18
Die Zeit zog sich endlos dahin, während die vier hinter dem Empfangstresen des ehemaligen Motels saßen. Kenway lehnte Carly an die Rückwand des Tresens, wo sie verloren auf den Teppich starrte. »Allein schaffen wir das nicht«, murmelte der Veteran, der im Dunkeln nur als grauer Schemen wahrzunehmen war. »Nicht mit zwei Klingen und einer Handvoll Patronen für die Schrotflinte.« Sein Ton ließ erkennen, dass er es nicht gewohnt war, solche Feststellungen zu treffen. »Was sollen wir denn tun? Er wird die Suche nach uns nicht aufgeben, nicht nach dem, was mit Marina passiert ist.«
»Wir sind im Arsch«, sagte Gendreau.
»Ich stimme nicht gern zu«, sagte der Veteran, »aber ja, sosehr es mich schmerzt, das zu sagen, wir sind voll im Arsch.«
Robin überlegte und suchte nach einem Trost oder einer Strategie. Dabei versuchte sie, im Schatten den ätherischen Geist ihrer Mutter zu entdecken, aber Annie war nirgendwo zu sehen. »Keine Ahnung. Echt nicht. Ich denke, wir warten. Bis sie von dem Haus zurückkommen, dann schleichen wir uns hinten raus und gehen selbst dort hoch … und warten auf dem Dachboden bis zum Morgen.«
Die beiden Männer sagten nichts. Sie schloss daraus, dass sie mit ihrem Plan einverstanden waren. Einen besseren hatten sie ja nicht.
Der Mond fiel durch ein kleines Fenster in der Tür, als sie nach draußen schaute. Überall nur Schatten, Grau in Grau. Vor ihr führte der Gehweg vor dem L-förmigen Zimmerkomplex vorbei. Links lag ein leerer Parkplatz. Sie drehte sich so, dass sie rechts das ausgerissene Tor sehen konnte.
Eine dunkle Gestalt kam vom Pool angelaufen. Der Schemen nahm das Tor, hob es vorsichtig aus dem Weg und lehnte es an die Mauer, dann ging der Werwolf auf alle viere und schlich wie ein Panther im Käfig hinauf zum Gehweg am Parkplatz. Während Robin zuschaute, fragte sie sich, ob diese zusätzliche Masse eine Folge der Transfiguration war – auch Theresas Schweinemonster war gut und gerne zehnmal schwerer gewesen als die eigentliche Frau. Diese Wolfsmenschen waren zweimal so groß wie ein durchschnittlicher Mann, hatten breite Schultern und eine sehr kräftige Brust.
»Die Schlampe muss doch irgendwo sein«, sagte draußen eine Stimme.
Ein Schatten schob sich durch das Mondlicht im Flurfenster. »Kann mir nicht vorstellen, dass sie nicht in dem Haus waren. Ich war sicher, sie wären dort oben und würden sich zitternd in die Hose machen.«
»Wahrscheinlich hat Tuco den Unfall verursacht. Dieser irre Scheißkerl lag unten bei Marinas Leiche.«
»Ist es also Tucos Schuld?«
»Sag ich nicht …«
»Na, er ist tot, daher …«, sagte ein Dritter.
»Ist mir so was von egal, wessen Schuld es ist. Santiago aber nicht. Er will dieses Mädchen und jeden von ihren Freunden, den wir hier in die Finger kriegen. Heute würde ich ihn lieber nicht verärgern. Wenn man Javi glauben will, hat er den President abgemurkst. Hat ihm das Gesicht vom Kopf gebissen. Einfach umgebracht.«
Kenway fluchte leise vor sich hin. »Gil hat’s erwischt.«
»Ja, verdammt verrückter Scheiß«, sagte einer der Wölfe.
»Mann, ich finde das Mist, wisst ihr?«, erwiderte ein anderer. »Ich mochte unseren President.«
»Er ist ein bisschen größenwahnsinnig geworden. Schließlich hat er diese Schlampe mit Marina entkommen lassen. Er hat es drauf angelegt.«
»Trotzdem …«
»Was ist eigentlich los hier?«, fragte einer der Biker.
»Was meinst du, Mann?«
»Dieser Werwolf-Mist. Ich verlier langsam den Verstand. Ist dieser Scheiß real? Ich fühle mich jedenfalls nicht real. Das Ganze ist doch echt crazy. Oder? Da sind wir doch einer Meinung?«
Sie versuchen, den Einfluss der Reliquie zu verinnerlichen, erkannte Robin. Sie suchen nach einer Erklärung für die kognitive Dissonanz und nach einer Logik dahinter – wie es ihr Gendreau erklärt hatte – , wenn sich ihre magisch-beeinflusste und ihre nicht-magisch-beeinflusste Seite vermengen und sie erkennen, dass …
»Dieser Mist ist gar nicht real, oder?«, fragte einer der Männer.
… die seltsamen Phänomene, die sie erleben, nicht blanker Zufall oder ein Fiebertraum oder eine Halluzination sind. Es ist das wahre Leben, diese Transformationen und traumartigen Fugue-Zustände passieren tatsächlich, und sie haben einen Auslöser.
