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Gegenwart

Einsam wehten die Klänge von »Hotel California« von den Eagles durch die drückende Stille. Aber hier stieg kein warmer Duft von Colitas in die Luft auf, nur der salzige Körpergeruch einer ungeduschten Frau, die mehrere Stunden in einer heißen Fahrerkabine verbracht hat.

Messingfarbenes Gras sprenkelte die Wüste, und gnadenlos leuchtete die Sonne wie ein Diadem auf der blauen Stirn eines wolkenlosen Himmels. Ein Asphaltfluss erstreckte sich in beide Richtungen bis zum Horizont, kam von nirgendwo, führte nach nirgendwo. Sie stand neben dem Winnebago, fluchte aus Leibeskräften, schwitzte ihre Kleidung nass und ihr gelockter Iro klebte seitlich an ihrem Kopf. Wenn sie die Haare wie gewohnt mit Kool-Aid gefärbt hätte, wäre nun dunkellila Soße aus Robin Martines Dimetrodon-Haarsegel den Nacken hinuntergelaufen. Ihre Unterwäsche fühlte sich an wie ein Rotztuch.

Um den Oberkörper trug sie ein Nylonhalfter, an dem ihre Kamera mitten auf der Brust befestigt war. Wie stets zeichnete die GoPro ihre Irrungen und Wirrungen für ihren YouTube-Kanal MalusDomestica auf und wurde diesmal Zeuge eines ihrer seltenen Wutausbrüche.

Die Klimaanlage hatte vor Stunden den Geist aufgegeben und aus dem Winnebago eine Sauna gemacht. Wenn der Reifen nicht mit lautem Knall geplatzt und das Gummi rhythmisch geknattert hätte, wäre sie vielleicht am Steuer ohnmächtig geworden und in die Wüste gefahren. Sie zupfte an ihrem T-Shirt, um es ein wenig zu lüften. Auf dem Reifen ragte etwas wie ein Seilzugstarter oder ein Fleischhaken, ein T-förmiger Plastikgriff mit einem spitzen Metallstück in der Mitte.

»Hunderttausend Meilen heißer Sand und Eidechsenscheiße, und ich schaffe es, über das einzige Was-für-ein-Mist-das-auch-immer-ist in Texas zu fahren!« Robin schlug hart gegen den Winnebago, dong!

Die Karosserie war heiß genug, um sie zu verbrennen, und hinterließ einen roten Abdruck auf ihren Fingerknöcheln. Sie zuckte zusammen und massierte sich die Hand.

Die Tür des Winnebago ging auf, und Kenway stieg mit einer kleinen Kühlbox nach draußen. »Was bitte hat Willy dir getan, dass du ihn schlägst?« Er stellte die Kühlbox in den Schatten des RV. Kenway trug kein Hemd, und auf ihrer Fahrt in diesem Frühjahr entlang der Westküste hatte er Farbe bekommen. Nach sechs Monaten im Einsatz gegen Hexen und ihre Helfershelfer war er das überflüssige Gewicht losgeworden, das sich angesammelt hatte, während er in Blackfield herumgehangen hatte. Sein Bauch war flach und hart wie Sandstein, und sein Oberkörper bildete ein muskulöses V. Unter den Shorts glänzte seine Beinprothese in der Sonne. Nach den Ereignissen von letztem Halloween – ihrem Kampf gegen vier der härtesten Hardcore-Hexen und eine wiedergeborene mesopotamische Todesgöttin – hatte sich Kenway ihr angeschlossen wie Shorty seinerzeit Indiana Jones.

»Wie ironisch: Du bist ausgerechnet über ein Reifenwerkzeug gefahren.« Er zog es heraus. Die letzte Luft wich in einem müden, grollenden Seufzer. »Ich glaube, Reifenmonteure können damit flicken oder ausbessern.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht genau, bin kein Reifenmonteur.«

Robin beruhigte sich und starrte ihn an. »Hol einfach den Wagenheber, Muskelprotz.«

Er band sich das Haar zusammen, damit es ihm nicht in die Augen fiel, und öffnete die Klappe an der Seite des Winnebago, holte den Wagenheber heraus, schob ihn unter den rechten Kotflügel und wollte gerade zu pumpen beginnen, als Robin ihn zurückhielt.

