16
Sie fuhren und fuhren, und dann fuhren sie noch ein bisschen weiter. Die Nacht drückte gegen die Fenster wie das seidige Fell einer unglaublich schwarzen Katze. Robin packte die Leiche des Werwolfs und stieß den Bastard hinaus in die Nacht. Ein Stück der Zierleiste ging mit ihm.
»Man darf keinen Abfall rauswerfen«, sagte Gendreau, saß auf dem Boden und packte die Instrumente zurück in seine Tasche.
»Zeigen Sie mich doch an.«
Sie ging nach vorn, stand zwischen den beiden Sitzen und stützte sich auf wie der Kapitän eines Raumschiffs. Die Kratzer auf ihrem Gesicht und ihrem Po hatte der Curandeiro geheilt, aber das Blut war in langen Striemen getrocknet. Kenway und Carly saßen in der Frühstücksecke. Um den Bauch des Veteranen war ein Gürtel aus Verbandsmull gewickelt.
Gendreau kam herüber und stieß eine Konservendose an. Er schob sie in Richtung Tür und hinaus in die Nacht.
»Hey«, sagte Robin, »das wollte ich noch essen.«
»Nur zu.«
Sie fuhr sich nachdenklich mit der Zunge über die Lippen und zeigte ihm den Mittelfinger.
Der Curandeiro schüttelte den Kopf und kickte weitere Dosen nach draußen. »Es gefällt Ihnen, nicht?«, fragte er. »Deshalb waren Sie einverstanden, die Valenzuelas mitzunehmen?«
»Was gefällt mir?«
»Kämpfen!« Gendreau schob eine Dose Bohnen in die Dunkelheit. Als die Dosen beseitigt waren, war der Teppich noch mit Essen übersät. »Die Sache mit der Selbstjustiz! Sie sind eine Wikingerkriegerin, die vollkommen in der Schlacht aufgeht. Sehen Sie sich an: Sie sind frisch und völlig aufgedreht. Es macht Ihnen Spaß. Sie haben Werwölfe zu AC/DC und Queen abgeknallt. Sie lieben es.«
»Ich fürchte, ja.«
Gendreau seufzte müde.
»Was erwarten Sie denn?«, fragte sie. »Sie wissen, was mein Vater ist. Heinrich hat mich zu seiner Waffe gemacht, oder? Zur perfekten Killermaschine für Hexen.« Robin schüttelte den Kopf und starrte durch die Windschutzscheibe. »Außer YouTube ist das alles, was ich kann.«
»Oh, das ist wirklich eine traurige Geschichte, Mrs. Unbesiegbar«, sagte Gendreau. Er griff nach draußen, schloss die Tür und sperrte den lauten Wind aus. »Wissen Sie, was ich an Ihnen so charmant fand, nach allem, was Sie durchgemacht haben? Dass Sie keiner dieser ängstlichen Leidender-Held-Emo-Typen waren.« Gendreau durchsuchte die Schränke. »Ja, Sie tragen überwiegend Schwarz, aber Sie tun sich nicht leid. Sie sind voller Zorn, aber es ist ein froher Zorn, ein zielstrebiger Zorn.«
Sie zuckte mit den Schultern und lächelte verkniffen.
»Jetzt hat es Sie übermannt, und Sie genießen es.«
»Der Besen ist im Badezimmerschrank«, sagte Kenway.
»Danke.« Gendreau holte den Besen und fegte den Küchenboden. »Ich weiß nicht«, sagte er, »ich denke, ich kann Ihnen nicht helfen, aber mir fällt diese Veränderung auf, seit Sie das mit Ihrem Vater Andras herausgefunden haben, und es macht mir Sorgen, das ist alles. Ich möchte nicht, dass Sie sich selbst zerstören.«
»Ihre Anteilnahme wurde zur Kenntnis genommen«, erwiderte Robin vielleicht ein wenig kühler als beabsichtigt.
Der Curandeiro sagte nichts.
»Was meint er mit Ihrem Vater?«, fragte Carly.
