus der Schule gekommen, hatte sich mit Freundinnen unterhalten und die Hitze auf dem Gesicht genossen, als sie den Wagen erkannte. Marina hatte hinter dem Steuer gesessen und sie mit schlecht verhohlener Angst angestarrt. Carly war in den Wagen gestiegen, hatte ihre Schultasche auf den Rücksitz geworfen und keine Fragen gestellt, denn sie hatte gar nicht von ihrer Mutter wissen wollen, warum sie überraschenderweise abgeholt wurde.

Es war schließlich nicht das erste Mal gewesen, dass das passierte.

Carly nahm ein blaues Top aus einem Regal, hielt es sich vor die Brust und begutachtete es in einem Spiegel. Ein Silberband zog sich von einer Schulter zur Taille. Die Fünfzehnjährige war hübsch und zierlich wie ihre Mutter, hatte dunkle Haut und volles schwarzbraunes Haar. Sie war schlank und rank wie ein Reh, bestand fast nur aus Beinen und hatte einen Gazellenhals; manchmal schnappte sich ihr Freund Patrick im Biologieraum das Plastikskelett und legte eine Pepe-Le-Pew-Parodie hin: Oh, là là, eh eh, oui oui, so ein ssexy Sskelett wie isch, mon dieu?

Sie sah ihre Augen im Spiegel, helle Jadesteine, in denen Begehren brannte.

Angewidert legte Carly das Top zurück ins Regal.

Ihre Mutter saß steif auf einer Bank bei den Umkleiden und hatte ihre Handtasche unter einen Arm geklemmt. Marina Valenzuela war immer ein Hitzkopf gewesen, eine lebhafte Frau mit einer Mähne aus Korkenzieherlocken und dem schmalen Gesicht einer klassischen Schönheit. Aber inzwischen machten sich heimtückisches Grau an den Schläfen und Falten im Gesicht breit, und ihre Augen erinnerten an einen verwundeten Raubvogel: gehetzt, wachsam. Das Feuer war erloschen und von einer panischen Ruhe ersetzt worden, die unter Spannung stand wie ein stromführender Draht. Früher war sie üppig gewesen, heute jedoch eher gertenschlank, fast mager, und immer nestelte sie nervös an ihren Händen herum.

Verhärmt, dachte Carly, ein aufdringlicher Gedanke. Es fühlte sich schrecklich an, hässlich, passte aber trotzdem …

»Es würde dir gut stehen«, sagte Marina.

Das blaue Top. Carly schämte sich. »Ja, bestimmt.« Sie nahm einige andere Teile beiseite und entdeckte ein noch schöneres Oberteil, eine Folklore-Bluse, die selbst ihrer Großmutter gefallen hätte, mit weiten Ärmeln und Blumenstickereien am Saum. Beinahe hätte sie die Bluse hervorgeholt, doch ein Eiszapfen – aus Angst, aus Bedauern, aus Groll – bohrte sich ihr in den Bauch wie ein kaltes Schwert, und sie ließ die Bluse liegen. Nachdenklich stand sie da und starrte die Kleidungsstücke an.

Plötzlich drehte sie sich zu ihrer Mutter um und schlug vor: »Warum gehen wir nicht zum Food Court? Im Sandwich-Laden gibt es jetzt auch Smoothies. Ich will gern mal den mit Blaubeeren und Ananas probieren.«

Marina blickte zu Boden und dann auf die Uhr. »Ein bisschen Zeit müssen wir noch rumbringen.«

»Wie lange?«

»Vielleicht eine Stunde. Er hat erst um zwei mit der Arbeit angefangen und hat seine Pause nicht vor fünf.«

Wut wallte in Carlys Brust auf. Sie verschränkte die Arme. »Wir können nicht den ganzen Tag in La Rue abhängen, Mom. Hier gibt’s nur eine begrenzte Menge von Klamotten, die man sich anschauen kann. Jetzt sind wir schon fast eine Dreiviertelstunde in diesem Laden. Außerdem ist es einfach grausam. Ich hasse es, mir Klamotten anzugucken, die ich nicht kaufen kann.«

Marina dachte darüber nach, stand auf und hängte sich die Handtasche über die Schulter. »Okay«, gab sie sich geschlagen.

Carly fühlte sich wie ein Spion, der durch Nazigebiet schleicht, als sie ihre Mutter aus dem Klamottenladen führte, und draußen auf dem Gang zögerten sie und standen zwischen einem Sonnenbrillenkiosk und einem Hurrikan-Simulator. Dann entdeckte sie den Spielzeugladen und ging darauf zu.