»Fühlt sich an, als hätte ich die falschen Pillen genommen. Vor zwei Monaten habe ich eine tote Katze auf meiner Veranda gefunden; ich dachte, das war der Nachbarshund oder so. In meinen Träumen bin ich nackt in der Wüste rumgelaufen und habe Hasen und so was gejagt. Als ich aufwachte, hatte ich schmutzige Füße. In der Badewanne war Blut. Ist das also wirklich passiert? Alles?«
Einer der Schemen zuckte mit den Schultern.
»Du auch?«
»Woher kommt das bloß? Glaubt ihr, wir sind …«
»… echte Werwölfe?«
»Ja. Und nur Silber kann uns etwas anhaben?«
»Keine Ahnung. Ich glaube, mit dem Silber, das ist nur Hollywood-Schrott.«
Sie sind falsche Werwölfe, dachte Robin. Eine Kreation dieser Transfigurationsreliquie in Santiagos Motorrad. Dieser Kram aus dem Kino – Silberkugeln, Vollmond –, das greift hier nicht. Man kann sie mit Stahl töten. Sie sah zu Kenway hinüber und hatte das Gefühl, er stimme ihr schweigend zu.
»Ich würde ja Santi fragen, aber der Mann … der ist echt unheimlich, Alter. Ich möchte ihn ungern wütend machen, ja? Ich meine, weiß der überhaupt, was da los ist? Wodurch das verursacht wird?«
»Wenn, dann hat er jedenfalls noch kein Wort drüber fallen lassen.«
»Ist er überhaupt derjenige, der das macht?«
Einer lachte. »Mann, Santi ist ein harter Kerl und hat einiges drauf, aber er könnte einen Pisspott nicht leeren, wenn die Anleitung auf der Unterseite steht. Ich glaube nicht, dass der einen Schimmer von Schwarzer Magie hat.«
»Das würde ich ihn lieber nicht hören lassen.«
Aus dem Poolbereich war eine andere Stimme zu hören. »Hey, Donato. Was ist das hier im Pool? Hat das vorhin schon drin gelegen? Sieht aus, als wäre was reingefallen und da verreckt.« Bedeutungsvolle Pause. Robin hatte den gammeligen Gestank des Wassers im Pool noch in der Nase. »Scheiße, ey! Das ist José. Die Schlampe hat José umgebracht.«
»Das muss echt eine Rambo-Lady sein, Jungs«, sagte einer. »Zuerst Granaten, und jetzt sticht sie uns ab. Wer ist dieses Weib?«
»Santi wird voll angepisst sein. Und ihr wisst ja, Pisse läuft immer nach unten, Mann.«
»Deshalb braucht er es ja auch nicht unbedingt mitzukriegen.«
»Findet sie«, knurrte die Bestie.
»Hey, was habt ihr vor, Jungs?«, fragte ein anderer Biker, der sich zu ihnen gesellte. Dem Tappen nackter Füße nach war er nicht allein. »Im Haus ist niemand. Santi sagt, wir sollen über die Straße gehen und in der Wüste ausschwärmen und nach ihnen suchen. So nach dem Motto ›Menschenkette‹ oder so.«
»Ich denke, wir sollten hier im Motel weitersuchen.«
»Du tust, was ich dir sage«, fauchte Santiago. Er wirkte müde, seine Stimme war atemlos und heiser. »Los. Es sei denn, du willst so enden wie Gil.«
»Ja, okay, Mann.«
»Gut. Verflucht, hier draußen stinkt es. Der Pool riecht nach vergammelter Froschscheiße. Hidey, du gehst noch mal zum Wohnmobil, falls sie sich um uns herumgeschlichen haben.«
»Meinst du nicht, Max hätte sie gesehen?«
»Tu, was ich dir sage«, beharrte Santi. »Mann, mit euch ist das, als würde man einen Sack Flöhe hüten.« Schnick, schnick, schnick, das Geräusch eines Feuerzeugs. Santi zündete sich eine Zigarette an. »Weiß jemand, wo José steckt?«
»Er hat gesagt, er wolle pissen gehen.«
Es herrschte einen Moment Stille, dann blies Santi Rauch aus und sagte: »Warum hat er nicht einfach auf den Boden gepisst? Er ist ein Hund. So machen Hunde das.«
Wieder Schweigen.
»Dein Schulterzucken hilft mir auch nicht. Geh und such ihn, Arschloch.« Santi ging hinüber zum Parkplatz. »Ihr kommt mit mir mit. Wir suchten drüben auf der anderen Seite der Straße. Vielleicht sind sie nach Süden und versuchen, in den Hügeln einen Vorsprung zu gewinnen. Außerdem gibt es da viele Verstecke.«
Die anderen Männer folgten ihm und ließen den Parkplatz verlassen zurück.
»Ich denke, wir sollten den Hügel raufschleichen und uns in dem Haus verstecken, solange sie nicht hier sind«, murmelte Gendreau ein paar Minuten später.
Robins Freund kratzte sich den Bart, ein trockenes Raspeln im stillen Schatten.