»Mein Dad ist ein eulenköpfiger Dämon namens Andras.« Robin setzte sich zu Kenway. »Das kann man auf meinem YouTube-Kanal sehen. Ich dachte, du hättest meine Videos gesehen.«
»Nur ein paar.« Carly starrte sie an. »Ihr Dad ist ein Dämon?«
»Ja.«
Das Mädchen starrte auf seine Hände. »Dann haben wir wohl etwas gemeinsam.«
»Nein.« Robin nahm Carlys Hände und drückte sie. »Einen Dämon kann man nicht verändern. Sie sind einfach durch und durch böse. Aber dein Dad – er ist von etwas besessen. Von etwas in dem Motorrad.«
Hoffnung schimmerte in Carlys Augen. »Heißt das, Sie können ihn retten?« Sie lächelte. »Sie können ihn wieder so hinbiegen, wie er war, ehe er das Motorrad gekauft hat?«
»Vielleicht.«
»Bitte, töten Sie ihn nicht«, sagte Carly mit brechender Stimme. »Er ist kein schlechter Mensch, das versichere ich Ihnen. Es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe … ich habe es nicht so gemeint.« Sie umklammerte Robins Hände. »Tun Sie ihm nichts. Das Motorrad. Wir müssen das Motorrad loswerden. Sie sagen, es liegt nur an dem Motorrad, nicht?«
»Das ist meine Theorie.« Robin zog die Hände zurück. »Aber wenn er so auf mich losgeht wie vorhin, kann ich für nichts garantieren.« Sie ballte die Fäuste. »Meine Kehle bekommt nicht so schnell Blutergüsse wie die deiner Mutter.«
»Es ist nicht das Motorrad«, sagte Marina.
»Was?«
Gendreau holte sein Handy heraus. »Ich rufe Rook an. Vielleicht sind sie noch in Killeen. Das Flugzeug sollte vor zwanzig Minuten von Killeen-Fort Hood Airport abheben.« Er drückte das Telefon ans Ohr. »Santiago gibt so schnell nicht auf, und wir brauchen Hilfe. Und wenn wir die Reliquie konfiszieren, werden die Wölfe sie nicht einfach hergeben wollen.« Er ging hin und her. »Hey. Hier ist Andy.« Er stellte den Lautsprecher an. »Ich wollte nur fragen, ob ihr schon gestartet seid.«
»Nein«, sagte die Origo. Ihre Stimme klang dünn und metallisch. »Der Flug hat Verspätung. Tropisches Tiefdruckgebiet vom Golf her, und deshalb wurden alle Flüge heute Abend gestrichen.«
»Tja, wir haben ein kleines Problem.«
»Ich weiß nicht, ob mir die Art gefällt, wie du das sagst.«
»Wir werden von einer Biker-Gang namens Los Cambiantes verfolgt. Die Frau des Anführers hatte sich im Wohnmobil versteckt und wollte vor ihm abhauen; jetzt ist er auf dem Kriegspfad. Und er fährt ein Motorrad, das eine Reliquie ist. Transfiguration. Damit verwandelt er sich und seine Freunde in Werwölfe.«
»Eine Bande Werwölfe? Willst du mich verscheißern?«
»Was?«, fragte Navathe im Hintergrund. »Werwölfe? Mit wem sprichst du da?«
Gendreau legte sein Telefon auf den Tisch. »Wir brauchen da vielleicht eure Hilfe. Diese Burschen sind raue Gesellen. Wir haben zwei Gewehre und ausreichend Schwerter, damit He-Man einen Steifen bekommt. Ach, und einen Granatwerfer – und trotzdem haben wir die Sache nur knapp überlebt.«
»Seid ihr noch in Keyhole Hills?«
»Nein, von dort sind wir heute Nachmittag aufgebrochen. Im Augenblick sind wir hinter Almudena in Richtung Killeen unterwegs. Bis dahin brauchen wir noch ungefähr eine Stunde.«
»Wir fahren euch entgegen, und dann treffen wir uns irgendwo in der Mitte.« Man hörte Rascheln und Reißverschlüsse von Taschen, die auf- und zugezogen wurden. Navathe nahm Rooks Telefon. »Habe ich da richtig gehört: Granatwerfer? Woher zum Teufel habt ihr die?«
»Facebook«, antwortete Robin. »Ich kenne da jemanden.«
»Sehr cool«
»Und ganz legal.« Robin sah hinüber zu Marina. »Was haben Sie damit gemeint, als Sie sagten, es sei nicht das Motorrad?«
»Santiago«, sagte Carlys Mutter und gestikulierte beim Fahren, während sie sprach, »hatte schon immer so eine andere Seite. Eine fiese Seite. Und das Motorrad … Es hat diese Seite verstärkt. Verstehen Sie?«
»Ja, ich würde sagen, sich in einen Werwolf zu verwandeln hat definitiv seine brutalen Neigungen verstärkt.«
»Vermutlich wollte ich mir das vorher nicht eingestehen.«
»Dad ist kein schlechter Mensch«, warf Carly ein.
