13

Santiago kam an, Los Cambiantes im Schlepptau – zwei Dutzend Männer, manche zu zweit auf einer Maschine. Schrotgewehre ragten aus Satteltaschen, und die Hälfte der Mitglieder trug Pistolen.

Monica machte sich nicht die Mühe, ihm entgegenzugehen. Thomas hinter der Bar sagte kein Wort, als Santi die Toiletten und die Küche und schließlich das Büro checkte. Der Besitzer, Aaron Fuentes, hatte seine Manager-Pflichten bereits vormittags erfüllt, doch selbst wenn er anwesend gewesen wäre, hätte er sich Santi nicht in den Weg gestellt. Nicht, solange Los Cambiantes Schutzgeld von ihm erpressten.

»Wo ist er?«, knurrte Santiago die Kellnerin leise an.

»Gil?«

»Nein, Walter Wally, du verdammte Gummipuppe. Gil Delgado, wo ist er hin?«

Monica drückte ihren Block vor die Brust wie einen Schild. »Er ist mit diesen Leuten rausgegangen, die vorhin da waren. Sie haben Essen bestellt, aber nachdem Gil mit ihnen geredet hat, sind sie abgehauen, bevor ich serviert hatte.«

»Was ist mit Joaquin?«

»Der ist vor ihnen rausgegangen.«

»Waren meine Frau und meine Tochter bei ihnen?«

Lügen war sinnlos. Santi würde es sofort rausbekommen. Monica ballte die Hände zu Fäusten. »Ich habe gedacht, es wären irgendwelche Freunde auf Besuch oder so. Nicht?«

»Hast du gesehen, wo sie hingefahren sind?«

»Nein, ich war ja nicht draußen.«

Santiago widerstand dem Drang, sie mit einem Judowurf über die Theke zu schleudern, und steuerte wieder nach draußen in die Mittagshitze. Er trug ein weißes T-Shirt, an dem die Ärmel abgerissen waren, sodass man seine braunen Schultern sehen konnte. Die anzüglich grinsende texanische Sonne ließ seinen Hals wie geschmolzenes Gold wirken.

Tuco und Maximo standen am Eingang, die Hände in den Taschen.

»Welche Richtung?«, fragte Tuco.

Welche Richtung, Boss, welche Richtung? Santiago sah eine Looney-Tunes-Figur vor sich und musste ein verrücktes Lachen herunterschlucken. »Gil hat sie rausgebracht, nachdem Joaquin mich angerufen hatte. Ich weiß nicht, ob sie Joaquin etwas angetan haben, aber ich weiß, dass Gil nicht mit ihnen gegangen ist, weil sein Bike noch hier ist.«

Die Blicke der anderen gingen hinüber zu dem makellosen Motorrad am Ende des Parkplatzes.

»Also muss er hier noch irgendwo sein«, sagte Tuco. »Und er kommt nicht weit mit dem Schrapnell aus Vietnam im Bein.«

Santiago schritt hin und her, während langsam Panik in ihm aufstieg. Sie haben meine Frau und meine Tochter, dachte er, die Fäuste in die Seiten gestemmt. Die Hitze spürte er kaum. Allmächtiger Gott, ich vergebe den beiden alles, nur nimm sie mir nicht weg. Sie sind alles, was ich habe.

Du weißt, wohin Gil gegangen ist, sagte eine Stimme.

Ein bunter Vogel saß auf La Reinas Lenker.

Ein Tukan.

Der Vogel klapperte mit dem Schnabel wie ein Bambus-Windspiel. Gleichzeitig spürte Santi, wie der lange Bananenschnabel mit langsamen Strichen qualvoll und träge über die Innenseite seines Schädels schabte. Er konnte es fast hören.

Raaatschsch.

Schwarze Flecken liefen in Rinnsalen an den Rändern seines Sichtfeldes herab und pulsierten im Takt seines Herzens. Santi erstarrte. Folge deiner Nase, sagte die Stimme im Motorrad.

Der Tukan flog in Zeitlupe davon.

Unsichtbare Strömungen zogen in seine Nebenhöhlen, als Santi die Nasenflügel aufblähte, so kalt, dass es ihn an den Zähnen schmerzte wie eisige Gebirgsluft. Die Atmosphäre in der abgeschiedenen, offenen Wüste – dem wahren Ende der Welt – war so sauber und klar, dass er einfach alles riechen konnte. Brennende Sonne machte den Asphalt weich wie einen Müsliriegel. Die Auspuffgase der Motorräder bildeten einen widerlichen Sumpf schmutzigen Gifts. Die Männer um ihn herum bliesen ihren Atem in vulgären Mengen in die Luft: Tuco hatte sich einen flüssigen Lunch gegönnt, Maximo dagegen hatte einen Hamburger gegessen. Santiago roch Senf und Zwiebeln in dem fleischigen Pesthauch.