Wie für das einundzwanzigste Jahrhundert typisch herrschte im Spielzeugladen praktisch gähnende Leere. Carly und Marina schlenderten in den hinteren Teil und durchstöberten die Actionfiguren und die Brettspiele. »Warum hast du mir eigentlich nie Schach beigebracht, Mom?«, fragte Carly und hielt eine Schachtel in die Höhe. Königliche Figuren marschierten über ein Schachbrett. Videospiele hatte sie nie gehabt, aber bei den Valenzuelas gab es Brett- und Kartenspiele. Dame, Cluedo, das Leiterspiel, Mensch-ärgere-dich-nicht, Scrabble und natürlich Monopoly. Poker, Go Fish, Craps, Jenga. Ihr Vater hatte ihr voller Freude Poker beigebracht.

Ihr Vater hatte an vielen Dingen Freude gehabt.

»Ich weiß selbst nicht, wie man es spielt«, sagte Marina. »Vielleicht kannst du in der Bibliothek ein Buch dazu suchen und wir lernen es zusammen.« Ihr Blick schweifte teilnahmslos über die Brettspiele, dann sah sie wieder auf die Armbanduhr. »Das war eine gute Idee. Santi würde uns nie in einem Spielzeuggeschäft vermuten.«

»Wir gehen immer in die Mall. Früher oder später wird er uns finden. Warum können wir zur Abwechslung nicht mal woanders hingehen?«

»Zu meiner Schwester können wir nicht. Elisas Freundin ist eine von Santis Gang. Er würde sofort zu ihr gehen, wenn er nach Hause kommt. Vermutlich ist er gerade da und will wissen, wo wir sind.« Marina zog eine Schachtel heraus und starrte sie an, ohne die Aufschrift zu lesen. »Außerdem kann er, wenn er uns hier erwischt, nicht viel anrichten.« Sie deutete in den Laden. »Zu viele Leute, nicht?«

Sie waren allein in dem Spielzeuggeschäft. Wenn Santiago Valenzuela sie hier fand, wären sie völlig unter sich.

Aber er fand sie nicht. Carly und ihre Mutter hingen im Spielzeuggeschäft herum und entspannten sich ein wenig. Der Knoten in der Brust des Mädchens löste sich ein bisschen, und am Ende unterhielten sie sich wie zwei Mädchen und gingen mit Handpuppen aufeinander los. Vor einem Ständer mit Sammler-Barbies in Glitzerkleidern und weißen Gazemänteln erteilte Marina ihr eine Mini-Lektion in der Geschichte des Latin Hollywood.

Schließlich trieb es Carly in die Buchhandlung im östlichen Gang, ihre Mutter im Schlepptau, und diesmal fühlte es sich anders an, selbstbestimmt. Weniger wie ein Versteckspiel, sondern einfach wie ein Besuch im Einkaufszentrum. Sie schauten sich eifrig in den Bücherregalen um. Hast du schon einmal Nora Roberts gelesen? Hast du »Tommyknockers« gelesen? Weißt du noch, das hast du mir vorgelesen, als ich klein war. Denkst du, ich könnte aus dem Kochbuch etwas kochen? Die Zeit wurde ein paar Jahre zurückgedreht, und Carly vergaß, dass sie ein Teenager war, und Marinas Steifheit lockerte sich ein wenig. Sie lächelte sogar.

Zwei Stunden später nahm Marina schließlich ihren ganzen Mut zusammen und folgte ihr in den Food-Court, wo sie sich Smoothies – Carly Blaubeer, ihre Mutter Piña Colada – und chinesisches Essen holten. Als sie halb mit dem Essen fertig waren, sah Carly auf, wischte ein Stück Kohl aus einem Mundwinkel und sagte: »Warum gehen wir auf dem Heimweg nicht an diesem Polizeiladen vorbei?«

»Polizeiladen?«, fragte Marina. Sie aß alles mit der Gabel, auch die Frühlingsrollen, die großzügig in süß-saure Soße getunkt waren; ihre Hände mit den verzierten Ringen, die sie von Carlys Großmutter geerbt hatte, blieben absolut sauber.

