17

Die Szene spielte sich wie in Zeitlupe ab, Sekunde um Sekunde: Marina riss die Augen auf, als sie ihr Schicksal begriff, ihr Mund erstarrte in einem schockierten O. Sie kreischte, als würde ein Säbel über Violinsaiten gezogen. Hände und Füße schlugen sinnlos in die Luft.

»Nein!«, schrie Carly und beugte sich weiter vor. Robin hielt sie noch fester. »Mom!«

Dunkelheit verschluckte Marina.

»Das tut mir so leid«, murmelte Robin Carly endlos ins Haar. »Es tut mir so leid, meine Kleine, es tut mir so leid.«

Das Mädchen verstummte, kalt. Katatonisch.

Verdammt. Robin drückte sich hoch und führte das Mädchen zurück in den Wohnbereich, wo Kenway durch die demolierte Dachluke nach draußen krabbelte und Carly in Empfang nahm. Gendreau folgte ihr, rutschte hinaus und landete auf der Erde.

Schuldgefühle und Entsetzen brannten in Robins Brust. Sie hatte sich eingemischt, wider besseres Wissen, und was war dabei herausgekommen? Carlys Mutter war tot. Robin hatte es nicht geschafft, sie zu beschützen.

Der Gedanke saß ihr zwischen den Rippen wie ein Dolch.

»Mein Gott«, sagte Kenway draußen. Seine Stimme klang hoffnungslos. »Gottverdammt.«

Robin schaltete Licht an und suchte nach dem Osdathregar und einer Schusswaffe. Sie durchkämmte Haufen von Essen, die jetzt nur noch Müll waren.

Die Schrotflinte war nicht zu finden, doch der Osdathregar lag zwischen einigen Kästen, hatte eine Schachtel Cheerios durchbohrt und war mit Traubenmarmelade verschmiert. Glücklicherweise hatte sie ihr MacBook gut verstaut, hinten im Hängeschrank zwischen Decken und Kissen. Dort lag es vermutlich gut, bis sie zurückkäme und ihren Kram in Ruhe bergen konnte, wenn nicht inzwischen jemand den Wagen plündern oder der Benzintank explodieren würde.

»Hey«, rief Gendreau. »Können Sie meinen Ring suchen? Ich habe ihn bei dem Unfall verloren.«

»Ich versuch’s mal.«

Mehrere angespannte Minuten vergingen, während sie sich durch den Müll arbeitete und versuchte, die Reliquie des Curandeiro zu entdecken, wobei sie sich des Umstands bewusst war, dass die Zeit verstrich. Es würde nicht lange dauern, bis die Wolfsgang sie eingeholt hätte, und sie wollte gern unterwegs sein, ehe es so weit war.

Ah, da ist er. Magische Energie wallte von ihm auf wie Nebel aus einem Tiefkühlschrank. Unter dem Volant hinter dem Spülbecken. Sie stieg über das Fenster, riss den Vorhang zur Seite und nahm den Ring.

Sobald sie ihn berührte, empfing sie eine Vision.

Zwei Gestalten standen in einem eigenartigen Raum, wie einem Tresorraum in einer Bank, nur sehr viel beengter. Das Licht spendeten kränkliche Neonröhren unter der niedrigen Decke. Ein schwaches statisches Rauschen überzog die Szene mit stummem Schnee, als wäre der Empfang irgendwie gestört.

Eine der Schubladen zwischen den Gestalten stand offen, und die Person links hatte gerade etwas herausgekommen, das im trüben Licht rot glitzerte. »Das ist die letzte, die du heute ausprobieren sollst.« Die Magierin, die Origo, Rook. »Eine der neueren Reliquien. Nicht historisch gesehen, der organische Bestandteil ist ziemlich alt, aber wir haben sie erst unlängst erworben. Vielleicht ist sie nicht so mächtig wie der Stock, den du hattest, zumindest vorerst nicht, aber mit der Zeit wirst du andere Nuancen entdecken, andere Pfade, die dir helfen, das wahre Potenzial zu entfalten.«

»Es ist okay«, sagte Gendreau, die andere Gestalt, die sich aus dem Nebel der Zeit zusammenfügte. »Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich mich auf den Stock eingestimmt hatte; von dieser Reliquie erwartete ich nichts anderes.«

»Lass nicht zu, dass sie diese auch wieder ruiniert«, sagte die Origo.

