26

Knister. Knister. Holzkohlekrümel rieselten von dem Arm der Ascheleiche, als sie langsam wie ein Gletscher nach dem Dolch langte. Schwarze Finger bogen sich auf und krallten sich in das gewellte Linoleum.

»Oh Scheiße, nee«, sagte Navathe.

Er taumelte aus der Ruine und übergab sich im Gebüsch.

Knister. Robin hob ein Bein, setzte einen Fuß auf den Rahmen der Kellertür und schob sich schwach über den Boden. Wieder brach Holzkohle mit leisem Knistern von ihr ab. Beinahe nicht wahrzunehmen, nahezu unhörbar im Wind, löste sich aus ihrer perlweißen Grimasse ein trockenes Rasseln.

Angst und Entsetzen mischten sich säuerlich in Gendreaus Kehle. Seine Beine gaben unter ihm nach, er fiel auf den Hintern und schob sich zurück, bis er an die Wand stieß. Der Osdathregar war nun ein eigenartiger Feuergeist, glühte blau auf dem dunklen Linoleum und klingelte durchdringend mit einem tinnitusartigen Sirren in seinen Ohren.

Ein schwarzer Film breitete sich von dem Dolch aus wie Schimmel auf dem Boden. »Was zum Teufel geht da vor sich?«, flüsterte Gendreau schockiert.

Eine Kohleklaue griff nach dem Osdathregar.

»Wollen Sie den?«, fragte er das Mädchen oder besser das, was von ihm übrig geblieben war.

Finger, die mit Asche verkrustet waren, reckten sich nach dem Griff des Dolchs.

Der Magier streckte den Fuß aus und wollte die Silberwaffe näher an die Gestalt schieben. Dabei stieß er zu heftig zu und kickte den Osdathregar an ihrer Hand vorbei vor das Gesicht. Die verbrannte Hand wich zurück und schloss sich um die Klinge des Dolchs. Der Mund öffnete sich mit grauenvollem Knacken und gab ein schwaches Piepen wie von einem Vogelküken von sich. Dabei atmete Robin eine Wolke roter Funken aus. Ihre verbrannte Haut wurde nun komplett schwarz, und ihre Hand und ihr Arm schienen ihre ursprüngliche Form wieder anzunehmen.

Mein Gott, dachte der Curandeiro, mein Gott, ich kann mir gar nicht vorstellen …

Robin schob den einen verbrannten Arm unter sich und drückte sich in eine sitzende Haltung hoch. Ihr Gesicht bildete einen mageren Abklatsch menschlicher Züge, war in einem Gähnen erstarrt. Gendreau schaute von Horror gebannt zu. Sie sieht aus wie ein Stop-Motion-Skelett in einem Ray-Harryhausen-Film.

Dann schlug sie die Augen auf, Augen wie aus Jade, die von innen heraus leuchteten, grüne Ampeln in den Tiefen ihrer Augenhöhlen.

Dämonenaugen.

Die Dunkelheit, die aus dem Osdathregar strömte, floss ihr Handgelenk entlang und drang in eine der Adern aus tiefroter Glut ein. Eine Dampfwolke sprühte aus einem Riss, während die Kälte des Dolchs gegen die Hitze des Feuers unter ihrer Haut ankämpfte. Gendreau krabbelte durch die Lücke unter der Küchenwand hindurch, taumelte die Stufen hinunter, hinaus in den Sand, wo er sich umdrehte und das Haus beobachtete, aus dem Dampf aufwallte.

Die schwarze Gestalt wankte mit ruckartigen Bewegungen wie eine Mumie zögerlich die Stufen nach draußen hinunter. Ihre Arme waren immer noch starr an den Körper gezogen, hatten jedoch eine schattenhaft mattschwarze Farbe angenommen, als wäre sie mit Sprühlack behandelt worden. Robin blieb unsicher auf der Treppe stehen, und als Gendreau ihr helfen wollte, entzog sie sich ihm und wäre beinahe gestürzt.

»Nein«, flüsterte sie und blickte ihn mit glühenden Augen an.

Drei. Es waren drei Augen.

In der Mitte ihrer Stirn hatte sich ein drittes Auge geöffnet.

Nein, Gott, es waren fünf!

