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Bist du real oder nicht?« Ihre Stimme kam vom anderen Ende des Gebäudes. Santiago saß in der Ecke eines dunklen Raums. Sonnenlicht schien durch ein Fenster auf seine Beine, aber es wärmte nicht, wirkte eher kalt, hoffnungslos, wie aus den Filmen über den Zweiten Weltkrieg, die er früher mit Guillermo geguckt hatte, als er Marina noch nicht kannte und ehe er Road Captain geworden war.

Bin ich real?, dachte er und starrte auf die Wände, die Decke, den Boden, den Himmel. Er umklammerte die Wunde an seiner Seite und riss sich zusammen, damit er sich nicht übergab. Sein Blick fiel überall zugleich hin, war zwischen fünfzig Augen aufgeteilt, als würde er eine ganze Wand voller Überwachungskameras vor sich haben, die alle in verschiedenen Winkeln auf den gleichen Raum gerichtet waren, manche in Schwarz-Weiß, andere in grellem Infrarot und einige mit so körnigem Wischeffekt, dass ihm übel davon wurde. Er war nicht hungrig, aber er wusste, dass er töten musste, jedes Ich von ihm musste töten, weil ihn jemand wollte, ein Jäger, der es darauf anlegte, sein Leben zu beenden, und er musste weitermachen. Er musste für Carly weitermachen – oder hieß sie Charlie? Und er musste für die Jungfrau Maria weitermachen.

La Reina. Seine Hotline zum Göttlichen. Er würde sie wieder zusammenbauen. Der Benzintank – er konnte ihn wieder dransetzen. Danach wäre sie genau wie vorher. Aber zuerst musste er in Sicherheit sein. Sicher sein. Danach konnte er sie reparieren.

Santi.

Irgendwie schien sich der Benzintank in seinem Körper eingenistet zu haben und in seiner Mitte zu sitzen wie eine riesige Chromleber, während seine anderen Ichs hervortraten. Die Schemen reduzierten seine Festigkeit, riefen eine Nachgiebigkeit des Fleisches hervor, und so war der große Metalltank durch die Haut eingedrungen wie ein Spermium in eine Eizelle.

Santiago.

Er hockte in dem beengten Raum und schaffte es, still zu bleiben, obwohl tausend Münder am liebsten gleichzeitig geblökt und geschrien und gebrüllt hätten. Sich zusammenzuhalten und zu schweigen war so anstrengend, wie Fliegen zu überreden, in eine Flasche zu krabbeln.

SANTIAGO!

Die Stimme ließ ihn zusammenzucken. Santiago schaute aus dem Fenster, doch er sah niemanden. »Was?«, versuchte er zu sagen, doch seine Münder wollten nicht kooperieren.

Sie ist da draußen. Sie ist deinetwegen hier. Keine Zeit für eine Pause. Du musst kämpfen.

Kämpfen? Gegen wen? Die Wunde, die ihm das Mädchen zugefügt hatte, schmerzte heftig. Es war kein tiefer Schnitt, kaum ernsthaft, aber er tat weh. Als hätte sie ein Messer benutzt, das über einem Feuer zum Glühen gebracht worden war, heiß wie die Sonne. Von dem Schnitt breitete sich langsam eine Frostbeule aus.

Warum tust du mir so weh? Ist es nicht deine Kraft? Kommt das nicht von dir, von demselben Ort, wo diese Kraft herstammt, die ich besitze?

Nein, diese ist anders. Diese stammt nicht von mir.

Von wem dann?

Von ihnen.

Wer sind »sie«?

Das spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass du kämpfst, Santiago. Du kämpfst um dein Leben. Unser Leben. Heute kämpfst du für uns beide. Lass nicht zu, dass sie mich tötet, Santiago. Lass nicht zu, dass sie mich noch einmal tötet.

Wer ist sie?

Robin, sagte die Jungfrau Maria, die mich einst verbrannt hat und die du wiederum im Haus in der Wüste verbrannt hast. Die mit der Klinge des reinigenden Lichts, der Klinge, die vor so langer Zeit von einer Lanze gebrochen wurde, der Lanze, die …

Das Mädchen, das ich verbrannt habe? Die sie Robin nennen? Sie lebt noch?

Ja.

Was zum Teufel ist mit ihr passiert? Die schwarze Haut, die Hörner …

Sie ist eine von ihnen, diesen Kreaturen aus dem Nichts, in dem ich hausen muss. Die Dökkálfar, die Se’irim, die Rabisu. Ich treibe in ihrer Welt des schwarzen Nichts dahin, in ihrer Wüste der Pein, und suche nach Sicherheit. Sie umzingeln mich, spüren mich auf wie Haie. Sie jagen mich mit kalten Augen und dreisten Zähnen und wollen mich bei lebendigem Leibe fressen, mir alles Leben nehmen. So lange schon verberge ich mich vor ihnen. Wer stellt einer Königin nach? Wer stellt einer Göttin nach? Und nun jagen sie mich auch in der Welt der Lebenden. Kein Reich ist sicher.

Wie hat sie überlebt?

Wenn sie dabei sterben, unschuldige Menschen zu beschützen, und wenn sie ihr eigenes Leben für ein anderes opfern, darf sich das Ungeziefer frei in der sanktifizierten Welt bewegen und erhält die Chance, dem Weißen zu dienen. Sie ist der erste Rabisu seit zweitausend Jahren, der aufgestiegen ist. Der letzte war Christus daselbst, dieser verschlagene Cambion, der sich im Namen aller Menschen opferte, um die Sanktifikation zu errichten und uns in alle Ewigkeit die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Er hat sein Leben gegeben, um die Verbindung zwischen deiner Welt und meiner Welt zu kappen, und dadurch hat er sich selbst zum Teil des Weißen gemacht.

Unseren Plan können wir wohl jetzt vergessen, was?

Ja, ich fürchte, schon. Meine Wiederauferstehung muss irgendwie ohne deinen Schutz stattfinden. Sie werden mich ganz sicher finden; sie werden mich finden und aus deiner Tochter schneiden und mich zermalmen, wenn du sie nicht daran hindern kannst. Töte sie, Santiago. Töte den Halbdämonen Robin und dann töte sie alle, diese diebischen Magier, ehe sie mich finden und herausreißen, wie sie mich schon so oft aus so vielen anderen unschuldigen Frauen herausgerissen haben.

Bald wird Carly in der Lage sein, sich selbst zu beschützen, aber bis dahin brauche ich deine Hilfe. Ich brauche deinen Schutz. Sie braucht deinen Schutz.

Sie dürfen mich nicht finden.

Töte sie.

Ja, meine Liebe. Ja, Jungfrau Maria. Ja, mein Herz und mein Feuer. Wir werden sie töten. Wir schlitzen die Jäger auf und verstreuen ihre Gedärme über hundert Meilen im Sand. Robin Martine soll schreiend in dein Reich eingehen.