»Ich mach das«, sagte sie und nahm den Griff. »Hol mir das Reserverad und das Radkreuz.«

»Dann mach mal.«

Er ging zur Rückseite des Wohnmobils und überließ es ihr, mit dem Wagenheber zu hantieren. Die ersten zwei Male ließ sich der Hebel leicht betätigen, quietsch-quietsch, beim dritten Mal stockte er mitten in der Bewegung. Robin packte ihn mit beiden Händen und legte ihre ganze Kraft hinein. Der Wagenheber quietschte und gab ein Stück nach, wobei sie beinahe vornüber auf ihr Gesicht gefallen wäre. Was würde ich nicht geben, um

– zum Hulk zu werden, wann immer ich möchte? –

das tun zu können, was ich in diesem Haus getan habe, dachte sie. Zu dem zu werden, in das mich dieses Monster Andras in jener Nacht verwandelt hat. In ihrer Erinnerung sah sie ihr Antlitz im silbernen Glas eines Spiegels, ihre Haut ein Gitter aus Schatten, hinter dem ihr Herz leuchtete. Nichts ähnelte der Frau, die sie jetzt war; klein, sehnig, gebräunt, mit anthrazitfarbenen Augen und dünnen, ausdrucksstarken Lippen. Diese Statue in Gestalt eines Mädchens, diese Korbgeflecht-Skulptur mit der explosiven Seele.

Cambion.

Sie starrte auf das schmutzige Stahlrohr in ihren Händen, als wäre es ein blutiges Schwert. Blauer Lack blätterte ab und enthüllte rote Rostflecken, die Spuren jahrzehntelanger Benutzung. Cambion. Andersartig. Sie stürzte sich erneut auf den Wagenheber, und mit gequältem Quietschen ruckte der Winnebago. Teufelsbraten.

Lachen. Sie drehte sich zu dem Komiker um.

»Alles in Ordnung bei dir?« Kenway stand da, unterdrückte ein Grinsen und hielt das schwere Reserverad in einer Hand.

»Ja, danke.«

Schweißtropfen hingen in Kenways Bart, seine Stirn glänzte. Er stellte den Reifen am Straßenrand ab und ließ ihn dabei wie einen Basketball auftippen, pong-pong, dann lehnte er sich gegen die Seite des Wohnmobils, dass es schaukelte. »Ich schiebe, du pumpst. So müsste es leichter gehen.« Er lehnte sich mit Nachdruck gegen das Wohnmobil, und sie drückte den Hebel nach unten. Während er schob und sie pumpte, gelang es ihr, den platten Reifen vom Boden zu heben.

Kenway machte Sandwichs aus den Vorräten in der Kühlbox, und Robin wechselte schwitzend den Reifen, unter lautem Fluchen und mit vielen Tritten. Sie bückte sich, schob die Arme unter das Reserverad, hob es an wie ein Sumoringer und setzte es grunzend auf die Achse. Nachdem sie die Radmuttern festgezogen hatte, ließ sie den Winnebago mit einem Satz auf alle viere runter und wischte sich mit dem Arm Schweiß von der Stirn, wobei sie graue Schmiere hinterließ.

Sie wusch sich die Hände und setzte sich zu Kenway. Zusammen aßen sie Sandwichs mit Truthahn und Salami, teilten sich eine große Tüte Doritos und tranken Blue Moon im Schatten des Wohnmobils. Dabei hörten sie Musik. Aerosmith. Janie’s got a gun.

Er war zuerst mit dem Essen fertig und schleppte den platten Reifen nach hinten, wo er ihn einlud. Robin schob sich den letzten Bissen ihres Sandwichs in den Mund und trug die Kühlbox in den Wagen.

In den Halterungen an den Innenwänden glänzten Hieb- und Stichwaffen – Schwerter, Messer, Tomahawks. Alle Fenster standen offen, und ein leichter Windzug mühte sich, die stickige Luft zu erfrischen. Sie schnallte das Halfter der GoPro ab und warf es aufs Bett. Ihr T-Shirt klebte an ihr wie Schrumpffolie an Rinderhack. Sie zog es aus und warf es in den Wäschekorb.