Sie betrachtete Carlys leeren Blick. Das Mädchen schien von etwas auf der anderen Seite des Planeten gebannt zu sein. Robin winkte mit der Hand vor ihren Augen. Keine Reaktion. Sie tätschelte sanft ihr Gesicht, und diesmal schaute Carly in die andere Richtung, wälzte sich auf die Seite und krümmte sich in Embryohaltung zusammen. Okay, sie ist also nicht ganz weg. Sie dissoziiert nur.
»Gut«, sagte sie. »Los geht’s.«
Sie stand auf und zog den Stuhl unter dem Türgriff weg.
Erleichterung. Im ramponierten Wohnzimmer lauerte kein Wolfsmann im Hinterhalt. Sie überprüfte den Verschluss der Schrotflinte, führte die anderen heraus und legte den Zeigefinger an die Lippen, damit niemand einen Laut von sich gab. So schlichen die vier hinten hinaus und um den Poolbereich.
Zu dem Haus auf dem Hügel führte eine Treppe durch offenes Gelände, wo nur hier und da einige Büsche standen. Sie hatten hier keine Deckung von Bäumen und wurden zusätzlich vom kühlen blauen Mondlicht beschienen. Sie blickte über die Schulter und sah, wie Santis Ameisen sich durch die Wüste in Richtung des südlichen Horizonts vorarbeiteten. Taschenlampen und Feuerzeuge flackerten im Dunkeln.
Weil sie Angst hatte, an diesem kahlen Hang entdeckt zu werden, ging sie schneller, lief fast und hielt die Schrotflinte schussbereit. Der Griff des Tomahawks schlug an ihr Knie.
Vor zehn oder zwanzig Jahren war das Haus auf dem Hügel vielleicht hübsch gewesen, wenn auch ein wenig langweilig. Sehr zweckmäßig. Fast puritanisch. Vermutlich war es dem viktorianischen Stil nachempfunden, doch es fehlten jeder überflüssige Zierrat und jegliche Schnörkel. Einfach nur nüchterne Schindeln.
Dunkelheit erwartete sie oben an der Treppe; die Türen waren herausgerissen und in den Vorgarten geworfen worden. Robin legte die Schrotflinte an, schlich ins Haus und schwenkte die Waffe wie ein Cop hin und her. An den Sockelleisten waren alte Zeitschriften, Zeitungen und Romane zu unregelmäßigen Stapeln aufgetürmt. Gartenstühle in verschiedenen Zuständen der Abnutzung teilten sich den Platz mit ungefähr einem Dutzend Aquarien, die dankenswerterweise leer waren. Da die Werwölfe sie zertrümmert hatten, war der Boden mit Scherben übersät. Ein Tweed-Sofa war mit säuerlicher Pisse getränkt, ein Couchtisch in der Mitte zerschmettert. Wände waren mit obszönen Graffitis beschmiert. Darin klafften auch Löcher, durch die Robin in die benachbarten Räume sehen konnte.
Werkzeuge von einer Ranch waren angenagelt wie Dekorationen eines rustikalen Restaurants: Zaumzeug, eine Sense, Hufeisen, eine lange Baumsäge, Schneeschuhe, die aussahen wie hölzerne Tennisschläger. Darunter fanden sich auch ein paar Autoteile und Kennzeichen: Arizona. New Jersey. North Dakota. New Mexico.
Leere Schrauben in der Wand wiesen auf einen verschwundenen Gegenstand hin, der ungefähr so groß wie ein Frisbee gewesen sein musste.
Kenway kam hoch auf die Veranda und hielt Carly in den kräftigen Armen. Gendreau folgte ihm und sah immer müder aus.
Robin schaute aus dem Fenster.
Der Biker, der losgeschickt worden war, um José zu suchen, war zum Pool zurückgekehrt und zerrte die zottelige Werwolf-Leiche aus der blauen Grube.
Hinter ihr wandte sich Gendreau zur anderen Seite und las die Titel der vergilbten Taschenbücher mit seinem kleinen Licht. Stephen King, Nora Roberts, eine Sammlung von High-Fantasy aus den Neunzigern.
»Die haben Angst vor ihm«, sagte Robin.
»Angst davor, was er mit ihnen anstellt, wenn sie versagen.« Gendreau nahm einen der Koontz-Romane und versuchte, ihn aufzuschlagen, aber die Seiten waren zusammengeklebt. Er ließ das Buch wie eine heiße Kartoffel fallen und wischte sich die Hand an der Tapete ab. »Ich möchte nicht genauer wissen, was er mit dem armen Gil angestellt hat.« Der Magier seufzte und blickte hinauf zum ersten Stock, als suche er bei den Göttern Rat. »Wenn wir da raufkönnen, sollten wir uns vielleicht auf dem Dachboden verstecken.«
Gerahmte Fotografien hingen an den Wänden im Treppenhaus und zeigten ein älteres Paar, beide mit rosa Gleitsichtbrillen auf der Nase. Keins der Fotos wirkte neuer als 1995. Fotos von zwei Jungen und einem Mädchen.