»Bestimmt nicht«, sagte Gendreau und schob den Ring auf den Finger. »Da kannst du ganz beruhigt sein.« Geistesabwesend strich der Magier über die Narbe an seiner Kehle. »Okay, die Sache ist jedenfalls einen Versuch wert.«

»Vergiss nicht, was ich dir beigebracht habe«, sagte die Origo. »Schließ die Augen. Es ist, als würdest du mit der Wünschelrute nach Wasser suchen. Lass es in deinen Geist ein. Lass es in deinen Geist.«

Gendreau schloss die Augen. »Diesen Teil hasse ich.«

»Ich weiß«, sagte die Origo. »Man hat das Gefühl, man knackt den Verteilerkasten der Nachbarn und stiehlt Strom.«

»Und man kann dabei draufgehen, wenn man einen Schlag bekommt.«

»Nicht, wenn du vorsichtig bist.«

»Vielen Dank für deine Hilfe, Haruko. Ich hasse es, ein Versager zu sein, und du schaffst es, dass ich mich nicht wie einer fühle.«

»Du bist kein Versager.« Schiefes Lächeln. »Jetzt konzentriere dich.«

Robin zuckte zusammen und öffnete die Augen. Ein Schauer rann ihr die Arme hinunter. Haruko? Wo habe ich den Namen schon gehört? War das nicht …

In den Trümmern glomm ein rotes Licht. Sie wühlte und entdeckte eine ihrer GoPros. Kurz war sie unentschlossen und fühlte sich schuldig, dann befestigte sie die Kamera vor ihrer Brust. Sie würde erst einmal Material sammeln und es später sortieren. Vorausgesetzt, es gab ein Später. Inzwischen hatte sie ein schlechtes Gefühl dabei, alles mitzufilmen – besonders nach dem, was Marina zugestoßen war, aber das, was hier passierte, war einfach zu gut, um es sich entgehen zu lassen.

The show must go on.

»Hast du die Schrotflinte?«, fragte sie Kenway, der durch die Dachluke hereinspähte.

»Ja.«

Sie seufzte. Das AR-15 war nicht mehr zu gebrauchen, das Magazin war leer, die letzten Granaten waren überall im Winnebago verstreut. Sie nahm den Tactical Tomahawk und ein Katana, das auf wundersame Weise noch an der Wand hing (die inzwischen die Decke war). Darüber hinaus hatte sie keine Zeit, nach anderen Dingen zu suchen.

In einer Schachtel in einer Küchenschublade fand sie Munition für die Schrotflinte. »Wir sollten los«, sagte sie zu Kenway und schlängelte sich durch das Loch im Dach. Sobald sie draußen war, roch sie Benzin. »Die dürften direkt hinter uns sein.«

»Das brauchst du mir nicht zweimal zu sagen.«

Gendreau zeigte über ein ausgetrocknetes Flussbett hinweg. »Dort ist ein Haus.« Auf der anderen Seite ragte ein dunkles Viereck in die Nacht, hoch und kantig. Ohne Licht. »Oder so was Ähnliches. Haben Sie meinen Ring gefunden?«

»Ja«, sagte Robin knapp.

Der Magier streckte die Hand aus, aber sie gab ihm den Ring nicht, sondern zwang ihn, das Stück unbeholfen von ihren Fingern zu ziehen.

Zuerst sah er sie komisch, beinahe verärgert an – oder vielleicht beleidigt und verwirrt. Er schob ihn auf seinen Zeigefinger, starrte sie noch immer mit vage alarmierter Miene an und ging davon.

