28
Damals
Robin und Heinrich taumelten durch staubige Gassen voller Müll. Hinter ihnen brannte das Casino »Oracle of the Sands«. Das Geheul von Katzenmenschen – hexische Wesen, Männer und Frauen, die von okkulten Energien getrieben wurden – erzeugte einen Sirenenklang, der an- und abschwoll und in schrillen, absonderlichen Wellen über sie hinwegbrandete.
Sie waren in eine Falle gegangen. Die beiden Hexenjäger hatten Gail Symes in ihrem Casino am Rande von Vegas überfallen wollen. Unglücklicherweise wussten sie nicht, was diese für sie bereithielt – eine Katzenbombe, einen Notschalter, nach dessen Betätigung sich Unmengen von Katzen opferten und ihre kleinen Katzengeister in den nächsten Unbeteiligten schickten. Binnen weniger Sekunden wimmelte es im Casino von durchgedrehten Irren. Robin und Heinrich hatten das dem Casino seinen Namen gebende Orakel Gail Symes getötet und waren nur mit Mühe lebend entkommen, dabei war es ihnen gelungen, einige Brandsätze im Gebäude anzuzünden, ehe Symes’ Security sie erwischte.
Flammen schlugen aus den Casino-Fenstern. Das riesige Neon-Illuminati-Schild brannte. »Wir müssen dich in ein Krankenhaus bringen«, sagte Robin, der Blut über die eine Seite ihres Gesichts rann. Heinrich humpelte neben ihr her, stützte sich mit einem Arm auf ihre Schulter und drückte die andere Hand auf die Schusswunde in der Brust, wo ihn einer der Security-Männer erwischt hatte.
Offensichtlich vergaß man in Heinrichs Welt, wie das mit dem Sprechen funktionierte, wenn ein Zweieinhalb-Zentner-Kerl mit einer Glock sagt, man solle aufhören.
»Nein, Kleine, nicht ins Krankenhaus. Ich habe sowieso keine Versicherung.«
Die Sirenen von Feuerwehrfahrzeugen übertönten das Geheul der Hexischen, die durch zerstörte Eingangstüren herauskamen und in Flammen gehüllt auf der Straße zusammenbrachen. Robin schleppte Heinrich durch eine Seitengasse, auf die Küchentüren von Restaurants und Feuertreppen führten, zu der verlassenen Ecke, wo ihr Conlin-Sanitärwagen wartete.
Das Adrenalin schoss noch durch ihre Adern, als sie ihm auf den Sitz half, die Tür hinter ihm schloss, sich dann auf den Fahrersitz plumpsen ließ, die Schlüssel aus der Tasche kramte und den Motor anließ. Neben ihr sah Heinrich aus wie eine Leiche auf Urlaub, ein zusammengesunkener Mann. Sein Atem ging in feuchten, abgehackten Zügen.
»Mann«, grunzte er, die Hände voller Blut. »Ich wünschte, dieser Andy wäre hier.«
»Wer?«
»Ach, egal. Bring uns einfach nur hier raus.«
»Du musst ins Krankenhaus«, sagte Robin und legte ihren Sicherheitsgurt an. »Du verlierst einfach zu viel Blut.«
»Das wird schon. Bring uns einfach nach Hause.«
»Bis Hammertown sind wir Stunden unterwegs. Das liegt in einem anderen Staat, Heinie. Du krepierst, wenn ich nicht …«
Selbst in seinem üblen Zustand konnten Heinrichs Blicke noch töten. »Dann fahr uns zumindest aus der Stadt, und wir suchen uns wieder ein Motel! Die verfluchten Cops sind gleich überall und suchen nach denjenigen, die dieses Chaos angerichtet haben, und wenn wir hier nicht verschwinden, hängen die uns vorsätzlichen Mord an.«
»Vorsätzlich? War das nicht eher billigende Inkaufnahme?«
»Wenn interessieren die Feinheiten? Fahr einfach! Und nenn mich nicht« – hust, hust – »Heinie!«
Der Diebstahlalarm eines Wagens sang neben dem Lieferwagen, eu-eu, und riss Robin aus dem Schlaf. Sie setzte sich auf und rieb sich die Augen.