Die Zimmer oben waren leer bis auf ein paar schäbige Matratzen, die ebenfalls von den Werwölfen vollgepisst worden waren. Dann gab es eine Sammlung ordentlich gestapelter Schuhkartons mit unterschiedlichstem Inhalt: Babygläschen voll von etwas, das aussah wie Laborpräparate in Formaldehyd, Stofftiere, USB-Sticks, zerbrochenes Porzellan. In einem anderen Zimmer gab es einen riesigen Stapel Kleiderbügel, und in nächsten waren die Wände mit Seiten aus Pornoheften tapeziert.
Gendreau betrat das Pornozimmer und wich zurück, als wäre er in ein Spinnennetz gelaufen. Er zog das Hemd über das Gesicht. »Mein Gott.«
Außer der unendlichen Nacktheit gab es hier nur einen schimmligen Karton in der Ecke. Als würde er den Besucher heranwinken, ragte der Arm einer Schaufensterpuppe heraus.
»Scheiße, nein«, sagte Robin und machte kehrt.
Einen Dachboden schien es nicht zu geben. Jedenfalls keine Leiter, um ihn zu erreichen. »Vermutlich wäre der auch nur mit solchem Kram vollgestellt wie der Rest des Hauses«, sagte der Curandeiro.
»Hey«, sagte Robin leise.
»Ja?«
»Ich hätte da eine Frage an Sie.«
»Raus damit«, sagte Gendreau und wischte sich Schweiß von der Stirn.
»Ich weiß nicht, ob das mit meinem Dämonenblut zusammenhängt, aber manchmal, wenn ich Dinge berühre – Reliquien oder auch scheinbar ganz normale Gegenstände – , habe ich eine blitzartige Vision von den Menschen, die sie zuletzt benutzt haben. Manchmal ist es nur ein Gefühl, so wie ein Schnappschuss ihres Seelenzustands. Dann wieder ist es ein ganzes Ereignis aus ihrem Leben, das vor mir vorbeizieht.« Robin zeigte auf den Ring, der an Gendreaus Finger glitzerte. »Als ich den Ring im Winnebago berührt habe, sah ich Sie und Rook zusammen in einem Raum, der aussah wie der Kartenkatalog einer Bibliothek. Ich glaube, es war der Tag, an dem sie Ihnen den Ring gegeben hat.«
Der Magier zuckte erschöpft zusammen, betrachtete seinen Finger und ließ die Hand wieder an seine Seite fallen. »Verrückt. Irgendwie cool, finde ich. Haben Sie mir schon mal erzählt, dass Sie dazu in der Lage sind? Ich kann mich nämlich gar nicht daran erinnern.«
»Es erschien mir nicht so wichtig. Geholfen hat es mir noch nie. Also gut, letztes Jahr habe ich dadurch herausgefunden, wie die Euchiss-Brüder Joel Ellis vergiftet haben, aber das war jetzt keine besonders wichtige Information. Diesmal war es anders.«
»Ach ja? Und zwar?«
»Sie haben Rook Haruko genannt«, sagte Robin.
Daraufhin sagte sie nichts mehr und überließ es Gendreau, das Schweigen zu brechen.
»Jetzt ist nicht gerade der beste Moment, darüber zu reden«, sagte er knapp, ließ sie stehen und ging einfach davon. Robin streckte die Hand aus und packte seine Schulter, und wie instinktiv entwand er sich ihrem Griff, hob die eigene Hand zum Schutz in die Höhe und schuf Abstand zwischen dem magieverschlingenden Dämon und seiner Reliquie.
»Sie ist Leons Frau, nicht?« Robin wich seinem Starren nicht aus. »Waynes Mutter. Sie glauben, sie sei an Krebs gestorben. Warum verstecken sie die Origo vor ihnen?«
»Darüber reden wir später, wenn wir gerade nicht um unser Leben laufen.« Der Magier wandte sich um und stieg die Treppe hinunter. »Aber ich sage Ihnen, wir haben einen sehr guten Grund dafür.«
»Das will ich auch hoffen.«
Entlang des oberen Randes des Küchenschranks waren ungefähr hundert leere Schnapsflaschen aufgereiht, die ihren Glanz verloren hatten. Auf der Arbeitsfläche hatten sich Müll und schmutzige Geräte gesammelt. Drei Kühlschränke standen offen, in jedem war etwas Ekliges zu fester Masse geronnen. Bierflaschen und Plastikverpackungen ragten aus der schwarzen Paste. Bei dem säuerlichen Pesthauch, der durch die feuchte Küche wallte, hätte ein Bigfoot kotzen müssen.
»Keller«, sagte Kenway und zeigte auf eine offene Tür. Gendreau leuchtete mit seiner Minitaschenlampe hinein und drückte sich sein Hemd auf das Gesicht wie ein Dandy aus Kolonialzeiten sein Seidentuch. Eine Treppe führte ins schwarze Nichts.
»Nach Ihnen«, sagte er und rückte Carly auf seinen Armen zurecht.
»Sie zuerst.«
»Sie haben die Lampe.«
»Uff.« Gendreau trabte abwärts, seine Silhouette schob sich durch den trüben weißen Schein die Treppe hinunter. Hölzerne Stufen knarrten unter seinen teuren italienischen Lederschuhen.