»Gott.« Tuco wich vor Santiago zurück, konnte aber den Blick nicht von seinem Gesicht lösen. »Siehst du das auch, Max?«

Beide Männer gaben alarmierte Laute von sich. Alle starrten ihn mit großen Augen an – manche mit einer Art verblüfftem Vergnügen (Ist das irgendein abgefahrener Scherz?) und manche mit unverstellter Angst. Santi beachtete sie nicht, drängte sich durch die Gruppe. Da war etwas, etwas hinter dem Schweiß der Versammlung und den Ausdünstungen von Asphalt und Mundgeruch … In Richtung Nordost nahm er den beißenden Unterton von Gils Rasierwasser wahr, Pinaud Clubmann – Zitrus, Jasmin, Lavendel, Reinigungsalkohol.

Und einen schwach milchigen Geruch. Angst.

Er machte sich zum Ende des Parkplatzes auf, wo eine Seitenstraße am Heroes vorbei zu einer Siedlung in der Wüste führte. Die Männer folgten ihm.

»Was ist mit seinem Gesicht los?«, fragte jemand.

»Captain, nichts für ungut«, sagte Tuco, »aber du siehst aus wie ein Gorilla, dem man eine Tüte Erdnussflips ins Gesicht gedrückt hat.«

Sie erinnern sich nicht, sagte die Stimme in Santiagos Hinterkopf. Seine Zähne taten weh. Schmerz erfasste seine Augenhöhlen. Sie waren mit uns am Rand des Menschseins, aber sie erinnern sich nicht, was? Sie haben dort draußen mit uns getanzt, aber sie haben die Schritte vergessen. Die Stimme verschwand peu à peu, als er sich von seinem Motorrad entfernte. Das Gefühl, dass La Reina ihm Sicherheit gab wie das Freimal bei einem Fangspiel, wurde stärker und stärker; je weiter er wegging, desto schwächer wurde das Signal und desto nervöser wurde er. Früher oder später würde jemand den Ball nach ihm werfen, und dann war er aus. Aus wie Maus, aus wie Laus, aus wie …

»Alles in Ordnung, Cap?«, fragte Maximo. »Wo willst du hin?«

Sie erinnern sich nicht an den Tanz, dachte Santiago, oder vielleicht stammte der Gedanke von etwas Tieferem, etwas Dunklerem. Sie erinnern sich nicht an die Wildnis, an die Nächte, in denen wir sie zu dem gemacht haben, was ich bin, als wir zum ersten Mal zusammen im Licht des Vollmonds standen. Sie kennen ihre geheimen Wüstenherzen nicht. Sie wissen nicht, wie sie El Tigre hervorholen können.

»Mir geht’s gut.«

El Tigre? Die Sonne knallte auf ihn herunter.

Erinnerst du dich, Santiago? Erinnerst du dich, wie es war, zu reißen und zu tanzen?

Der Road Captain ging um die Ecke der Sportsbar und folgte der Straße, immer der Nase nach. Er drehte den Kopf, als würde er die Frequenzen eines UKW-Radios durchgehen: Jeder Winkel lieferte einen neuen Geruch, und wenn er auf der Frequenz eines bestimmten Senders blieb, könnte er ihm bis zu seiner Quelle folgen.

Die Männer hinter ihm blieben zurück und kehrten zum Heroes um. Nach einigen Minuten waren nur noch Tuco, Max und eine Handvoll anderer Jungs bei ihm. Gut. Er brauchte nicht viele, wenn überhaupt. Du wirst sie daran erinnern, sagte eine Stimme, die nicht Santi gehörte. Du gibst ihnen ihre Krallen und Zähne zurück, und wir veranstalten eine hübsche Jagd. Heute Nacht tanzen wir wieder, und diesmal lassen wir es sie nicht wieder vergessen.

Krallen? Zähne?