Kenway nahm die apathische Carly auf die Arme und trug sie wie ein Baby.

Keinerlei nächtliche Geräusche begleiteten ihre Flucht, nur das Scharren ihrer Schuhe auf dem staubigen Asphalt. Über ihnen bohrte eine Galaxie von Sternen Millionen Nadelstiche in einen wunderbar schwarzen Himmel. Sie humpelten um den Winnebago herum auf die Brücke, von der zu ihrer Überraschung am Fuß des Hügels mit dem Haus ein dunkles Motel zu sehen war.

Zuerst gingen sie zum Büro. Kenway stieß die Tür mit dem Fuß auf und wäre dabei beinahe auf den Hintern gefallen. Sie traten ein.

In der Dunkelheit sah man nicht die Hand vor Augen. Robin trat gegen einen Stuhl, stieß sich das Schienbein an einem Couchtisch und fluchte. »Hier.« Hinter ihr flammte eine Leuchte auf und warf ihr schwaches Licht in den Raum. Gendreau hatte eine kleine Lampe, ein Schlüsselbundanhänger.

»Hier ist wohl nicht mehr viel los, was?« Kenway legte Carly auf ein Tweed-Sofa und wirbelte dabei eine Staubwolke auf.

Hinter dem Empfangstresen suchte Robin nach Schlüsseln. Eine Pinnwand war mit vergilbten, verknickten Zetteln bedeckt. Darunter waren Nägel in das Brett gehämmert, aber daran hingen keine Schlüssel. »Sieht so aus.« Sie zog Schubladen auf und durchsuchte Schränke. Schließlich fand sie in einem Schuhkarton lauter Quittungen. Locker in der Schachtel lag eine Handvoll Schlüssel mit Plastikanhängern. Robin nahm den Schlüssel für Suite 22, stellte den Karton zurück in die Schublade und schob sie mit dem Fuß zu. »Kommt«, sagte sie, nahm ihr Schwert und ihren Tomahawk und führte sie nach draußen.

»Sieht aus wie das verlassene Set von Psycho oder so«, meinte Gendreau. Auf dem Weg blieb Robin stehen und lauschte nach Motorrädern. Noch nichts.

Sie folgten einem kurzen Gang zwischen dem Büro und den Zimmern. Das Motel war in L-Form angelegt und hatte einen großen Pool in der Mitte. Ein Maschendrahtzaun hielt Fremde vom Poolbereich fern, und um den Riegel der Tür war eine Kette gewickelt. Lange Plastikplanen waren an dem Zaun befestigt und schützten die Privatsphäre. Sie erwartete, dass das Tor verschlossen war, aber die Kette ließ sich abnehmen. Alle gingen hindurch, und Robin schloss das Tor.

Suite 22 lag auf der anderen Seite. Während sie um den Pool gingen, beugte sich Robin über den Rand vor und sah nur trockenen Beton und eine große Pfütze mit stinkendem grünem Wasser. Eine Seite des Pools war mondbeschienen, die andere, im Osten, lag im Schatten.

Gendreau blieb am Pool stehen und leuchtete mit seiner kleinen Taschenlampe ins Becken. »Wissen Sie, da drin könnten wir uns verstecken. Die kommen doch nie auf die Idee, im Pool zu suchen. Außerdem stinkt es da so, dass sie uns nicht wittern können. Es riecht ja, als wäre da ganz Los Angeles reingekrochen und verendet.«

Wie aufs Stichwort kam das Knattern einer Flotte Motorräder in Hörweite.