»Ich bleibe hier oben und halte Wache«, sagte Robin.
Kenway antwortete von irgendwo aus der Dunkelheit. »Ich lasse Carly hier unten bei David Blaine und komme mit dir nach oben.«
»David Blaine?«, fragte Gendreau.
»Bleib lieber da unten und beschütze sie, Babe.«
Kenway gab ein gedämpftes »Hä?« zurück.
»Dein Ego wird es überleben«, sagte Robin.
»Du solltest mich besser kennen, Lady. Ich lasse dich da oben nicht mit Teen Wolf allein.«
»Gottverdammt!« Robin schob sich an ihm vorbei. Die Stufen ächzten, knarrten und knackten, und ihre Hand glitt über das staubige, glatte Holz des Geländers. Gendreau stand in der Mitte des Kellers und leuchtete mit der Schlüsselbundlampe hin und her. »Bist du zufrieden, wenn ich mit nach unten komme?«
Der Lichtstrahl schweifte durch einen überraschend großen Kellerraum und eine weitere Sammlung von Unrat: ein dreckiger Tisch, auf dem nichts stand. Kisten mit Lumpen. Leere Farbdosen. Ein kalter Ofen. Eine fleckige Matratze. Zwei rote Kanister, die nach Benzin rochen. Eine Badewanne auf Füßen, voller grünem Zeug, das nach verbranntem Plastik roch.
»Hier unten stinkt es aber«, stellte sie fest.
»Was Sie nicht sagen.« Gendreau unterdrückte ein Würgen.
»Das dürfte unseren Geruch so gut überdecken wie das Wasser im Swimmingpool vorhin.«
Gendreau leuchtete Kenway ins Gesicht. »Mister, für die Sache mit David Blaine sind Sie mir eine Erklärung schuldig. Haben Sie schon einmal gesehen, wie ich einen Goldfisch verschluckt habe? Oder sehe ich etwa aus wie ein zweitklassiger Straßengaukler?«
»Huch! Da habe ich wohl einen empfindlichen Nerv getroffen.«
Unter der Treppe befand sich ein unfertiger Abstellraum aus ungestrichenem Holz. Spinnweben zwischen den Kanthölzern verhießen Spinnen, doch glücklicherweise erfüllte sich die Verheißung nicht. Die vier versteckten sich in der düsteren Nische, zogen die Tür zu, saßen blind da und ruhten sich aus. Und warteten. Und lauschten. Lauschten nach den verstohlenen Bewegungen eines suchenden Wolfsmannes oder einem weiteren wütenden Ausbruch irgendwo im Haus.
Aber sie hörten nichts. Nur das Heulen des Windes und die leisen, rastlosen Bewegungen des alten Hauses.
»Miss Martine?«, murmelte Gendreau.
»Ja?«
»Sie sollten Ihren Malus-Domestica-Kanal vielleicht in einen Podcast umbauen, Berichte, Erzählungen. Nicht so viel … Geschrei und Herumrennen und was nicht alles. Dazu ein nettes Gespräch. Ein richtig nettes Gespräch. Und eine Studiokatze mit einem lustigen Namen. Ploppschutz an den Mikros, hübsche Stühle und eine Cappuccino-Maschine.«
»Sie kennen mich doch. Ich rede nicht viel. Ich will was tun.«
Der Magier seufzte. »Dann brauchen wir einen Plan.«
»Exakt«, sagte Kenway. Sie konnte seinen Atem auf ihrer Wange spüren. »Irgendwelche Ideen, Mr. Zauberer?«
»Wir locken sie ins Haus und fackeln es ab«, schlug Robin vor.
»Zu gefährlich.«
»Gefährlicher, als von einem Rudel Werwölfe umgebracht zu werden?«
»Dabei kann zu leicht zu viel schiefgehen«, meinte Kenway. »Erstens könnte einer von uns in die eigene Falle geraten und im Haus gefangen sein. Und dann mit zugrunde gehen. Außerdem müssten wir sie alle auf einmal hereinbekommen.«
Eine Weile lang saßen sie, jeder für sich, einfach nur da. Sie wusste nicht, wie lange. Die Dunkelheit brachte ihr Zeitgefühl durcheinander. Es fühlte sich wie zehn Minuten an, es hätte aber auch leicht eine halbe Stunde sein können.
»Ich wollte Sie noch etwas fragen, Doc«, sagte Robin.