Gils Angstgeruch und sein zitroniges Rasierwasser wurden langsam deutlicher, während Santiago zwischen die Häuser hinter dem Heroes lief, eine staubige, geflickte Straße entlang, die seit Jahrzehnten nicht mehr erneuert worden war. Er trat in ein ziemlich tiefes Schlagloch und wäre beinahe gestürzt. Die Straße führte sie zu einer Ansammlung von Ranchhäusern auf fleckigen braunen Rasengrundstücken. An vielen standen zu-verkaufen-Schilder im Garten, oder an der Tür hing ein Zwangsvollstreckungsbescheid. Santi folgte der Geruchsspur zum Ende des Blocks, ging rechts bis zum Ende des folgenden Blocks, dann überquerte er die Straße. An dem Haus, das dort stand – Typ »Drei Mädchen und drei Jungen« mit Yuccas im Vorgarten – klebte ebenfalls ein Zwangsvollstreckungsbescheid.

Abgesehen von den uralten vertrockneten Hundehaufen auf dem toten Gras roch das Haus nach Gil und Joaquin.

Die Haustür war aufgebrochen.

Tuco ging darauf zu, doch Santiago hielt ihn zurück. »Er ist nicht drin. Er glaubt, er kann uns überlisten.«

Der Geruchsfunk führte Santi an der Seite entlang, wo eine Treppe zu einer Kellertür führte. Santi wollte sie aufmachen, aber Max legte ihm eine Hand auf die breite Brust.

»Warte.« Er winkte Santi zur Seite und drückte sich mit dem Rücken an die Wand.

Er langte über die Schulter und klopfte an die Kellertür. Im Inneren knallten mehrere Schüsse, und Kugeln schlugen durch die Tür wie der Hammer eines Richters und verteilen Splitter auf dem braunen Gras.

Kurze Stille.

Max klopfte wieder. Pock, pock, pock – weitere Kugeln bohrten Löcher ins Holz.

»Was willst du mit der Erbsenpistole erreichen, vato?«, fragte Max über die Schulter. »Du hast nicht genug Kugeln für uns alle. Und wir können warten.«

»Nein, können wir nicht«, sagte Santiago. »Ich habe keine Zeit dafür.«

Gil schrie aus dem Keller: »Ich werde dir nicht sagen, wo sie hin sind, Santiago. Du bekommst nie wieder Gelegenheit, diese Frau zu verprügeln. Sie hat nichts getan, dass sie diesen Mist verdient hätte. Und das gilt für die anderen genauso.«

»Ich entscheide, was sie verdient hat. Ich bin ihr gottverdammter Ehemann.«

»Was für ein Mann …«, setzte Gil an.

»Sie ist meine Frau, alter Mann«, sagte Santiago. Zorn entflammte in ihm, Zorn auf die Situation, Zorn auf Gil, der ihm Informationen vorenthielt, Zorn auf Marina, weil sie weggelaufen war, Zorn auf diese Fremden, die sie mitgenommen hatten.

Tuco sah ihn seltsam an.

»Ist was mit meinem Gesicht, Tuc?« Beim Sprechen biss sich Santiago versehentlich in die Wange, und Schmerz schoss seinen Hals hinunter. Speichel füllte seinen Mund.

Tuco riss die Augenbrauen hoch. »Nein. Nein, Mann. Es ist nichts mit deinem Gesicht.«

Santiago grunzte. Seine Zähne fühlten sich seltsam an. Der Schmerz in den Nebenhöhlen wurde schlimmer und breitete sich über Wangen und Augen aus. Zu Hause musste er irgendwelche Schmerztabletten suchen. »Der alte Bastard hat nur das eine Magazin«, sagte Joaquin Oropeda aus dem Keller. »Wenn ihr schnell seid, könnt ihr …«

»Habe ich dir erlaubt zu reden?«, fragte Gil. »Du bist ein Schiss, Junge. Ich habe schon Vietcongs getötet, die mehr Mumm hatten als du. Ein Wort noch, und du hast ein Loch im Kopf – kapiert?«

»Jaja.«

»Hast du dir selbst zuzuschreiben. Wenn du einfach nur dein Maul gehalten hättest …«

Während Gil abgelenkt war, nutzte Santi die Gelegenheit und ging zur Tür. Doch als er den Knauf in die Hand nahm, brach er ab, als wäre er aus Schokolade. Furchen auf der Kellertür – vier Krallenspuren, geteilt durch Gils Schusslöcher. Er musterte seine Hand. War sie … größer? Irgendwie länger? Die Handfläche wirkte kräftiger als sonst, die Finger waren unnatürlich angespannt, die Sehnen standen hervor. Beide Hände sahen aus wie im Wundstarrkrampf. Die Fingernägel waren definitiv länger, fünf Zentimeter vielleicht, und sie wölbten sich wie spitze Haken.