»Ja. Dieses Polizeiausrüstungsgeschäft am Highway. ›Schießsport und Waffenbedarf‹ oder so. Ich war da einmal mit Renee drin. Die haben Elektroschocker und Pfefferspray …«

Aus Marinas Mund sprudelte ein Strom ihres fast unverständlichen Spanischs. »Bist du völlig verrückt geworden? Wenn ich Santi mit Pfeffer ansprühe, bringt er uns um und steckt das Haus mit unseren Leichen in Brand.«

Carly knirschte mit den Zähnen. »Eines Tages bringt er dich sowieso um. Du könntest auch …«

»Sag so was nicht. Lass es lieber. Santi wird mich nicht umbringen. Mach dich nicht lächerlich.« Auf einer Seite im Mund ihrer Mutter, wo vorher ein Eckzahn gesessen hatte, klaffte eine schwarze Lücke. Die anderen Zähne waren lang, das blasse rote Zahnfleisch war zurückgegangen und glänzte weißbraun wie eine Muschel. »Ich habe das doch nur bildlich gemeint. Santi tut keiner Fliege etwas zuleide. Er bellt nur und beißt nicht.«

»Er beißt, Mom. Er beißt, das weißt du ganz genau.«

Marina ließ ihr Essen stehen und holte eine Zigarette hervor.

»Hier darfst du nicht rauchen, Mom.«

Marina zögerte, hielt die Zigarette zwischen den Lippen und das Feuerzeug bereit. »Was wollen sie denn machen? Mich aus der Mall werfen?«

»Wir sollten nach Hause gehen.« Der Code für Dein Vater müsste jetzt wieder bei der Arbeit sein. Marina löschte ihre Marlboro Light in einem halben Töpfchen mit süß-saurer Soße. Carly kippte den Abfall vom Tablett in die Mülltonne, und die beiden machten sich zum Ausgang des Food-Courts auf.

»Das war mal eine nette Abwechslung«, sagte Carly. »Du solltest mit mir in die Bücherei gehen, wenn ich meine Hausaufgaben dort mache. In der Buchhandlung hast du gesagt, du magst Kochbücher und Krimis. Und wir können zusammen im Internet surfen, ja? Ich richte dir einen Facebook-Account ein und so. Hast du gewusst, dass Gabriele Herrera da auch ist? Bist du nicht mit ihr zur Schule gegangen?«

»Kommt mir irgendwie bekannt vor, ja. Ich glaube, schon.«

»Sie hat gesagt, ihr seid zusammen zu Schule gegangen, als du noch in Houston gewohnt hast. Ich denke, das war vielleicht am Ende der Mittelstufe? Oder in der Highschool?« Carly und ihre Mutter gingen durch den Eingang auf den Bordstein zu. Schwarz tat sich der Parkplatz vor ihnen auf. Es war noch nicht warm genug, damit der Asphalt weich wie Erdnussbutter wurde, doch das würde nur noch ein paar Wochen dauern.

Auf einen Behindertenparkplatz vielleicht dreihundert Meter entfernt, vor dem Hintereingang von J. C. Penny, stand ein olivgrünes Motorrad.

»Ach ja! Ich erinnere mich an sie! Sie ist mit Joseph Mireles ausgegangen. Gibt es auf diesem Facebook auch Bilder?«

»Bilder?«, fragte Carly in dieser ungläubigen Art, die gleichzeitig natürlich bedeutete. »Sie ist klein und süß und trägt so eine große schwarze Streber-Brille.«

»Vielleicht sollte ich doch mal mit dir in die Bücherei gehen.«

»Was dagegen, wenn ich mitkomme?«, fragte Santiago von hinten.

Schlagartig stürzte das Blut aus Carlys Gesicht und Händen in die Füße, und ein Streichholzkopf loderte in ihrem Herzen auf. Ihr Körper fühlte sich an, als habe man ihn mit Eiswasser überschüttet. Marina zuckte vor Schreck zusammen, drehte sich unelegant um und stolperte vom Bordstein auf den Zebrastreifen.

»Ich wollte schon lange mal wieder was lesen.« Carlys Vater hatte auf einer Marmorbank an der Seite gesessen und stand nun auf. Santiago Valenzuela war groß und breit wie ein Boxer, der aus der Form geraten war. Er trug einen zurückgekämmten Vokuhila wie Lorenzo Lamas, und sein Haar war über den Ohren grau geworden wie die Streifen eines Rennwagens. Die Ärmel seines Chambray-Hemds hatte er hochgekrempelt und so die wilden Tätowierungen auf seinen Armen entblößt. Er drückte die Zigarette auf der Bank aus und schnippte die Kippe in den Rindenmulch. »Was führt euch in die Mall, meine lieben Ladys?«, fragte er und spähte hinter einer schwarzen Militärsonnenbrille hervor. Santiago drückte seiner Frau ein Küsschen auf die Schläfe, legte beiden je einen Arm um den Hals und stellte sich in seinem lockeren, o-beinigen Cowboygang zwischen sie.