Da sie keinen BH trug, machte Kenway große Augen, als er hereinkam. »Tja nun.«

Im Wind waren ihre Brustwarzen hart geworden. Sie warf ihm einen vorsichtigen Blick zu, grinste schließlich und hielt eine Faust in die Höhe. »Stein, Schere, Papier. Wer gewinnt, darf zuerst in die Dusche.« Sie schlugen sich die Fäuste dreimal entgegen, und beim vierten Mal machte sie ein Zwei-Finger-Peace-Zeichen als Schere, doch er richtete nur den Zeigefinger auf sie.

Verwirrt fragte sie: »Was soll das sein? Es heißt nicht Stein-Schere-Pistole.«

Mit der anderen Hand machte er ein Okay-Zeichen, steckte den Zeigefinger hindurch und bewegte ihn im Ring hin und her.

»Oh.« Langsam breitete sich ein Lächeln auf Robins Gesicht aus. »Dann haben wir beide gewonnen.«

Sie stellte die GoPro ab, versteckte sie in der Schublade der Kommode und schnallte seinen Gürtel auf.

Willkommen in Keyhole Hills,

wo der Alltag endet und
das Abenteuer beginnt!

Bevölkerung: 2849

Heimat des Ma’iitsoh-Wanderwegs

Gottseidank keine Hexen-Graffitis.

Die meisten Graffitis waren unverständliche Schmierereien, aber wenn man wusste, wonach man suchte, fand man spezielle Runen im Muster, die verrieten, dass in der Nähe eine Hexe lebte. Sie benutzten die Runen, um miteinander zu kommunizieren, so wie es Wanderarbeiter und Landstreicher früher getan hatten.

Der Highway führte einen Hügel hinauf und durch eine Kluft in einem Sandsteinfelsen. Zeit und Wetter hatten eine hausgroße Öffnung durch den Stein gebrochen und erzeugten einen schlüssellochförmigen Keil in der indigofarbenen Luft.

Auf der anderen Seite des Passes lag eine geduckte Siedlung mit Häusern, Geschäften und Fast-Food-Werbeschildern. Robin konnte kein einziges zweistöckiges Gebäude ausmachen, und angesichts der Gedrungenheit von Keyhole Hills wirkte der Himmel schwer und drückend. Die Stadt schmiegte sich an einen Hang mit Salbeisträuchern und erinnerte sie an ein Skee-Ball-Spiel, als würde der Highway Touristen geradewegs in eins der Motels oder Geschäfte lenken, die am Berg standen. Besucherzentrum: 10 Punkte! Rogers Tank’n’Go: 25 Punkte. Best Western: 50 Punkte!

Am Stadtrand rumpelten sie in den Schatten eines Baums, der neben einer weiß gestrichenen Werkstatt stand, inmitten von schrottreifen alten Autos und Reifenstapeln.

Zu Robins Überraschung verlief die Transaktion reibungslos – der dicke Mann mit schmierigen Händen und Teddy-Roosevelt-Gesicht hatte den richtigen Reifen für einen 1974 Winnebago Brave auf Lager und war für einen angemessenen Preis bereit, ihn zu montieren. Robin kaufte für alle Fälle einen Reservereifen, ehe sie sich mit Kenway zu Fuß in die Stadt aufmachte.

Kies knirschte unter ihren Chucks, während sie durch eine Siedlung aus Bungalows, Reihenhäusern und Wohnwägen gingen, die durch Bürgersteige und Maschendrahtzäune in ein gleichmäßiges Gitter zerschnitten wurde. Der Rasen sah meistens aus wie verteiltes Heu. Tot wie der Teufel. Glücklicherweise war die Luftfeuchtigkeit nicht so hoch wie in Georgia, und jede Brise nahm ein bisschen Schweiß von der Haut.

Eine Gestalt gesellte sich zu ihnen. »Hi, Liebes«, murmelte Annie Martines Geist in seiner brüchigen Mittelwellenstimme.

»Hi, Mom«, sagte Robin. Annie erschien ihrer Tochter immer noch gelegentlich, nachdem diese sie aus dem seelenfressenden Apfelbaum gerettet hatte. Offensichtlich war ihre Tochter die Einzige, die sie sehen konnte, denn niemand sonst reagierte je auf sie.