Im Wagen herrschte die Kühle der kalten Wüstennacht. Sie waren den ganzen Abend bis in die Dunkelheit gefahren, zehn Stunden, und hatten zwischendurch in Las Cruses, New Mexico, angehalten, als sie sich nicht mehr wachhalten konnte. Heinrich sagte, eine Rast sei okay, daran erinnerte sie sich. Sie war auf den Parkplatz eines riesigen grauen Walmart eingebogen, hatte im Schatten gehalten und war fast augenblicklich eingeschlafen.
Ihr Blick fiel auf den Beifahrersitz. Heinrich war weg.
Gott, überall Blut.
Robin spähte durch die Windschutzscheibe, sah aber nur eine Gruppe Studenten, die einen Einkaufswagen mit Junkfood, Bier und Gatorade schoben. Der vorderste trug einen Hoodie mit dem Universitätslogo.
Hinten. Sie drehte sich um.
Er lag auf der Luftmatratze zwischen den Regalen unter einem Stapel Decken, den Hut über dem Gesicht. Und er bewegte sich nicht.
Sie rüttelte ihn. »Hey, Heinie, bist du wach?«
Keine Antwort.
»Alles in Ordnung, Mann? Wach auf.«
Immer noch keine Antwort.
»Oh mein Gott. Wehe, du bist tot, Heinrich Hammer, wehe.« Galle stieg mit der Panik in ihr auf, und plötzlich bekam sie keine Luft mehr. Tränen stiegen ihr in die Augen. »Lass mich jetzt nicht allein, Arschloch. Du bist alles, was ich habe. Hey, du Arsch, wach auf. Bitte.« Sie schüttelte ihn erneut, und der Hut fiel herunter.
Zu ihrer Erleichterung waren die Augen geschlossen. Aber der Mund stand offen.
Sie kniete sich hin und beugte sich weit vor, um nach seinem Atem zu lauschen. Aber sie hörte nichts, weil die Studenten draußen neben dem Wagen lachten und so viel Lärm machten.
Sie drückte ihm die Finger an den Hals, suchte nach einem Puls, doch die Haut war so ledrig, und sie war unsicher.
»Scheiße, Baby«, sagte einer der Studenten mit alkoholisierter Stimme, die durch das Fenster gedämpft wurde. Sportlertyp mit militärischem Haarschnitt. »Das ist mal ein Hintern! Bitte, sei kein Typ, wenn du dich umdrehst.« Robin blickte über die Schulter. Ihr Po drückte sich ans Lenkrad.
Zwei Jungs starrten ihn durch die Windschutzscheibe an. »Ey, ja. Das Mädel sieht aus, als stehe sie auf Partys. Guck dir den Iro an.«
»Hey, Bock, mitzukommen?«, fragte der Sportler.
»Wir fahren nach Mexiko, und wir haben jede Menge Gras.«
Sie warf einen Blick auf den reglosen Heinrich und dann wieder zu den Studenten. »Verpisst euch, ja? Ich habe gerade was Wichtiges zu tun.«
Beide Jungen wichen überrascht zurück.
»Verpissen sollen wir uns«, sagte der rechte, ein Junge mit dicken Augenbrauen, der als Stuntdouble für einen Neandertaler durchgegangen wäre. »Mann, die Zicke hat ein ganz schönes Mundwerk.«
»Ich hätte was, womit sie ihr Mundwerk beschäftigen könnte.«
Ein dritter kam vorn um den Wagen, der mit dem Hoodie. »Was lungert ihr beiden Schwachköpfe hier herum?«, fragte er, und dann bemerkte er Robin, die immer noch verrenkt über dem Fahrersitz nach hinten hing. »Mein Gott, die Punkmieze ist voll heiß.«
Jemand machte die Fahrertür auf. Robin drehte sich um und kam Nase an Nase mit dem Sportlertypen. »Was ist denn?«, fragte er mit Wodkaatem. »Bist du lesbisch?«
»Raus aus dem Wagen«, sagte Robin und schob ihn weg.