»Zeit, Ihre Theorie zu testen.« Kenway stieg die Treppe am flachen Ende hinunter, wobei seine Beinprothese unter ihm wegzubrechen drohte, und er wankte wie ein alter Roboter. Die anderen folgten ihm. »Mein Gott«, sagte der Veteran, legte Carly so sanft wie möglich im Schatten ab und ließ sich auf sein Hinterteil plumpsen. »An der Front habe ich mich sicherer gefühlt.«

Robin reichte ihm die Schachtel mit Patronen, die sie aus dem Wohnmobil mitgenommen hatte. Er machte sie auf und füllte sich die Taschen mit Munition. »Hast du wirklich die verdammte GoPro aus dem Brave eingesteckt?«

»Ja.«

»Wozu das denn?«

»Wenn ich diesen Scheiß schon durchmachen muss, kann ich wenigstens ein bisschen brauchbares Material dabei rauschlagen.«

Er seufzte und schüttelte den Kopf.

»Was denn?«

Er antwortete nicht.

Der Motorradlärm schien nicht näher zu kommen. Sie hatten auf der anderen Seite der Brücke angehalten.

»Die schauen sich das Wohnmobil an«, murmelte Gendreau.

Mehrere Minuten lang herrschte Stille.

Sie glaubte, sie hätte jemanden Mist, das ist Tuco rufen gehört und weitere Wörter, die zu leise waren.

Dann vernahm man aus der Distanz ein lautes Geräusch, das Robin zunächst für einen aufheulenden Motor hielt. Sie bekam Gänsehaut auf den Armen, als die Stimme zu einem wütenden Schmerzgebrüll wurde, einem unmenschlichen Kreischen, dem Klagen eines wilden Tieres am Rande des Wahnsinns. So musste es sich angehört haben, als der heilige Georg sein Schwert in den Bauch des Drachen stieß oder als Beowulf Grendel den Arm abriss.

»Oh mein Gott, mein Gott«, murmelte Gendreau neben ihr. Er zitterte heftig und war kurz vorm Durchdrehen. »Er hat Marina gefunden.«

Robin legte ihm eine Hand auf die Schulter, aber ihr fiel nichts zu sagen ein, was ihn hätte beruhigen können. Sie zog das stumme Mädchen an die Brust, und Carly drückte sich die Hände auf die Ohren. Ein dünnes, gehauchtes Quieken kam über ihre Lippen wie das von einem winselnden Hund. »Ich bringe dich hier raus«, sagte Robin zu ihr und streichelte ihr das Haar. »Ich passe auf dich auf und kümmere mich um dich.« Es entging der Hexenjägerin nicht, dass Carly jetzt in einer ähnlichen Situation war wie sie selbst: Ihre Mutter war tot, der monsterhafte Vater wurde zur Bedrohung. Sie reagierte sogar so ähnlich wie Robin als Teenager vor sechs Jahren. Geschockt, stumm. Verschlossen. Dissoziiert.

Robin bewegte vor allem eine Frage: Wenn sie Marina nicht gesagt hätte, sie sollte ihre Hände ergreifen, wäre es dann anders ausgegangen? Hätten sie überhaupt eine Chance gehabt, sie zu retten? Um Himmels willen, wenn es nun Robins Schuld war, dass diese Frau zerschmettert am Grund der Schlucht lag!

Sie seufzte. Geißeln konnte sie sich später. Im Augenblick musste sie ihren Job erledigen, und dieser Job bestand darin, für ihrer aller Überleben zu sorgen. »Du musst still sein, Baby«, flüsterte sie Carly ins Ohr. »Sonst hören sie uns.«

Zu ihrer Überraschung verstummte das atemlose Winseln.

Irgendwo wurde Glas zerschmettert. Kenway schloss langsam die Schrotflinte mit einem leisen Klick.

Die Anspannung durchdrang Robins Körper, ihre Fäuste wurden hart, ihr Herz wollte sich pochend den Weg aus dem Brustkorb bahnen. Die anderen waren kaum zu sehen; sie atmeten leise. Der Magier klang, als müsse er sich anstrengen, nicht zu schluchzen, und er bebte vor Angst.

»WO BIST DU?«, fauchte eine dröhnende Stimme aus den Tiefen der Hölle.