»Ist sie da?« Kenway suchte die Luft um seine Freundin ab.

»Ja.«

»Bestell ihr Grüße von mir.«

Mit Geistern zu sprechen machte manchen Leuten höllische Angst, er jedoch hielt sich bewundernswert gut. Sie war nicht sicher, ob er einfach nur gute Miene zum bösen Spiel machte oder tatsächlich glaubte, ihre Mutter sei anwesend, jedenfalls war sie dankbar für seinen lässigen Umgang damit.

Der Geist grinste. Annie mochte Kenway.

»Sie lässt zurückgrüßen.«

Manchmal fragte sie sich, wohin Annie verschwand, wenn sie nicht sichtbar war. Gab es im Jenseits einen Wartesaal? Chillte sie in einem verborgenen Zimmer in Robins Kopf? Sie zog ihr T-Shirt hoch, wischte sich das Gesicht ab und entblößte dabei ihren Bauch. »Gendreau sagt, sie wollen uns in einem Café treffen.«

»Nervös?« Ihr selbsternannter »Kameramann« trug ein Margaritaville-Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln, um seine neue Bräune und die Tätowierungen auf den Schultern zu betonen: das Abzeichen der Army-Air-Assault-Schule auf der einen Seite und auf der anderen einen aufsteigenden Greif, der einen Speer und eine Kralle voller Olivenzweige hielt. Die bläulichen Bilder sahen aus wie Zeichnungen auf einer Karte aus dem fünfzehnten Jahrhundert.

»Scheiße, ja, ich bin nervös.«

»Er sagt, sie wären ganz entspannt.«

»Keine Ahnung.« Sie lächelte angestrengt und versuchte mit ihrer Miene, »Sorge« zu übermitteln. Was ankam, sah vermutlich eher nach Verstopfung aus. »Wenn sie wirklich entspannt wären, würden sie mich dann nicht eher in ihrer Basis in Michigan empfangen anstatt in einem Nest mitten im Nichts?«

»Wir waren schon hier draußen – vielleicht wollten sie uns einfach nur auf halbem Weg entgegenkommen.«

»Vielleicht.« Laut Ortseingangsschild wohnten hier fast dreitausend Menschen. Das klang nach einer Menge, bis man Vergleiche zog – sogar in Blackfield lebten vermutlich doppelt so viele, und das nahe Houston zählte zwei Millionen Einwohner. »Wahrscheinlich haben sie Angst, dass ich ausflippe oder einen Wutanfall bekomme.« Robin fuchtelte mit der Hand herum. »Hier draußen gibt es nicht viel. Vermutlich denken sie: ›Wenn wir in der Öffentlichkeit mit ihr reden, regt sie sich vielleicht nicht so auf, trotzdem wollen wir eine Stadt von der Größe Houstons nicht in Gefahr bringen.‹« Sie runzelte die Stirn. »Es ist Monate her, seit ich das letzte Mal in den Bestien-Modus geschaltet habe. Wir haben seitdem Dutzende Kämpfe hinter uns gebracht. Es ist nie wieder passiert.«

Eine Weile lang sagte er nichts dazu. Sie sah vor ihrem inneren Auge, wie sie den Körper ihres Vaters aufriss, dachte an ihn, den Kakodämon Andras, an all die kribbelnden, kitzelnden Spinnen, die heimtückisch aus seinem hohlen Körper krabbelten und ihren Arm hinaufrannten und dabei wirkten wie ein schwarzer Spitzenärmel. »Vielleicht brauche ich einen Dämon, der mich ansteckt, damit es passiert.«

Bin ich voller Spinnen?

Gott, was für eine Frage!

»Ich glaube, du interpretierst ein bisschen viel hinein«, murmelte Kenway schließlich.