Nicht weit genug, denn ehe sie die Tür zugemacht hatte, war er wieder da. »Bitch, ich will bloß ein bisschen reden. Setz dich hin und gib mir ein paar Minuten, bis du mich kennengelernt hast. Ich bin echt ein netter Kerl.«
»Ich habe keine Zeit dafür. Ihr seid betrunken und nicht klar im Kopf. Ihr braucht nur in euren Wagen zu steigen und wegzufahren.« Sie schob ihn hinaus und versuchte erneut, die Tür zuzumachen, aber er riss sie ihr aus der Hand und schob sich in den Wagen, wobei er ihr fast einen Kopfstoß verpasste. Er war betrunken, er war verschwitzt, und seine Augen hatten Schwierigkeiten, in die gleiche Richtung zu blicken, und bewegten sich wie bei einem Chamäleon auf Quaaludes. »Gott, ich hoffe, du fährst nicht.«
»Warum kommst du nicht raus und schnappst ein bisschen frische Luft«, fragte er, packte die Aufschläge ihrer Jacke und zog sie vom Vordersitz. »Hier drinnen stinkt’s.« Der Sportlertyp drückte sich an sie.
»Draußen auch. Aber gewaltig«, sagte Robin.
Der Mann küsste sie.
Es war, als knutschte man einen Aschenbecher voll Ethanol. Und eine Rasur wäre auch fällig gewesen, mit dem Gesicht konnte man den Lack von einem Wagen abschleifen. Ich kann dich dazu bringen, alles zu tun, hallte Heinrichs Stimme in ihrem Unterbewusstsein wider. Ich muss dich nur richtig verärgern. Die Angst und der Schock platzten wie eine kaputte Glühbirne (später hätte sie schwören können, sie habe tatsächlich einen Knall gehört) und verwandelten sich in Wut.
Sie biss ihm in die weiche Oberlippe und schnappte zu wie eine Schildkröte.
Der Mann schrie ihr in den Mund. Sie ließ nicht locker, als er zurückwich, und die beiden vollführten die unbeholfene Parodie eines West Side Story-Tanzes auf dem Parkplatz. »DU VERRÜCKTE SCHLAMPE!«, schrie er, packte ihren Kopf, drückte ihr die Daumen auf die Augen und quetschte Sterne aus ihrem Hirn. Robin ließ los, entzog sich ihm und versuchte, durch einen Nebel aus schwarzen Punkten klar zu sehen.
Seine Freunde kamen um den Wagen und umzingelten sie.
»Für wen hältst du dich? Für Mike Tyson?«, fragte Hoodie und schob die Ärmel hoch. »Wer beißt einem in den Mund? Er wollte bloß ein Küsschen.«
»Tyson hat Holyfield nicht in den Mund gebissen, sondern ins Ohr.«
»Vergiss das mit dem Küsschen«, sagte Sportlertyp und sprach durch die Finger. Er hielt sich den blutigen Mund. »Jetzt prügel ich den Scheiß aus ihr raus.«
Robins Herz klopfte bis zum Hals. Ihre Hände zitterten, als sie methodisch die Ohrringe herausnahm und in einer Tasche ihrer Army-Jacke verstaute. Dann zog sie die Jacke aus und warf sie unter die hintere Stoßstange des Sanitärwagens, wo sie nicht im Weg war.
»Oh!«, sagte das Neandertaler-Stuntdouble. »Sie will mitspielen.«
»Ey, das gefällt ihr. Sieh dir das an.« Hoodie zeigte auf ihre Brust. Wegen der Kälte in der Wüste drückten sich ihre Brustwarzen durch das Florence-and-the-Machine-T-Shirt.
Nein, aber mir kommt’s, wenn ich euch Schmerzen zufüge.
Der Ellenknochen im Unterarm war der härteste und widerstandsfähigste des menschlichen Körpers, und was die Jungs nicht wussten: Das letzte Jahr hatte sie damit verbracht, einen Boxsack zu bearbeiten und sich von Heinrich die Ellbogen mit einem Ledergürtel und später einem Besenstiel malträtieren zu lassen. Bei einem Boxhieb konnten die kleinen Mittelhandknochen der Faust brechen – das hieß passenderweise »Boxerfraktur« – , aber der Knochen, der vom Handgelenk bis zum Ellbogen reichte, war wie ein Baseballschläger aus Beton.
Hoodie griff nach ihr. Sie packte sein Handgelenk und rammte ihm den Ellbogen ins Gesicht. Die Nase knirschte. Er taumelte rückwärts gegen den Lieferwagen und keuchte vor Schmerz. Sie wandte sich Sportlertyp zu, trat ihm das Knie zur Seite und warf ihn mit einem Ellbogenstoß zu Boden.
Stuntdouble schaute ungläubig zu. Sie gab ihm keine Zeit, sich vorzubereiten, sondern verpasste ihm einen Schwinger, bei dem sich sein Kopf wegdrehte. Schmerz schoss durch ihre Faust, und die Mittelhandknochen vibrierten wie eine Stimmgabel.