»Noch eine Frage, ja?«
»Herzensgute Muggels wie Sie können doch Magie benutzen, obwohl Sie keine Hexe sind? Ich dachte, die Kräfte werden direkt von Ereshkigal hergeleitet. In dieser Vision, die ich hatte, haben Sie gesagt, Sie könnten Ereshkigal hören.«
»Das ist von der Person, vom Anwender, abhängig«, sagte der Curandeiro und setzte sich in der Dunkelheit zurecht. »Wissen Sie, auch ein Embryo ist zunächst nur ein Stück genetischer Materie, bis an einem bestimmten Punkt die Hirntätigkeit die Materie zu einem menschlichen Wesen werden lässt. Teratome sind wie dieses vorembryonale Gewebe – zu dumm, um etwas zu wissen. Ereshkigal weiß genauer, wohin die Essenz geht, als Sie wissen, wohin Ihre Steuergelder verschwinden. Wenn ein Teratom allerdings eine bestimmte Reife erreicht und Empfindungsfähigkeit entwickelt, dann ist alles möglich. Aber sie weiß, dass es irgendwo hingeht. Sie schickt ein Wispern. Schutzmagie, besonders von Ereshkigal, hat ihren Preis. Wenn man sie zu viel oder zu intensiv benutzt, treibt sie den Anwender in den Wahnsinn. Der Austausch von Kräften öffnete einen Kommunikationsweg. Wann immer ein Herzweg entsteht, ist es, als würde man eine falsche Nummer wählen. Die Person am anderen Ende kann mit Ihnen reden, aber sie weiß nicht, mit wem sie spricht.«
»Wie Santiago?«
»Genau. Im Augenblick benimmt er sich wie ein außer Kontrolle geratener Hexenmeister. Wir sind damit betraut, unkontrollierte Reliquien wie sein Motorrad aus dem Verkehr zu ziehen.«
»Aber es gibt keine übernatürliche Anrufer-ID?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Embryos? Todesgöttinnen? Nicht gerade die Art von Thema, über die ich in einem dunklen Keller reden möchte«, sagte Kenway. »Vor allem nicht unter einem verlassenen Haus am Ende der Welt.«
Da ihre Frage beantwortet war, verstummte Robin wieder.
»Allein zu Haus!«, sagte sie ein paar Minuten später und erschreckte die beiden Männer.
»Was?«
»Allein zu Haus. Dieser Film Kevin – Allein zu Haus. In dem Macaulay Culkin diese beiden Räuber völlig fertigmacht«, erklärte sie. »Diese kleinen Überraschungen, die er für sie vorbereitet. Wir könnten doch auch ein paar Fallen aufstellen, oder? In die sie tappen, sobald sie durch die Tür kommen.«
Der Veteran schüttelte den Kopf. »Zu viele Eingänge. Nicht nur die zwei oder drei Türen, sondern auch noch acht bis zehn Fenster, und damit haben wir die im ersten Stock und die auf dem Dachboden noch nicht mitgerechnet …«
»Hexenfenster«, murmelte Robin.
»Was?«, fuhr Kenway auf. »Ernsthaft? Warum sagst du Hexenfenster dazu?«
»Das sind keine Hexenfenster«, erklärte Gendreau. »Hexenfenster sind schief eingesetzte Fenster, die halb zu einer Seite gekippt sind. In der Kolonialzeit glaubte man, die Neigung würde Hexen daran hindern, ins Haus zu gelangen.«
»Wie heißen sie dann? Gaubenfenster?«
»Gauben sind kleine Erker, die aus dem Dach ragen, wie Hundehütten. Die haben ja ihre eigenen kleinen Dächer.«
»Und was zum Teufel sind sie?«
Das Schulterzucken des Curandeiros raschelte in der dunklen Stille. »Dachfenster? Für die Lüftung?«
»Wen interessiert das eigentlich?«, fragte Kenway.
»Wieso wissen Sie so viel über Architektur?«, wollte Robin wissen.
»Weil ich aus einer Familie stamme, die immer in Häusern mit Giebeln und Gauben und solchen Dingen gewohnt hat.« Der Magier verzog das Gesicht. »Was fragen Sie mich? Sie sind in einem Haus im viktorianischen Pfefferkuchenstil aufgewachsen. Die bestehen zu, was, fünfundsechzig Prozent aus Giebeln.«
»Können wir vielleicht auf unseren Plan zurückkommen?«, warf Kenway ein.
Robin beugte sich über ihn hinweg. »Wie nennt man denn diese dünnen Metalldinger am Dach? Ich habe mal gesehen, wie eins davon Feuer spuckte wie ein Drache, in einer Nacht, nachdem ich eine Hexe oben in Colorado verbrannt habe. Die Spitze ist einfach weggeflogen, und das Feuer stieß in Blau und Rot heraus …«
Eine große, warme Hand legte sich über ihren Mund.
»Der Plan«, sagte Kenway. »Können wir uns dem wieder zuwenden? Sie könnten jede Minute hier sein.«
Sie nickte, und er ließ los.
»Allein zu Haus?«, fragte Gendreau. »Schaffen wir das?«
»Wie ich schon sagte, zu viele Eingangsmöglichkeiten, nicht genug Material. Ich habe nur zwei Bärenfallen an der Wand gesehen, und sonst ist da oben nichts in einem Zustand, in dem man es für eine Falle verwenden könnte – selbst wenn wir wüssten, wie wir Fallen daraus bauen könnten. Außerdem sehe ich nicht, wie man mit solchem Kram eine Monstermiliz aufhalten kann.«
»Und?«, fragte Robin. »Können wir uns nur verstecken? Und warten?«
»Vielleicht. Ich weiß nicht. Deshalb dachte ich ja, ein Brainstorming könnte helfen.«
»Warten auf den Tod?«, fragte Gendreau.