Krallen, dachte er.

Krallen, dachte sein tieferes Ich.

Und außerdem war auch das schneeweiße Haar auf seinem Arm wieder da. Diesmal war es mit Orange überzogen.

Santi sah Maximo an. Der Fleischklops betrachtete ihn voller Sorge. »Mann …«, setzte er an, aber Gil gab eine weitere Salve auf die Tür ab. Zwei Schüsse verpassten sie knapp, aber die dritte riss Santiagos Ohr in Fetzen. Der Zorn erreichte einen Höhepunkt, und in Santiago wallte ein sengendes inneres Licht auf. Euphorie und Schmerz rannen seine Arme entlang, und die Haut schien sich zu spannen. Die Nähte seiner Jeans platzten auf. Er warf sich gegen die Kellertür, die sich bog und brach und auflöste, als wäre sie aus Balsaholz.

Als er den Keller betrat, brüllte etwas in der Dunkelheit – ein Drache? Es klingt wie ein Drache; was zum Teufel ist das?

Gil und Joaquin kreischten. Gil stieß Joaquin in Santis Richtung, der ihn aus dem Weg schob, wobei sich seine Krallen durch die Kleidung des Mannes bohrten.

Blut spritzte an die Decke des Kellers.

»Gottverdammte Scheiße!«, brüllte Gil Delgado und lief um sein Leben. Er wollte ein Fenster aufmachen und hinausklettern, doch Santi erwischte ihn, packte sein Bein und zog ihn zurück in die Dunkelheit. Der Road Captain schleuderte Gil durch den Keller wie einen Beutel mit Müll.

Der alte Mann krachte an eine Stecktafel, und eine Sammlung Werkzeuge fiel von der Wand wie eine Kaskade aus Schrott. Santi war sofort über ihm, schlug ihm die 1911 aus der Hand, ehe er schießen konnte, riss ihn hoch und drückte ihn an die Wand. Die Pistole rutschte unter eine Werkbank.

»WO SIND SIE?«, brüllte Santiago. Kräftig, widerlich süßlich, salzig wie Popcorn-Butter verriet ihm der Geruch, dass sich Gil in die Hose gepisst hatte. »WO SIND SIE HIN?« Das weiß-orange Armhaar bildete nun ein zotteliges Geflecht in der Farbe von Mangofleisch und hing von Santis Armen. Der Schmerz im Gesicht war unerträglich, als wäre seine Nase gebrochen. Im Mund schmeckte er salziges Blut.

»Santi.« Gil wehrte sich voller Angst und Schmerz, seine Hunter-S.-Thompson-Brille hing von seinem Gesicht. »Was passiert mit dir? Was ist los?«

»Was ist was?«

»Sieh dich an, Mann! Was bist du?«

Santi stieß Gils Kopf gegen die Wand. »Sag mir, wer meine Frau hat und wohin sie gefahren sind!«

»Irgendeine Tussi mit Iro und ein Veteran! Großer blonder Kerl!«

»Was …«, begann Santi und sah dann sein Spiegelbild in Gils Sonnenbrille.

Zwei winzige Monster starrten ihn an. In nur fünf Minuten war ihm ein Bart gewachsen, weiß wie Eierschalen, kurzgeschnitten, seidig.

Seine Augen bluteten, und Blut lief über sein Gesicht wie zwei Harlekin-Tränen. Gelbe Zähne ragten aus seinem blutigen Mund: zu groß, zu viele, alle spitz. Schwarze Nadelstreifen liefen von seinen Lippen nach außen und in konzentrischen Halbkreisen um die Augen. Sein Gesicht war eine Tiki-Maske animalischer Wut.

Zähne.

»Gott«, sagte Santi schockiert und wich zurück.

Erinnerst du dich jetzt?

Gil sank auf dem Boden zusammen und suchte nach irgendetwas, das er als Waffe benutzen könnte. Er erwischte eine Eisensäge, hielt sie mit beiden Armen und zitterte vor Angst.

Erinnerst du dich an den Tanz?

Niemand war bei ihnen im Keller. Dünner milchsaurer Angstgeruch wallte durch den Raum, und Santi begriff, dass sich die anderen draußen nicht hereintrauten. »Was stimmt nicht mit mir?« Das orange-weiße Haar war bis an die Knöchel gewachsen und sah aus wie die Manschetten eines Dandys.