Über seinem Arbeitshemd trug er eine der Jahreszeit gar nicht angemessene Lederweste. Über seinem Herzen waren zwei Aufnäher angebracht, los cambiantes und road captain, und sie klammerten das stilisierte Gesicht eines Wolfes ein. Dasselbe wilde Wolfsgesicht nahm seinen Rücken ein, ein silber-blauer Aufnäher in der Größe eines Tellers. Carly überlegte, was sie ihrem Vater sagen könnte, doch sie war zu langsam und Marina kam ihr zuvor. »Ich wollte mir die Badeanzüge anschauen, Santi. Es ist Sommer, Liebling, und bald kann man wieder schwimmen gehen!«

Santiago blickte seine Tochter an und nahm die Sonnenbrille ab. Seine Augen glitten an ihr auf und ab, als würde er sie sich in einem Bikini vorstellen. Er lachte düster, schüttelte den Kopf, so weit kommt es wohl noch, und öffnete seiner Frau die Tür des Wagens.

Als Marina sich auf den Fahrersitz setzte, bemerkte Carly die unterschwellige Angst im Gesicht ihrer Mutter. Dad war nett. Richtig freundlich. Das allein war ja noch kein Alarmzeichen – sie wären längst keine Familie mehr, wenn Santiago immer gewalttätig wäre. Aber in dieser Situation, wo er sie nur knapp und dazu mit einer Lüge erwischt hatte, erwartete Carly Ärger, Flüche, übertriebene Gesten, wie zum Beispiel das Zuknallen der Wagentür … Aber er schloss sie ganz leise und vorsichtig. Er bedeutete Marina, das Fenster zu öffnen, stützte sich auf die Kante und sah sie an. Beunruhigend. »Ich bin hier und nicht bei der Arbeit, weil sie uns in Kurzarbeit geschickt haben«, sagte er und wartete – um der Wirkung willen, um einen dramatischen Effekt zu erzielen, um ihre Reaktionen abzuchecken? Seine Augen waren hart und hell, doch seine Stimme war düster samten, und den Mund hatte er bedauernd verzogen. »Fast hundert von uns, und zwar für die nächsten zwei oder drei Wochen.«

»Ist das dein Ernst?«, fragte Marina. »Que chingados pasa con esta gente? Das können sie nicht machen. Das geht nicht. Für wen halten die sich?«

»So läuft das eben.« Santiago zuckte mit den Schultern. »Schlechte Verkaufszahlen? Rückrufe? Wen interessiert’s?« Er beugte sich vor und sah seine Tochter auf dem Beifahrersitz an. »Ich schätze, ihr beide habt schon gegessen. Ihr riecht nach Chinesisch.« Er lächelte. »Bestimmt finde ich zu Hause etwas. Irgendwas, das ich in die Mikrowelle stecken kann.« Er hatte Geld. Er hätte einfach in den Food-Court gehen und sich selbst Abendessen holen können. Carly hasste es, wenn er den Verletzten spielte. Oh ich Armer, ihr seid so unfair zu mir, ich habe so viel für euch getan. Es war immer die gleiche Leier. Er griff in den Wagen, nahm seiner Frau den Smoothie aus der Hand und sog am Strohhalm. »Mmm, Piña Colada. Du hast einen guten Geschmack, Baby – und deshalb habe ich dich ja auch geheiratet.«

Marina lächelte nachgiebig und trocken, beinahe prüde. »Du kannst ja mit uns schwimmen gehen.« Er reichte ihr den Becher zurück. Das Styropor gab ein Scharren von sich, als Marina es in den Becherhalter gleiten ließ. »Betrachte die Zeit einfach als Urlaub, ja? Den hast du schließlich verdient. Du arbeitest so hart.«

Er starrte Marina ins Gesicht, sah dann auf seine Füße und anschließend wieder seine Frau an. »Ja. Vermutlich, ja.« Er schob den Kopf in den Wagen, zog sie zu sich heran und küsste sie lange auf den Mund, ehe er sie mit einem zufriedenen Schmatzen losließ. »Ich sehe euch dann zu Hause«, sagte er und klopfte einmal aufs Blech, ehe er davonging. Für Carly war das der Code für: Fahrt direkt nach Hause – und ich passe auf, dass ihr das auch wirklich macht.

Sie wartete, bis das Tigerfauchen von Santiagos Motorrad durch den Nachmittag dröhnte, und fragte dann ihre Mutter: »Warum sind wir vorhin nicht einfach weitergefahren?«, aber das Radio war zu laut (Taylor Swift ermahnte sie: Shake it off, shake it off.) Marina hörte sie nicht oder vielleicht wollte Carly einfach nicht hören.

An Carlys linkem Fuß lehnte ihre Handtasche. Darin klapperten leise ein Lippenstift und eine Dose Pfefferspray.