Zwei weitere Augen gingen in ihren Schläfen auf. Alle waren auf Gendreaus Gesicht gerichtet. Ein eiskalter Schauer durchlief ihn. Seine Nackenhaare stellten sich auf.

»Was zum Teufel ist da los?« Erstaunt kroch Navathe aus dem Gebüsch.

Gendreau zuckte hilflos mit den Schultern.

»Weiß nicht«, säuselte Robin zwischen lippenlosen Zähnen hervor. »Ich glaube, es ist wieder so weit.« Aschestücke lösten sich, während sich die verbrannte Hülle abschälte und einen rohen roten Muskel entblößte, ehe sie wiederum durch eine eigenartige Schale ersetzt wurde, als würde der Dolch ihr Fleisch aus schwarzem Leder neu erschaffen. Die Kraft des Osdathregars breitete sich in die Brust aus und von da den Hals entlang.

»Dämonisierung?« Navathe starrte sie ängstlich und staunend an. »Sieht das so aus?«

»Tut es weh?«, fragte Gendreau.

»Es hat wehgetan. Oh Gott, ja.« Ihre Stimme klang wie ein Fahrstuhl voller Menschen, die alle zur gleichen Zeit flüstern, und wenn sie sprach, bewegte sich ihr Mund nicht, dieses grimmige Todesgrinsen, diese weißen Zähne in makellosem Obsidian, diese Fossilien in einer Teergrube. »Jetzt nicht mehr.« Flüssiger Schatten floss wieder ihren Hals hinauf und über ihren Bauch nach unten, wie bei einer Darstellung der Mandelbrot-Menge, breitete sich aus, erstarrte, deckte zu. Schob sich über ihr Kinn und ergoss sich in ihren Kiefer und wurde zur Maske aus Ruß und Knochen.

Zwei schwarze Hörner wuchsen aus ihrem Schädel in die Luft und verzweigten sich zu einem dornigen Geweih, als die Kohlehülle sich über ihre Stirn schob. Komplizierte Linien ätzten sich in die Kante ihres Kinns, zogen Sparren in die Kehle und tausend Spiralen über die Kontur ihrer Brust, als habe ein unsichtbarer Künstler die Arbeit an einer mittelalterlichen Rüstung vollendet. Robin sah aus wie eine zum Leben erwachte Persephone. Während die Dämonin die hinteren Stufen des Hauses hinunterging, funkelten ihre fünf grünen Smaragdaugen in der wässrigen frühen Sonne. »Mama sagt, ich bin befördert worden«, sagte sie mit ihrer seltsam mehrschichtigen Stimme, als würden zwei Menschen gleichzeitig sprechen: Robins Stimme und eine tiefere, als würden Violine und Bass harmonisch zusammenspielen.

»Oh mein Gott«, sagte die Latina mit dem Gewehr. Sie steckte das Telefon weg und stand mit offenem Mund hinter den Magiern.

»Befördert?«, fragte Navathe und starrte sie mit Schrecken in den Augen an. »Und warum tötet oder vertreibt die Sanktifikation sie nicht?«, erkundigte er sich bei Gendreau. »Sie ist nicht in der Hölle und nicht in irgendeiner Dimensionsnische oder in der Anderswelt. Sie ist auf der Erde, direkt vor uns. Sie sollte sich auflösen oder in ein Loch im Boden gerissen werden.«

Kerzenflammen leckten aus ihren Mundwinkeln, während Robin ihre schwarzen Hände betrachtete. »Er hatte recht. Er hatte recht – der Gottesdolch, er hat mich beschützt.«

»Was zum Teufel sind Sie?«, fragte die Frau und richtete das Gewehr auf sie.

»Ich bin ein Dämon. Bitte schießen Sie nicht.«

»Na, das klingt nicht sehr beruhigend. Ich werde jetzt auf Sie schießen.«

»Nein!«, rief Gendreau und trat mit erhobenen Händen dazwischen. »Es ist okay! Ich weiß, sie sieht aus, als würde sie Babys fressen, aber sie ist eine von den Guten! Ich schwöre bei Gott.«

Robin fuhr zurück. »Wie bitte …?«

»Okay.« Der Magier rang die Hände, als würde er flehen. »Okay, also gut, noch mal von vorne: Wie heißen Sie, Ma’am?«

»Elisa.«

»Elisa …?«

»Elisa Valenzuela.« Sie zeigte mit dem Gewehrlauf auf ihn. »Wer sind Sie? Warum haben Sie die Frau meines Bruders und meine Nichte gekidnappt?«

»Sie sind Santiagos Schwester? Ich, wir … äh … wir haben niemanden gekidnappt. Sie hatten sich in unserem Winnebago versteckt, und wir wollten sie in einem Frauenhaus abliefern. Marina hat uns alles erzählt.«

Elisa starrte Robin an und wollte die Waffe immer noch nicht senken.

