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Gegenwart

Rote Ziffern schwebten über dem Nachttisch und sprangen um auf 12:04. Robin schreckte wieder einmal aus einem Traum über die Wüste und ihre Ausbildung bei Heinrich hoch. Sie saß kerzengerade im Bett. Du musst bereit sein, sie zu töten, bevor sie dich umbringen, hallte seine Phantomstimme durch die Jahre wie die Lachsalven einer Sitcom von einem längst verstorbenen Publikum.

Graues Licht flackerte über runde Formen. Sie waren eingeschlafen, während der Fernseher noch lief und leise Unsinn vor sich hin blubberte.

Dauerwerbesendung. Robin zappte durch die Sender, bis sie eine Art Cartoon gefunden hatte. Sie stieg aus dem Bett und zog sich ein T-Shirt über. Dann nahm sie einen Frozen Yogurt (wie sich herausstellte Erdnussbutter-Karamell) aus dem Minikühlschrank und setzte sich vor dem Bett auf den Boden, starrte auf den Fernseher und beachtete ihn eigentlich gar nicht, aß Joghurt mit einem Plastiklöffel und wischte sich gelegentlich die Augen mit dem Handrücken.

Als sie fertig war, stellte sie den leeren Becher leise in den Abfalleimer, denn sie wollte Kenway nicht wecken, legte sich wieder ins Bett und starrte an die Decke, wo der Fernseher eigenartige Schatten auf den glatten Gips warf. Schließlich stand sie auf und dachte daran, nach draußen zu gehen, vielleicht, um eine Zigarette zu rauchen. Eine Zigarette wäre genau das Richtige gewesen, aber sie hatten beide vor einer Ewigkeit aufgehört. Jetzt wieder anzufangen lohnte sich auch nicht.

Vielleicht etwas Wasser. Wenn sie ein bisschen Wasser trank, würde sie sich besser fühlen. Das ging ihr immer so, wenn sie zu viel Süßes gegessen hatte.

Das Licht im Badezimmer brannte, doch die Tür war fast geschlossen, stand nur einen winzigen Spalt offen. Sie hatte das Licht angelassen, damit sie etwas sehen konnte, wenn sie in der Nacht aufstehen würde, so wie es ja gekommen war. Sie öffnete die Tür und bemerkte, dass jemand in dem gemeinsamen Badezimmer stand.

Über das Waschbecken gebeugt stand eine blasse, gertenschlanke Frau mit umgewickeltem Handtuch, begutachtete ihr Gesicht im beschlagenen Spiegel und suchte mit den Fingern darin herum. Vielleicht drückte sie einen Pickel aus. Auf der Schulter befand sich wie ein Brandzeichen eine Algiz-Tätowierung, ein Y mit einem zusätzlichen Strich in der Mitte.

Funkelnde meergrüne Augen. Das Spiegelbild der Frau blickte sie überrascht an.

»Oh!«, entfuhr es Robin, und sie schlug die Tür zu.

Ihr Herz klopfte. »Tut mir leid«, sagte sie und bemerkte plötzlich den frischen Farbgeruch der Badezimmertür. »Ich wusste nicht, dass jemand drin ist.«

Die Fremde war ihr irgendwie bekannt vorgekommen. Der kurze Blick auf sie hatte sich für einen Moment in Robins inneres Auge eingebrannt, ein kräftiges, grelles Bild, und dann erinnerte sie sich an den rosa Strich an der Kehle der Frau. Und jetzt im Nachhinein fiel ihr auch der rubinrote Ring am linken Zeigefinger auf.

Augenblick, was …

»Ist schon in Ordnung, Miss Martine«, sagte eine leise Stimme von drinnen. »Ich komme gerade aus der Dusche. Ich hätte abschließen sollen, aber ich dachte, Sie schlafen.« Die Tür ging auf, und im Spalt erschien Anders Gendreau in einem alten Unterhemd und einer Jogginghose. Robin war zu nichts anderem fähig, sie stand einfach nur da und verschränkte die Arme, als stehe sie im Schnee vor einer Haustür. Gendreau starrte auf den Teppich. »Ich warte immer bis spät nachts, ehe ich dusche, damit niemand, äh …«

Sie starrten sich ein paar Sekunden lang an. Der Magier stand von hinten beleuchtet da und ließ die Hände verlegen nach unten wandern, als wisse er nicht, was er damit anfangen sollte.