Alles stimmt mit dir, sagte die Stimme aus weiter Ferne, ein schwaches Signal, fast nur eine Bewegung in der Luft. Erinnerst du dich an den Tanz? Erinnerst du dich an die Nacht?

»Was bin ich?«, fragte Santiago und wankte durch den Keller. Er fand eine rote Werkzeugkiste, riss sie auf und durchwühlte die Werkzeuge. In einem Fach fand er eine Zange. Er packte einen seine dämonischen Fingernägel und zog daran.

Schmerz schoss in seinen Finger. Er schrie auf.

»Die gottverdammte Enfield.« Urin bildete einen dunklen Fleck auf Gils Jeans. »Die macht das mit dir, Junge. In der steckt vielleicht der Teufel. Und sie hat dich in den Klauen.«

»Darin steckt der Teufel?«, sagte Santi und warf die Zange nach ihm.

Gil zuckte zusammen.

»Weißt du, wie beknackt sich das anhört?« Santi schritt hin und her. Seine Stimme klang erschöpft, verhext.

»Ja, klar, klingt beknackt, ja.«

Raaatschsch. Santi zog ein Fach auf und fand eine Schere. »Es ist diese Hure«, knurrte er und schnitt sich in entsetztem Wahn das seltsame Haar ab, das auf seinen Armen wuchs. Cremefarbene Locken landen auf dem Boden. »Sie macht das mit mir, weißt du? Meine Nerven. Sie stresst mich, bis ich den Verstand verliere, Gil. Ich sehe Scheiße.« Tränen rannen über seine Wangen, mischten sich mit Blut und hinterließen rote Linien. Die Worte waren Schluchzer. »Die haben mich rausgeschmissen. Rausgeschmissen. Ich bin total pleite. Meine Tochter hasst mich. Sie hat mein kleines Mädchen gegen mich aufgehetzt. Was soll ich bloß machen?«

»Wir ü-überlegen uns was.« Gil war in den Beschwichtigungsmodus gewechselt, hatte die Hände gehoben und sprach beruhigend. »Ich weiß, dir passt das nicht und mir auch nicht, aber, hey, vielleicht können wir Bobby wieder rausholen und ein bisschen dealen. Wir bringen für eine Weile Stoff in den Osten. Nur, bis du wieder auf die Beine kommst …«

Santiago drehte sich mit der Schere zu ihm um. »Ich habe dir gesagt, mit dem Mist fange ich nicht noch einmal an. Meine Tochter soll mit so etwas nicht aufwachsen. Heroin, Kokain, Meth – sie soll nicht mit so was in Berührung kommen. Damit bin ich fertig. Das habe ich dir gesagt.« Während er im Keller hin und her schritt, schien er plötzlich aus der Trance zu erwachen. »Meine Tochter.« Sein Bestiengesicht verfinsterte sich. »Was fahren sie?«

»Fahren?«, fragte Gil.

»Die Leute, die meine Familie haben«, fauchte Santiago und ging auf ihn zu. Gil jaulte und wich zurück; Santi packte ihn an der Kehle und drückte ihn wieder an die Wand. Er hielt Gil die Schere an die Wange und zielte auf sein Auge. »Was fahren sie?«

»Ei-einen W-Winnebago«, stotterte Gil. »Kackbraunes Ding. Sieht aus wie ein Eiswagen.«

Santiago stand da, drückte Gil die Schere ins Gesicht und atmete nur. Schließlich sprach er wieder. Die ersten Worte waren unverständlich, weil seine Lippen trocken waren und aneinanderklebten. »Wie ist es als President, Guillermo? Du trägst dein Rangabzeichen gar nicht mehr an der Weste. Schämst du dich, President der Los Cambiantes zu sein?«

Gil blickte auf die Stelle, wo sich das President-Schild befunden hatte, und schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht. Ist nur eine Sicherheitsm…«

Santiago riss Gils Brille mit der Schere zur Seite. »Wird Zeit, dass du in den Ruhestand gehst, Grandpa. Ich denke, ich wäre ein guter President. Was meinst du? Dann mache ich Maximo zum Road Captain. Max wäre ein guter Rocap.«

Erinnerst du dich, El Tigre? Erinnerst du dich an die Nacht?

»Klingst s-super.« Gil lächelte nervös. Tränen rannen über sein Gesicht. »V-vielleicht ziehe ich sogar weiter raus, an den Strand. Und stehe euch hier nicht mehr im Weg. Ja, ich glaube, der Gedanke gefällt mir.« Der baldige frühere President der Los Cambiantes hielt immer noch kapitulierend die Hände hoch. Santiago drückte Gils Handgelenk an die Stecktafel und rammte die Schere durch seine Handfläche. Er nagelte ihn mit einer Schere an die Wand.