»Nicht schlecht«, sagte er und schlug ihr in den Magen.
Aller Sauerstoff wich aus ihrer Lunge – »UUHHHRRRR!« –, und sie ging auf die Knie und krümmte sich zusammen. Stuntdouble packte ihren Mohawk und zog ihren Kopf auf gleiche Höhe wie seinen Schritt.
»Perfekte Höhe.«
»GrrrrrrrrraaaAAAAAH«, brüllte sie und schlug ihm, so hart sie konnte, in die Eier.
Stuntdouble brach zusammen, beide Hände über seinen Genitalien, lag in Embryonalhaltung da und wälzte sich hin und her. »Aaaah!«, schrie er. Sein Gesicht wurde rot. Speichel rann aus dem Mund auf den Asphalt. »Aaahhhhh! Allmächtiger Gott! Eins meiner Eier ist weg!«
»Jetzt bist du dran«, sagte Sportlertyp, erhob sich und fasste sich mit einer Hand ans Ohr. Auf den Fingern sah er Blut. »Ich mach dich fertig.« Er griff an und wollte sie in den Boden des Parkplatzes rammen wie ein Quarterback. Robin wartete. Blitzschnell griff sie nach seinem Hemd – ein kariertes –, drehte sich auf einer Ferse, kniete, rammte ihm die Hüfte in den Bauch, zog ihn herüber und ließ ihn auf den Kopf fallen.
Mit dieser Art zu fallen war Heinrich auch sehr vertraut. Robin hatte ihn schon Dutzende Male mit einem Aikido-Wurf aufs Kreuz gelegt.
»Bu hast bir bie verbammte Nabe bebrochen«, sagte Hoodie, der immer noch an ihrem Lieferwagen lehnte. Blut strömte aus seiner Nase und lief über den Mund auf seinen Uni-Hoodie. Er richtete sich auf und griff in die Tasche. Dann machte er ein kleines Klappmesser auf und fuchtelte damit vor ihr herum. Licht glänzte auf der Klinge. »Betzt bist bu bran.«
Die hinteren Türen des Wagens flogen auf, und Heinrich trat ihm ihn den Arsch.
Während Hoodie vor Robin der Länge nach zu Boden ging, trat der blutüberströmte Hexenjäger aus dem Wagen. Sein weißes Hemd hatte sich komplett rot gefärbt.
Er lud eine Schrotflinte durch. Ka-tschack!
»Ihr Hosenscheißer habt fünf Sekunden.«
Sportlertyp erhob sich und lud mit hängendem Kopf wie ein getretener Welpe die Einkäufe der drei in den Kofferraum. Bierflaschen klimperten, während er arbeitete. Stuntdouble wollte ihm helfen.
»HABE ICH GESAGT, IHR SOLLT EINLADEN?«
Alle drei Jungen sprangen in das Auto – »Los, los, los, los!« Der Wagen fuhr rückwärts aus dem Parkplatz und rammte dabei den Einkaufswagen. Alkohol und Junkfood für Hunderte von Dollar kullerten auf den Boden. SKRRT! Der Wagen fuhr wieder an und ließ eine Tüte Zwiebelringe platzen.
Robin machte sich eine der Bierflaschen auf, die nicht zerbrochen war, trank einen Schluck und setzte sich neben Heinrich auf die hintere Stoßstange. Sie reichte ihm auch ein Bier.
»Du siehst nicht schlecht aus für einen, der bis vor fünf Minuten noch tot war«, sagte Robin und trank einen Schluck Sam Adams.
Er öffnete das Coors, zuckte, leerte die Flasche zur Hälfte in einem Zug und hielt sich mit der anderen Hand die Rippen. »War nicht so schlimm, wie es ausgesehen hat. Bloß ein Kratzer. Ich habe doch gesagt, ich muss nur mal richtig ausschlafen.«
»Für einen ›Kratzer‹ hat es aber ziemlich geblutet.«
Er zuckte mit den Schultern, zog sich auf die Beine, humpelte hinüber zu den Einkäufen der Jungs. Dabei trat er in eine Bierlache. Er bückte sich, griff nach einer Schachtel Popcorn und warf sie Robin zu. »Hier, das packen wir alles ein. Das reicht vielleicht bis nach Texas.«