Narben von Brustamputationen, rosa Linien, waren dort zu erkennen, wo sein Unterhemd die Haut nicht bedeckte. Robin wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Ihr kam der Gedanke, ihn zu umarmen oder ihm ein Kompliment zu machen oder ihm zu sagen, wie sehr sie ihn liebte (und das tat sie in diesem Moment wirklich, wenn auch nur platonisch – denn wie konnte man so eine sanfte, steife, einzigartige Vogelscheuche nicht lieben?), aber alles erschien ihr unangemessen, darum machte sie das Erste, was ihr in den Sinn kam, und entschuldigte sich noch einmal.

»Tut mir leid.«

»Ist schon in Ordnung.« Gendreau trat zurück ins Badezimmer und fuhr mit der Untersuchung seines Gesichts fort.

»Danke für den Frozen Yogurt.«

Gendreau lächelte sie matt an. »Gern geschehen.«

Sie zeigte auf das Waschbecken. »Kann ich mir ein bisschen Wasser nehmen?«

»Aber natürlich.«

Robin kam ins Badezimmer und trank gleich aus dem Hahn.

Als sie sich aufrichtete, wurde Gendreaus Gesichtsausdruck milde. »Haben Sie geweint?« Im Spiegel sah Robin die roten Ränder um ihre Augen, das Weiße war rosa.

»Nicht der Rede wert.«

»Doch, es ist der Rede wert.« Eine von Gendreaus langen, geschickten Händen fand den Weg auf ihre Schulter, und er blickte an Robin vorbei auf die schlafende Gestalt auf dem Bett.

»Nein, mit ihm hat es absolut nichts zu tun«, sagte Robin. »Kenny ist ein Teddybär.«

»Oh. Waren es die Träume, von denen Sie erzählt haben?«

»Ja.«

Gendreau zuckte, als wollte er die Hand zurückziehen, ließ sie jedoch liegen, noch einige Sekunden lang, bis er an sich hinunterblickte, als wollte er nachschauen, ob sein Körper noch da war.

»Wacht er nicht auf, wenn wir reden?«

»Kenway?« Die Gestalt auf dem Bett lag reglos da, nur der Oberkörper schwoll mit der Atmung sanft an und ab. »Nein«, sagte Robin. »Der Kerl würde weiterschlafen, auch wenn wir hier eine Schießerei veranstalten oder jemand neben ihm Pauke übt.«

Der Curandeiro putzte sich die Zähne. Als er fertig war, schüttelte er das Wasser aus der Zahnbürste, spülte den Mund aus und lächelte sie verlegen an. »So, dann trennen sich unsere Wege wohl jetzt. Gute Nacht, Miss Martine. Hoffentlich fühlen Sie sich ein bisschen besser und haben vor allem angenehmere Träume. Sie wissen ja, wo ich bin, falls Sie jemanden zum Reden brauchen.«

»Heute Nacht werde ich wohl nicht mehr schlafen.«

»Wie schade«, sagte Gendreau. »Überstehen Sie dann den morgigen Tag?«

»Ich hege eine enge Freundschaft mit dem Kaffee.« Robin hielt ihre Hände vor sich und schüttelte sie, als würde sie bibbern. »Vermutlich bestehe ich schon zu achtzig Prozent aus Kaffeebohnen. Außerdem bin ich es gewohnt, mit einem Minimum an Schlaf auszukommen. Das ist nichts Besonderes für mich.«

Der Magier zuckte mit den Schultern. »Soll ich Sie wachrütteln, wenn Sie einnicken?«

»Das wäre überaus freundlich.«

Gendreau lachte. »Schlafen Sie gut.«

»Sie auch.«

Gendreau blieb in der Tür stehen.

»Mein Geburtsname ist Irene«, sagte er und schloss die Augen. »Nur mein Großvater Francis, Asha und Ha…«

Er korrigierte sich. »… und vielleicht einer der anderen weiß es … und jetzt auch Sie. Ich habe meinen Namen in Anders geändert, als ich achtzehn geworden bin. Mit Testosteron habe ich vor fünf Jahren angefangen.« Er öffnete die Augen und sah sich im Spiegel an. Ich meine, ich mache eigentlich kein Geheimnis aus meiner Umwandlung, aber ich hänge es auch nicht an die große Glocke.«

»Ich verrate niemandem etwas.« Ha…?, dachte Robin. Ha…, wer?

Der Magier ging in seine Suite und schloss die Tür.

Also gut, Gandalf, behalte deine Geheimnisse für dich.

Nachdem er gegangen war, lehnte sich Robin an den Waschtisch und gestattete sich, ihre emotionale Maske und ihre Schutzschilde abzunehmen. Sie beugte sich über das Becken bis wenige Zentimeter vor dem Hahn. Sie ließ das kalte Wasser laufen und trank es aus dem Strahl.