Über ihnen kreiste ein Vogel, der die Thermik nutzte. Robin sagte: »Gendreau hat ihnen nicht sofort mitgeteilt, dass ich jetzt für sie arbeite.«

»Sondern?«

»Dass ich nach dem Kampf gegen Cutty in den Sonnenuntergang davongefahren bin. Ich glaube, er wollte mich schützen. Ich sollte sein geheimer James Bond sein und er meine M.«

»Vielleicht hat er erwartet, dass du noch mehr Videos machst, in denen die Hunde des Odysseus sehen können, dass du den Osdathregar immer noch hast.«

»Na ja, ich habe ihnen gesagt, ich würde meinen Kanal nicht weiterführen.« Was jedoch nicht ernst gemeint war. Sie verdiente viel zu viel Geld damit, um den Kanal aufzugeben. Außerdem gefiel ihr nach drei Jahren auf YouTube die Aufmerksamkeit. Die Fans.

Süchtig nach Aufmerksamkeit, sagte die Krankenschwester der psychiatrischen Station in ihrem Kopf.

Nein, dachte Robin. Sie sind die Familie, die ich nie hatte. Deshalb liebe ich sie so.

Kenway schüttelte den Kopf. Er sagte nichts, doch der Vorwurf hing in der Luft: Du hast gelogen und Gendreau in Schwierigkeiten gebracht.

»Er wird es wegen dem gemacht haben, was ich im Lazenbury-Haus getan habe«, sagte Robin. »Ihm das Leben gerettet. Vermutlich hat er das Gefühl, er sei mir etwas schuldig. Aber die anderen klangen nicht so, als ob sie sauer wären, zumindest nach dem, was G mir erzählt hat.« Sie blieb an einer Kreuzung stehen und blickte die Straße hinauf und hinunter. »Sie klangen, als wollten sie mich treffen und mich einfach nur kennenlernen. Puh, ich kann dieses Café nirgendwo entdecken.«

Ein kleiner Hund bellte sie hinter einem Zaun an. Hinter dem Hund stand ein Mobilheim. Auf einer windschiefen Veranda saß ein alter Hunter-S.-Thompson-Doppelgänger mit Bierbauch in T-Shirt und Jeans und hielt ein Glas Eistee. Selbstgemachter Klimperkram hing von den Balken: blaue Glaskaulquappen, Bambuswindspiele, Traumfänger.

Plötzlich hörte der Hund auf zu bellen, als hätte er sein Soll für den Tag erfüllt. Annies Geist blieb stehen und steckte einen silbrigen Finger durch den Zaun, an dem der Hund schnupperte. Robin blinzelte verwundert.

Der alte Kerl winkte ihnen zu. Seine Augen funkelten trotz der rosaroten, dicken Gleitsichtbrille. »Willkommen in Hole«, sagte er und fuchtelte mit der Hand wie ein Dirigent beim letzten Takt einer Symphonie.

»Entschuldigen Sie bitte, Sir«, sagte Robin und lehnte sich auf den Zaun des alten Mannes. Der Hund – eine Art Scotchterrier – schnüffelte durch den Maschendraht an ihr. »Wissen Sie, wo wir Uncle Joe’s Diner finden?«

»Uncle Mac’s?«

»Ja, Mac’s, das habe ich gemeint. Irgendwie habe ich das wohl mit Joe’s Crab Shack durcheinandergebracht.«

»Ach, was würde ich für ein paar anständige Krebse geben!«

Der Zahnstocher klapperte zwischen den Zähnen herum. Der Mann zeigte mit knorrigem Finger über ihre Schultern hinweg. »Zu Mac’s geht es da runter, ungefähr drei Blocks nach unten und einen rauf. Wenn ihr dort essen wollt, nehmt das Chili. Die machen ein köstliches, mit schwarzen Bohnen. Das Beste, das ich je gegessen habe.«

»Danke.«

»Wie hat es euch denn hierhin verschlagen? Hier draußen haben wir nicht viele Besucher. Außer denen, die sich auf dem Ma’iitsoh-Weg verirren. Seid ihr Wanderer?«

»Könnte man so sagen.« Hohes Gras streifte über das Titanium, das unterhalb von Kenways Shorts glänzte, als er sich an den Zaun lehnte. »Sie hat einen Video-Kanal im Internet und fährt dafür durchs ganze Land. So eine Art Reisetagebuch.«

Der alte Mann schnaubte. »Wie diese Sendungen im Fernsehen? Ein Reise-Kanal? Wie dieser dicke Kerl mit den blonden Strähnen und den Bowling-Hemden?«