»Ich glaube kaum«, sagte Robin. Sie kippte die Schrotflinte auf, überprüfte die Munition und schlug sie wieder zu. Klick.
Nach einer langen Diskussion ohne Ergebnis schliefen sie ein.
Das heißt alle bis auf eine. Sie schliefen auf diese eigentümliche Weise ein, wie es Menschen tun, wenn sie in einer aussichtslosen Situation sind, in der die Panik heranschleicht; wie ein Kind, das einschlafen kann, wenn es sich unter seiner Decke versteckt hat, obwohl es weiß, dass unter dem Bett das schreckliche Monster lauert. Und am Morgen wacht es auf und hat die Bedrohungen der Nacht vergessen.
Robin war diejenige, die jetzt nicht schlief vor Aufregung und Sorge. Sie hatte die Knie angezogen, die Hände vor dem Bauch gefaltet und sich an den mächtigen Leib ihres Freundes geschmiegt.
Um keine Geräusche zu erzeugen, atmete sie durch den Mund. Lauschte nach Eindringlingen. Sie wollte schlafen. Ihre Augen brannten. Aber …
Aber …
Lausche.
Gerüche rangen in dem beengten Raum miteinander. Kenways männlicher Schweiß; der stille Moder des seit Langem nicht benutzten Abstellraums; der exotische Hauch von Gendreaus Eau de Cologne; der ständig lauernde Geruch nach verfaulten Eiern, der von Robins schwefeliger Dämonenhälfte rührte, die nur darauf wartete, wüten und töten zu dürfen. Ihre eigene dunkle Seite.
Was war notwendig, um die Verwandlung erneut auszulösen? Würde man ihr den Arm abbeißen müssen, wie die Schweinshexe Theresa es getan hatte? Gab es eine andere Methode, diese Seite in ihr zum Vorschein zu bringen? (Hier rief eine Stimme in ihrem Kopf die Innenseite nach außen kehren, als sei sie eine Handpuppe, die mit dem Samt der Ketzerei gesäumt war, wobei sie schreckliche Bilder vor ihrem inneren Auge sah, als sie an das fürchterliche Wort Abscherung denken musste.) War die Berührung durch einen anderen Dämon notwendig, so wie beim letzten Mal? Oder musste sie – bitte nicht – ihren Vater noch einmal anfassen?
Sie fragte sich, ob sie die Dämonenseite diesmal kontrollieren konnte.
Als sie sich beim ersten Mal in dieses Ding aus der Anderswelt verwandelt hatte, in diese düstere, hölzerne Kreatur, war es eine langsame, allmähliche Veränderung gewesen. Sie hatte Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen, so gut man sich eben an eine hautlose Schlange als Arm und Holz als Haut gewöhnen kann.
Ihre Haut war tatsächlich wie grünliches Holz gewesen, so wie bei ihrem Dämonenvater, und überzogen mit roten Borstenhaaren. Das gleiche Grün wie im Haus ihrer Kindheit. Ihr Dämonen-Ich war entstanden – oder hatte sich selbst entstehen lassen – aus der Vertäfelung und den Bodenbrettern von Waynes Albtraumhaus, Andras’ heruntergekommenem Gefängnis, dem alten viktorianischen Haus, das nur noch in Robins Kindheitserinnerungen existierte. 1168. Ihre zweite Chance hatte sich aus einem Trauma entwickelt. Sie war aus Schmerz entstanden.
Funktionierte so ihre Dämonenseite? Baute sie sich ihren Körper aus der jeweiligen Umgebung? Erstand sie neu aus den Trümmern des Traumas?
Sie seufzte. Rieb sich die Augen. Bohrte sich die Fingernägel ins Gesicht, damit sie wach blieb, zumindest die abgekauten Reste, die davon übrig waren. Die rauen Kanten hinterließen feine Spuren.
Lausche.
Holz als Haut. Das wäre im Augenblick ziemlich praktisch gegen diese schrecklichen Krallen und Zähne dort draußen in der Nacht.
»Robin?«
Ihr Kopf fuhr herum, als sie aus dem Schlaf hochschreckte. Sie war eingedöst. Während sie die Dunkelheit absuchte, hörte sie ihren Namen erneut.
»Doc?«
»Ich bin hier«, sagte Gendreau. »Sie haben im Schlaf gesprochen.«
Sie holte den Osdathregar hervor und hielt ihn mit beiden Händen. Die Spitze des Dolchs hatte ein Loch in ihre Jeans gebohrt, und der kalte Kellerboden drückte seine feuchte Nase an ihre linke Pobacke. »Was habe ich gesagt?« Sie richtete sich auf und streckte sich, um die Verspannungen in Beinen und Hüften zu lösen, dann legte sie den Dolch quer über ihre Schenkel.
»Irgendetwas über Haut. Sehr unheimlich.«
»Tut mir leid.«
Sie wartete.