»Mit wem haben Sie gerade telefoniert?«, fragte Gendreau.

»Mit meinem Bruder.«

»Santiago?«

»Nein, mit dem anderen. Alfie – Alvaro. Der ältere. Er hat mich angerufen und mir mitgeteilt, dass Santi gerade in ihrem Clubhaus eingetroffen ist, zusammen mit Carly, irgendeiner Asiatin und einem einbeinigen Blonden.«

»Rook und Kenway«, sagte der fünfäugige Schattendämon.

»Was zum Teufel sind das für tote Tiere?« Elisa deutete auf das Gemetzel hinter sich. »Es sieht aus, als hätte ein Haufen Clowns hier ein Rodeo abgefackelt.«

»Werwölfe. Ihre Freunde von den Los Cambiantes.«

»Werwölfe?« Elisa wollte es nicht glauben.

»Santiagos Motorrad. Es hat ein …« Gendreau unterbrach sich. »Schwer zu erklären. Sagen wir einfach, es ist von schwarzer Magie besessen, und er hat es benutzt, um sich und seine Freunde in …«

»… Werwölfe zu verwandeln?«

Widerwillig nickte Gendreau. »Unter anderem.«

»Sie wollen mir sagen, das Ding da ist einer von Santis arschigen Kumpels?«

»Ja. Sie scheinen mir nicht zu glauben, aber angesichts des Gewehrs in Ihrer Hand haben Sie wohl doch mit so etwas gerechnet.«

»Ich wusste nur, dass Santi und seine Gang nichts Gutes vorhaben. Sie sind zu einer Bar in Almudena gefahren, und meine Freundin sagt, man hätte Gils Leiche in einem Haus in der Nähe gefunden. Alfie glaubt, dass Santiago jetzt komplett ausgerastet ist. Als sie Ihnen hierhin gefolgt sind, ist Alfie zurückgeblieben und hat die Polizei in Lockwood gerufen. Santi und alle L-C-Mitglieder, die hier draußen waren, werden jetzt mit Haftbefehl gesucht.«

»Wenn Alfie die Polizei gerufen hat, warum laufen Sie hier dann mit einem Gewehr herum? Auf diese Weise wird man leicht selbst erschossen, glaube ich. Wenn nicht von Los Cambiantes, dann von der Polizei.«

»Mein Bruder hat vielen Menschen wehgetan, Mr. Magier. Ich wünschte, ich wäre hergekommen, um es ihm heimzuzahlen, aber ich glaube, ich mache einfach das, was ich schon immer getan habe, wenn es um Santi ging.«

»Und zwar?«

»Mich um die Folgen kümmern. Den Menschen helfen, denen er wehgetan hat. Hinter ihm aufräumen.« Elisa seufzte. »Ich habe schon immer hinter ihm aufgeräumt.«

»Vielleicht sollten Sie damit endlich aufhören.«

»Das habe ich auch gedacht – es muss endlich aufhören. Er hat Los Cambiantes in seine Privatarmee verwandelt.« Sie hob das Gewehr. »Vielleicht habe ich das Gewehr deshalb dabei. Wenn die Leute eine Waffe in Ihrer Hand sehen, hören sie einfach besser zu. Also offensichtlich sind sie jetzt Dämonen, und deshalb ist es noch besser, dass ich sie mitgebracht habe.«

»Was wird er mit meinen Freunden anstellen?«, fragte Robin.

Elisa zielte erneut auf sie, und die Dämonin hob die Hände. »Wenn die alle auf dem Kriegspfad sind, kann nichts Gutes dabei herauskommen.« Sie sah den Curandeiro an und kniff resigniert die Augen zusammen. »Mein Bruder ist kein netter Mensch.«

»Bin ich auch nicht«, sagte Robin.

Elisa packte das Gewehr fester. »Das glaube ich Ihnen.«