»Ungefähr so.« Robin blinzelte. Die Sonne spähte über das Mobilheim und schien ihr heiß ins Gesicht. »Wir sind nur auf der Durchreise und wollen uns hier mit ein paar Freunden treffen. Bei Uncle Mac’s.«

»Sagt ihnen, Gil hätte euch geschickt.« Er zögerte. »Oder vielleicht besser nicht.«

Lachen. »Danke.«

Gils Grinsen verschwand. »Benehmt euch, während ihr in Hole seid, ja? Und haltet euch auf dieser Seite der Stadt.« Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter auf seine Behausung und sah sogar in die Richtung, als könnte er zu einem fernen Punkt hindurchschauen. »Geht nicht weiter als bis zu der Conoco-Tankstelle oben an der Fünften. Dort …« Er nahm die Brille ab und rieb sich ein Auge. »Sagen wir mal, da gibt es solche Leute. Leute, mit denen man nichts zu tun haben will.«

»Alles klar.«

Gil setzte die rosa Brille wieder auf. »Viel Spaß beim Essen. Wenn ihr einem alten Mann ein bisschen Gesellschaft leisten wollt, lade ich euch auf ein paar Bierchen ein, bevor ihr weiterfahrt. Ich sitze die ganze Nacht hier.«

Uncle Mac’s war im 50er-Jahre-Stil eingerichtet – pastellfarben, futuristisch gestaltete Atomzeitalter-Deko in jedem Winkel. Ein großes Schild vor dem Laden erinnerte an das Nike-Logo. In der Mitte des Hakens war ein zweieinhalb Meter großer Football-Spieler, und drei Bälle bildeten einen Bogen vor dem ausgestreckten Bein. Darum stand Touchdown Grill, und wenn die Neonreklame noch funktioniert hätte, würde die Neonfigur einen animierten Football kicken. Im Augenblick jedoch war das Schild außer Betrieb, und für Robin und Kenway sah es aus wie ein riesiger, zackiger Penis, der wie ein Maschinengewehr Footbälle ejakulierte.

Als sie auf den Bürgersteig vor Uncle Mac’s Diner trat, überfiel sie plötzlich eine Vorahnung. Ist das eine Falle? Wird das ein hartes Verhör? Lullen sie mich in Sicherheit und ziehen sie mir dann einen Sack über den Kopf? Natürlich würde Gendreau ihr das nicht antun. Falls er dabei war und bei der Sache mitspielte, musste er auch damit einverstanden sein, oder?

Der Heilmagier hatte ihr Geheimnis seit September bewahrt, der seltsame, ruhige Anders Gendreau mit seinem sympatischen Fuchsgesicht und seiner Vorliebe für vornehme, wenn auch altmodische Kleidung. Er war derjenige gewesen, der nach dem Verlust ihres Arms durch die Hexe Theresa La Quices an sie herangetreten war, der Einzige jedenfalls außer Joel, ihrem Freund aus der Kindheit, der ihr geholfen hatte, sich an ihre neue Existenz als Cambion zu gewöhnen.

Cambion. Halb Frau, halb Dämon. Halb Netflix-Süchtige, halb Höllenwesen. Ein Bild des Blutwurms tauchte in ihrem Kopf auf: dieses sich windende Anhängsel, das aus der Amputationswunde gekrochen war und sich am Ende zu einem neuen Arm entwickelt hatte.

Bei der Erinnerung an das Gefühl, wie sich der Blutwurm an ihre Hüfte schmiegte, schauderte es sie.

»Alles in Ordnung?«, fragte Kenway, dessen blauer Schatten auf sie fiel.

Sie blinzelte ihn an. »Ja.«

»Du bist unbesiegbar, Honey«, erinnerte er sie. »Du verspeist diese Idioten zum Frühstück, wenn irgendetwas schiefgeht. Du bist ein Halbdämon, du frisst Hexen und tötest Göttinnen. Geh da rein und zeig es ihnen. Wenn sie einen Arm oder ein Bein von dir wollen, gib es ihnen und lass es dir neu wachsen.«

Der Mann war tatsächlich stolz auf ihre Absonderlichkeiten.

Sie grinste schief. »So einfach ist das nicht, und das weißt du ganz genau.«