Holz und Stahl krachten, als eine Tür eingetreten wurde. Die Kordel, die um den Griff des Tomahawks gewickelt war, knarrte kaum hörbar in Robins Hand. Ihre Blase drückte und wollte geleert werden, ihre Beinmuskeln waren angespannt und jederzeit bereit zum Aufstehen.

»Komm raus, du mörderische Schlampe! Ich weiß, du bist da IRGENDWO

Juckender Schweiß rann Robin die Schläfe hinunter.

Im Trakt mit den Zimmern wurden Türen aufgebrochen und Fenster zerschmettert. Los Cambiantes gingen von Raum zu Raum und suchten nach ihnen. »Du kannst dich nicht verstecken! ICH RIECHE DICH Santiagos Stimme donnerte wie ein Erdbeben.

»Gott, gütiger Gott«, wisperte Gendreau.

Stahl quietschte, als das Tor zum Pool aus den Angeln gerissen und zur Seite geworfen wurde. Schlurfende Füße und scharrende Krallen bewegten sich auf der Terrasse über Robins Kopf und drängten sich durch die toten, nackten Hecken. Immer mehr Türen wurden eingetreten. Scheiben barsten. »Ich finde dich! Du bist in einem dieser verfluchten Zimmer, es ist nur eine Frage der Zeit.«

Die Werwölfe schleuderten Möbel herum und schlugen Löcher in die Wände der Zimmer. Der Lärm hallte im Pool wider. Ein alter Röhrenfernseher flog über den Poolrand und krachte in die schmuddelige Pfütze am Boden. Schleimiges Wasser spritzte an die Wände und traf auch Robins Gesicht. Das Zittern des Magiers verstärkte sich zum Veitstanz des Grauens. Halt still, Mann, dachte sie, sei stark, die geben auf und ziehen weiter. Die suchen das Haus nach uns ab, und wenn sie uns dort nicht finden, suchen sie in den Hügeln, und dann …

Einer der Werwölfe kam langsam und geschmeidig an den Pool geschlichen.

Was sie im trüben Mondschein sah, gefiel ihr nicht. Das Untier hatte hohe Schultern wie eine Hyäne und verdrehte Gliedmaßen. Durch das borstige schwarze Haar glänzte schmierige Haut. Splitterfasernackt drehte sich der Wolfsmann um und spähte mit der bestialisch-verunstalteten Parodie eines menschlichen Gesichts in den Swimmingpool: Zähne, lang wie Finger, schwarze Knopfaugen, riesige Nasenlöcher, alles an einem überdimensionierten Kopf. Zwei graue Ohren lauschten in die stille Nacht.

Die Retina des Monstrums reflektierte kein Licht, daher wusste Robin, dass es im Dunkeln nicht sehen konnte. Reichte der Mondschein trotzdem, damit es sie hier im Schatten entdeckte?

Es fühlte sich wie eine Woche an, so lange starrte das Untier vor sich hin.

Im Pool stank es nach dem stehenden Wasser. Hoffentlich überdeckte das ihren Geruch. In ihrem Augenwinkel schob sich ein dunkler Stummel in Sicht, und sie begriff, dass Kenway die Schrotflinte anlegte.

»ZU MIR, IHR SCHEISSKERLE!«, brüllte Santiago.

Der Werwolf riss den Kopf hoch, als er die Stimme des Anführers hörte, trottete davon und war nicht mehr zu sehen. Wieder zerbrach ein Fenster, ein letzter planloser Akt des Vandalismus.

»Was machen sie jetzt?«, hauchte Gendreau ihr ins Ohr.

»Keine Ahnung.«

Die Stille dauerte ewig. Von der anderen Seite des Zimmerkomplexes hallte wütendes Gemurmel herüber. Die verwandelten Biker stürmten den Hügel hinauf. Los Cambiantes durchsuchten das verlassene Haus. »Findet sie«, hörte man einen Ruf von der mondbeschienenen sandigen Ebene hinter dem Motel. »Bringt diese mörderische Fotze um.«

»Sie sind weg«, flüsterte Gendreau. »Sie sind darauf reingefallen.«

Robin drückte ihm eine Fingerspitze auf die Lippen, und er bemühte sich, ruhig zu werden. Carly schauderte und schlug die Hände vors Gesicht.