Sie betrachtete sich im Badezimmerspiegel, während das Wasser heiß wurde und Dampf aus dem Becken aufstieg. Als sie den Dunst vom Glas wischte, konnte sie ihr Gesicht sehen – verschwitztes Haar, blasse Haut, bonbonrosa Augen. Einen Moment lang sah es wegen des Kondenswassers, das links herablief, so aus, als wäre ihr linker Arm wieder amputiert. Sie schnappte instinktiv nach Luft.

»Gottverflucht«, flüsterte sie angestrengt. Sie strich über den Spiegel und wischte die Illusion weg.

Ihre Reflexion blickte sie aus dem dunstigen Loch an und sagte zur Abwechslung mal nichts.

Irgendetwas übernahm in ihrem System – der Schreck? Die Erleichterung? Sie war nicht ganz sicher. Als sie sich aufrichtete, durchlief sie ein heftiges Zittern – ein tektonisches Beben, das in den Knien begann, durch den Bauch ging, die Lunge zusammendrückte und den Atem aus ihr heraustrieb. Sie drückte ihre Fäuste in die Augen, bis sie helle Pünktchen sah. Sie biss die Zähne zusammen, bis der Kiefer schmerzte. Du schaffst das, sagte eine Stimme in ihr. Steh auf. Schüttle es ab. Reiß dich zusammen.

Ihr Herz pochte in der engen Brust und wollte raus. Plötzlich war sie zu groß für ihre eigene Haut. Es fühlte sich an, als würde ein kleiner Pikser genügen, damit sie in tausend Teile zersprang.

Adrenalin wurde in ihren Körper gepumpt. Robin stützte sich auf den Waschtisch und atmete tief und ruhig durch die Nase.

Als das Wasser heiß war, tauchte sie ihre Hände hinein. Augenblicklich fühlte sich das brühheiße Wasser an, als würde es sich durch beide Hände fressen, quälend langsam wie Säure. Der Schmerz entfachte ihre Wut, machte ihr Mut, dämpfte die Angst und vertrieb die Erinnerungen an Hexen mit glühenden Augen, die sie im Dunkeln geifernd durch verkommene Häuser jagten, um sie in Stücke zu reißen und zu fressen. Innere Bilder ihres Gesichts aus Draht und Zwirn, wie es grün flammend durch die Verliese des Düsterhauses wandelte. Das Gefühl, wie der Monstereber Knochen brach, Muskeln zerriss und ihren Arm am Stück verschlang. Blut strömte davon. Menschen strömten davon.

Sie stand da, ließ das heiße Wasser über ihre Hände laufen, bis sie brannten, und dann wich sie benommen zurück und setzte sich auf die Kante der Badewanne, spannte die Bizepse an und drückte die Schenkel zusammen, bis der Schmerz in den Händen nachließ.

Ich kann dich dazu bringen, alles zu tun, auf jeden Berg zu steigen, durch jedes Meer zu schwimmen, sagte Heinrichs Phantom in ihrem Kopf. Ich muss dich nur richtig verärgern.

Schmerz. Schmerz verärgerte sie.

»Töte sie alle«, knurrte sie vor sich hin und starrte in ihre verschmierten dunklen Mascara-Augen auf dem Badezimmerspiegel. »Töte sie alle. Verbrenne sie zu Asche. Alle Hexen. Das wirst du doch tun, oder? Du läufst nicht weg, du Feigling. Oder doch?«

»Nein«, flüsterte das Mädchen mit dem bleichen Gesicht im Spiegel.

Die waschbärenäugige Walküre schlug sich auf die Brust, einmal, wie ein Gorilla, und zwar mit ihrem neuen Arm. Dumpfer Schmerz schoss durch den Muskel. Sie schlug erneut zu. »Du läufst nicht weg, oder?«

»Nein, Ma’am«, wiederholte das Mädchen im Spiegel etwas zuversichtlicher.

»Gut.« Robin stand auf und blickte ihr Spiegelbild mürrisch an. »Dann wollen wir mal«, sagte sie, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und drehte den Wasserhahn ab.

Als sie ging, seufzte Gendreau. Er hatte sich an die Tür in seiner Suite gelehnt und aufmerksam gelauscht. Nun warf er sein Unterhemd in seinen offenen Koffer, stand vor dem Spiegel in seinem Zimmer, dem über dem Schreibtisch, und betrachtete die okkulten Tätowierungen auf seinem Oberkörper.

Der Magier wisperte eine Litanei isländischer Wörter und strich über die Badezimmertür, und kurz flimmerte ein Licht über die frische Farbe. Dann wiederholte er das Gleiche an der Eingangstür. Nachdem er seine Schutzsigillen angebracht hatte, sah er in Richtung der Nachbarsuite und stieg ins Bett.

In der Dunkelheit von Robins Computertasche wurde der Osdathregar warm.