Ich erinnere mich.

Aus dem Keller kamen Geräusche, wie Maximo sie bislang nur in Horrorfilmen gehört hatte. Schreien, Knurren, Knirschen, Reißen, Platschen. Der mexikanische Berg zuckte und sah Tuco an. Der schleimige Bastard stand gelassen wie eine Eidechse da, und hinter seiner Kadeem-Hardison-Sonnenbrille war seine Miene unergründlich.

Fünf oder sechs Männer starrten mit kalter Angst auf die Kellertür. »Was zum Teufel geht da drin vor?«, fragte einer.

Die Antwort bekam er in dem Anblick von Santiago Valenzuela, der aus dem Keller kam. Ihr Road Captain war mit Blut besudelt, das Haar war strähnig und dünn. Fleischfetzen klebten an seinem Hemd, und seine Zähne – normale, meißelförmige menschliche Zähne und nicht die spitzen Koboldzähne wie noch vor einigen Minuten – waren voller roter Flecken. Es sah aus, als wäre eine Schüssel mit Marinarasoße in seinem Gesicht explodiert.

»Glückwunsch«, sagte Santi und klopfte Maximo auf die Schulter. »Du bist gerade befördert worden.« Er riss sich das Klett-Schild Road Captain von der Weste und machte es an Maximos fest. »So, hier sind wir fertig. Ziehen wir ab.«

Maximo sah auf sein neues Rangabzeichen herunter (und bemerkte den blutigen Handabdruck, den Santiago auf seinem Hemd hinterlassen hatte), dann blickte er Tuco an, der ein fröhliches Reptiliengrinsen aufgesetzt hatte.

»Glückwunsch, Großer«, sagte Tuco und folgte ihrem neuen President.

Maximo schaute zu, wie alle von dem zwangsvollstreckten Grundstück trabten, eine Gruppe mit benommenen, ängstlichen Mienen. Gesichter von Männern, die man in eine fremdartige, aber nicht gänzlich unwillkommene Dunkelheit gezogen hatte.

Auf Beinen, die sich gar nicht wie seine eigenen anfühlten, betrat Max den Keller und roch unglaublichen Gestank.

An einer Schere, die durch eine Hand gerammt worden war, hing eine zerfleischte Leiche, wie eine Marionette, die einmal Gil gewesen war. Er war nicht mehr zu erkennen. Das Gesicht und – Teufel die Vorderseite des Schädels waren weg, geblieben waren nur die untere Reihe von Zähnen und ein breiiger Hohlraum. Die Nebenhöhlen waren ein rosafarbenes Loch unter dem weißen Blumenkohl des zerfetzten Hirns. Die Kehle war herausgerissen, ebenso die Eingeweide, und Gedärme hingen in feuchten grauen Schlingen über dem Schoß.

Max starrte den Toten an. Seine Hände zitterten. Nichts hatte den Riesen je so zittern lassen.

Dabei erschütterte ihn gar nicht so sehr der Umstand, dass er diesen zerfleischten Toten vor sich hatte. Es war nicht das erste Mal, dass er einen sah. Es erschütterte ihn auch nicht so sehr, dass sein engster und ältester Freund offensichtlich die Teile verschlungen hatte, die nicht mehr vorzufinden waren. Ja, das ist crazy, räumte er ein, doch als er sich die Leiche ansah, fühlte es sich an, als wäre sein Hirn in Styropor gepackt und von dem ungeheuerlichen Anblick vor ihm isoliert. Er spürte Entsetzen und Abscheu, aber irgendwie äußerlich, so als betrachte er eine brennend heiße Sonne aus einem Haus mit Klimaanlage. Irgendetwas hatte eine Wand zwischen ihm und der Wirklichkeit hochgezogen, irgendetwas wollte ihn von dem trennen, was er sah, was er tat.

Ein unsichtbarer, eingebildeter Finger zog seinen schartigen Nagel über die Innenseite seines Schädels.

Ay, Yogi-Bär! Ich sehe einen Picknickkorb!

Ein Auge zuckte.

Nein. Max folgte den Blutspuren zurück in den Sonnenschein. Was mich erschüttert, dachte er, während er über das trockene Gras ging, ist die Tatsache, dass ich davon einen Scheißhunger bekomme.