Der Magier wollte nicht aufhören zu reden. »Wir sollten hier verschwinden, solange sie dort oben im Haus sind«, zischte er. »Wir laufen in die andere Richtung, über die Schlucht und verstecken uns unter der Brücke und …«

Sie unterbrach ihn und legte ihm die Hand auf den Mund. »Schnauze!«, hauchte sie ihm ins Ohr.

Von ihrer Schelte eingeschüchert, nickte er.

Robin nahm seine Hand, legte sie Carly auf die Schulter und schob das Mädchen ein wenig zur Seite, damit sie sich frei bewegen konnte. So vorsichtig wie möglich und ohne auch nur mit den Schuhsohlen auf dem Beckenboden zu knirschen, erhob sie sich und spähte über den Rand des Pools.

Reglos hockte eine Gestalt im Mondlicht und starrte auf die Zimmer, die zum Innenhof lagen.

Überreste eines roten Holzfällerhemds hingen in Fetzen von seinen Schultern. Der Werwolf hatte ihr den Rücken zugewandt. Lauerte er darauf, dass sie aus dem Versteck kamen? Was zum Teufel sollte das? Verwirrt ging sie in die Hocke. Ihr Herz klopfte, ihre Hand schmerzte, weil die Kordel des Tomahawks in die Haut drückte.

Der Werwolf drehte sich um, ging zum Rand des Pools und schaute hinauf zu dem dunklen Haus auf dem mit Salbeibüschen bewachsenen Hügel. Robin spannte alle Muskeln an und machte sich bereit, nach oben zu springen. Der Werwolf schaute hinab in den Pool, die Knopfaugen glitzerten.

Er schnaubte, und wässriger Rotz sprühte auf ihr Gesicht.

Ein misstrauisches Knurren bildete sich tief in der Kehle des Monsters.

Robin stieg in die Wölbung am Fuß der Poolwand, sprang in die Höhe und packte das Haar am Hals des Werwolfs. Sie nutzte ihr Gewicht aus, um ihn nach unten zu ziehen, und der Biker landete schwer auf den Schultern.

Sie krabbelte rittlings auf den Bauch des Untiers und wollte es mit dem Tomahawk bearbeiten, doch der Werwolf schnappte nach ihr. Sein Maul war groß genug, um ihren Kopf mit einem Biss zu zermalmen. Es steckte voll spitzer gelber Zähne, die nach Tabak rochen. Wieder schnappte er zu und wieder und knurrte dabei wie ein Ferrari-Motor. Sie schaffte es, ihm den Axtstiel in die Schnauze zu rammen. In einem Anflug von Panik fluchte sie, hielt ihren Gegner auf Armeslänge entfernt und stützte sich dann auf ihn.

Jemand zog das Katana aus der Scheide auf ihrem Rücken und stach es tief in den Bauch des Monsters, splatsch, wieder, splatsch, und wieder, splatsch. Kenway, neben ihr. Das Knurren erstarb zu einem erstickten Gurgeln, während sich das Ding unter ihr hysterisch aufbäumte.

Helles rotes Blut rann die Poolwand hinunter in das schmutzige Wasser.

»Fick dich«, hustete der Werwolf.

Erstaunlich. Er war immer noch nicht tot. Gut, das Problem könnte sie für ihn lösen. Sie warf den Tomahawk zur Seite, nahm ihrem Freund das Katana aus den Händen, setzte die Spitze unter dem Kinn der Bestie an und legte ihr Gewicht darauf. Die Schwertklinge glitt durch die Kehle des Werwolfs hoch in den Schädel.