Nach einer Weile murmelte Gendreau: »Haruko ist Leons Frau, ja. Wir kannten ihre Kunstfertigkeit durch ihre Etsy-Seite. Im Krankenhaus sind wir an sie herangetreten und haben ihr einen Deal vorgeschlagen – wir heilen ihren Krebs, und im Austausch dafür arbeitet sie bei den Hunden des Odysseus als Verwalterin und Wächterin. Aber ihre Familie konnte sie nicht mitnehmen. Deshalb ist sie offiziell an der Krankheit gestorben.«
»Und ich habe gedacht, ich wäre ein Arschloch.«
»Haruko hat die Entscheidung aus eigenem Willen getroffen. Wir haben ihr lediglich die Tür aufgemacht. Sie ist diejenige, die hindurchgegangen ist.«
»Beschissene Auswahl. Ergib dich oder stirb, wie?«
»Ich hatte damit nichts zu tun.« Im engen Abstellraum konnte sie seine Stimme kaum hören.
»Ich könnte den Parkins ja sagen, dass sie noch lebt.«
»Meinen Sie nicht, das ist eher Harukos Sache? Vielleicht sollten Sie erst mit ihr sprechen, ehe Sie übereilt handeln.«
»Der Junge braucht seine Mutter.«
Gendreau wechselte das Thema. »Apropos Mutter, wie sind Marina und Carly eigentlich in Ihrem Wagen gelandet? Das ist ja schon ein ziemlich großer Zufall.«
»Ich habe die Neigung, solche Situationen anzuziehen, oder besser gesagt, sie ziehen mich an«, antwortete sie. »Das ist mir schon passiert, ehe ich zum Dämon geworden bin. Andras hat wohl immer in mir gesteckt, schätze ich, obwohl ich es nicht wusste, und nach dem, was ich inzwischen erfahren habe, haben Dämonen ein fast magnetisches Anziehungsverhalten zu Dingen, die … die verloren wurden oder verborgen sind, oder zu Menschen, die in der Scheiße sitzen. Ich denke, deshalb bin ich immer zur rechten Zeit am rechten Ort.«
»Ein Problem-Magnet«, spöttelte der Magier amüsiert. »Wahrscheinlich ist das der Grund, warum der Teufel in den alten Geschichten auftaucht, puff, wenn jemand einen Deal braucht? Der Gehörnte scheint immer genau dort zu sein, wo es sich für ihn auszahlt.«
»Wohl eher dort, wo er gebraucht wird.«
Sie wartete, aber er sagte nichts mehr. Die Zeit zog sich dahin, die Sekunden verstrichen, und dann hörte sie ein Schnarchen aus Gendreaus Richtung.
Robin drückte sich die Fäuste in die Augen.
Lausche, sagte ihr schwarzäugiges Dämonen-Ich im Badezimmerspiegel. Lausche, Mädchen, wach auf und lausche. Musst du dich wieder mit heißem Wasser verbrennen?
Keine Geräusche außer Atmen und den Nachtlauten der Wüste. Ein schwaches Insektensummen näherte sich beharrlich metallisch von irgendwo hinter dem Haus, und von Zeit zu Zeit wehte der Wind Sand gegen das Fenster neben dem Abstellraum. Sie legte den Kopf schief und lauschte Kenways säuselndem Atem. Sein Körper bewegte sich mit jedem Zug an sie heran und wieder zurück.
Kein Wasser in der Wüste.
Ich kann es herbeiführen, sagte ihr Dämonen-Ich. Ich steche dir mit deinem Dolch da ins Bein. Oder ich schieße eine Ladung Schrot in die Decke und erschrecke alle zu Tode. Dann kommst du vielleicht endlich aus dem Quark.
Nein, sagte sie zu der Frau mit den irren Augen, die sie im Spiegel des Motelbadezimmers gesehen hatte, das lockt die Wölfe an.
Wäre das so schlecht? Vielleicht sollten sie endlich ihren Arsch herbewegen, damit wir die Sache zu Ende bringen können. Ihr Dämonen-Ich grinste. Die Augen waren grüne Lämpchen. Scheiß drauf. Scheiß drauf. Du stehst auf Kämpfen, oder? Dann lass uns gegen sie kämpfen. Danach kannst du von deinem Kampf-High runterkommen wie früher auch – ein bisschen an dir rumfummeln, es dir selbst besorgen, die Füße aus dem Fenster des Lieferwagens stecken, rauchen und ein Bier dazu trinken. Was hältst du davon? Es ist ganz schön lange her.
Sie betrachteten einander, die Tochter der gottesfürchtigen Frau und die Tochter des Dämons. Zwei grüne Punkte leuchteten im Schatten, blinzelten nicht, bewegten sich nicht. Wer von beiden war sie? Sie wusste es nicht mehr.
Diese Person bin ich nicht mehr, sagte Robin schließlich. Ich bin nicht du.
Bist du sicher? Du glaubst, dieser Mann hat dich geheilt? Ihr habt euch gegenseitig gerettet? Die Dämonentochter lachte. Du bist wirklich so dumm, wie du aussiehst.
Nach und nach kroch eine beklemmende Kälte in den Abstellraum, als das Adrenalin aus ihrem Körper verschwand. Nicht einmal Kenways Körper konnte sie wieder aufwärmen. Sie wachte gerade lange genug auf, um zu bemerken, dass sie geschlafen hatte, dann schloss sie die Augen.