Ein leises Knirschen war zu hören, als die Klinge an die Schädeldecke stieß. »Grrk.« Der Werwolf erschlaffte.

Robin blieb auf dem haarigen Toten sitzen und versuchte, ihr Herz zu beruhigen. Die Wunden von den Krallen auf ihren Armen brannten und schwollen zu einem orchestralen Schmerz an, während dunkles Blut in den Pool tropfte. Ein leichtes Kräuseln auf der Pfütze ließ den Mond tanzen.

»Danke«, sagte sie zu Kenway.

»Gerne doch.«

»Komm«, sagte sie und schob das Schwert in die Scheide. »Diesen riesigen Bastard können wir nicht wegtragen, und die sehen ihn, sobald sie wieder runterkommen. Wir fliehen in die andere Richtung, solange sie im Haus beschäftigt sind.«

»Warum ist das nicht mir eingefallen?«, spöttelte Gendreau.

»Geh voran, Cochise.« Kenway reichte Robin das Schrotgewehr und hob Carly auf.

Sie folgten dem Gang, der zurück zum vorderen Parkplatz führte, aber das Tor im Zaun lag jetzt quer über dem Pfad, und so mussten sie über den Maschendraht steigen, der dabei laute Geräusche von sich gab.

Am Ende des Gangs lauerte eine riesige Gestalt auf dem Gehweg. Verdammt, da steht eine Wache, dachte sie. Ein Schemen trottete um die hintere Ecke des L-förmigen Gebäudes und betrat den Poolbereich auf allen vieren. Wenn er jetzt über den Pool in den Schatten unter der Markise schaute …

Zu ihrer Linken stand eine Tür offen. Sie packte den Schaft des Schrotgewehrs zusammen mit dem Griff des Tomahawks und schlich in das schäbige kleine Apartment mit altmodischer Einrichtung.

Alles war mit einer flauschigen Staubschicht überzogen. Ein überraschend sauberer Kalender an der Wand verkündete September im Jahr 2005. Vermutlich hatte hier früher der Manager gewohnt. Santiagos Wölfe hatten übel gewütet: Das Sofa war umgekippt, die Küchenschränke aufgerissen. Glücklicherweise gab es keine Lebensmittel, mit denen sie hätten rumsauen können.

»Was ist das für ein Geruch?«, fragte Gendreau. Robins Boots quatschten auf dem nassen Teppich. Ein stechender und gleichzeitig süßer Geruch wie Honey Smacks mit Hühnerbouillon stieg ihr in die Nase – die Wölfe hatten auf den Boden gepinkelt. Sie drehte den Knauf der Tür, die zum vorderen Büro führte, und fand es glücklicherweise leer vor.

Als sie im Büro waren, schloss Robin die Tür zum Apartment und verkeilte sie mit einem Klappstuhl. Das würde nicht viel bringen, war aber besser als nichts. Sie gesellte sich zu Kenway und Gendreau hinter dem Empfangstresen.

Der Veteran packte ihren Unterarm und zog sie rüde nach unten.

»Aua«, sagte Robin, »was ist los?«

»Da draußen ist was.« Kenway zeigte zum Vordereingang. »Auf der Straße. In diese Richtung können wir nicht raus. Verdammt riesig, was immer es ist.«

Sie spähte über die Resopalplatte des Tresens. Die Motorräder waren in einer unregelmäßigen Reihe vor dem Büro abgestellt. Ein großer dunkler Schatten bewegte sich auf der anderen Seite hin und her und patrouillierte im schummrigen Mondlicht. Aus dieser Entfernung war das Untier schätzungsweise so groß wie ein Bison, vielleicht sogar größer.

»Damit fällt es wohl auch ins Wasser, die Bikes lahmzulegen«, sagte Gendreau.

»Ach, bist du auch auf die Idee gekommen?«

Kenway bewegte unbehaglich den Kopf. »Vorwärts geht nicht, rückwärts geht nicht. Und was jetzt?«