»Du hast ihn früher nicht gekannt.« Marina blickte über die Schulter. »Als er jung war, bevor er Road Captain wurde, als wir uns kennengelernt haben. Seine pasión por la vida, seine Lebenslust, war einer der Gründe, weshalb ich mich überhaupt in ihn verliebt habe. Er war ein Mann, der sich um die Dinge kümmerte, ein Anführer. Oder zumindest habe ich ihn dafür gehalten. Als du gekommen bist, wurde er … Wie heißt das? Milder?«
»Besonnener?«, half Gendreau aus.
»Ja, er wurde besonnener. Vater zu werden hat ihm die Hitze genommen. Das ist der Santi, den du kennst.«
»Vielleicht haben Sie einen Tyrannen für einen Mann mit Selbstvertrauen und Durchsetzungsvermögen gehalten«, sagte Robin. »Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand diesen Fehler macht, und garantiert ist es nicht das letzte Mal.«
»Vielleicht. Und jetzt hat dieses dumme Motorrad den Tyrannen zurückgebracht. Und zwar zehnmal schlimmer.«
»Ich glaube trotzdem, dass man ihn noch retten kann«, beharrte Carly.
»Ich glaube, ich verstehe«, sagte Robin, »dann soll er mal zeigen, was er draufhat«, Marina starrte nach vorn und sagte nichts. Sie strahlte eine müde Entschlossenheit aus, als habe sie einen Schleier vor den Augen weggerissen und sehe die Welt plötzlich zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder klar. Eine harte Dunkelheit bemächtigte sich ihrer Augen, als wäre ein Stück ihrer Seele verdunstet. Sie wirkte fast ein wenig unheimlich in ihrer wilden Entschlossenheit. Sie würde es nicht länger erdulden.
Etwas fiel durch die beschädigte Dachluke herein und landete klappernd auf dem Boden. Gendreau hob es auf.
Eine Brille. Eine Sonnenbrille zum Aufklappen.
Carly riss die Augen auf. »Die gehört Tuco.«
»Wer ist Tuco?«
»Einer der Freunde meines Vat…«
Ehe sie den Satz beenden konnte, zersplitterte das Fenster über dem Küchentisch in einem Hagel aus Glas, und eine Bestie warf sich in die Küchenecke.
Zähne funkelten wie Messer. Ein schuppiges grünes Monster mit einem Peitschenschwanz, ein gottverdammter Velociraptor von der Größe eines Mannes, ein Chupacabra mit Teufelsaugen. Robin schnappte sich das Gewehr und wollte ihm ins Gesicht schießen, doch der Chupacabra schlug es ihr aus der Hand. Der Pin im Schaft löste sich, und das AR ging auf wie eine Schrottflinte, woraufhin die Rückholfeder heraussprang und davonflog.
Während der Angreifer abgelenkt war, schnappte sich Kenway den Tomahawk aus Carlys Hand und schlug Tuco den Schwanz ab wie ein Henker. Tack!
Rotes Blut schoss aus dem abgeschlagenen Schwanz, der auf dem Tisch lag wie ein gruseliges Thanksgiving-Essen. Mit ohrenbetäubendem Geschrei stürzte sich Tuco nach hinten und versuchte zu fliehen.
Robin zog das kurze Schwert und folgte ihm zum Bett. Der Chupacabra wollte aus dem hinteren Fenster springen, verhedderte sich aber in der blutigen Bettwäsche. Sie erwischte seinen Fuß. Er fuhr herum und wollte sie beißen. Sie zuckte zurück.
Kiefer schnappten Zentimeter vor ihrem Gesicht zusammen. Tucos Atem roch wie ein fauliger Nebel, nach toten Dingen und Bud Light. Sie schlug mit dem Schwert auf seine Brust ein, doch die Schuppen der Haut waren so hart, dass die Klinge zur Seite glitt.
Eine Klaue schwang hinter ihre Schulter und riss die Rückseite ihres Arms auf. »Aarrgh!« Sie schlug mit dem Schwert auf sein großes grünes Gesicht ein, wo es vom Knochen abprallte, aber einen roten Schnitt über der Augenhöhle hinterließ. Tuco riss das riesige Maul auf, und die gespaltene Zunge schlängelte sich heraus.
»Tööte dich.«
»Fahr zur …«
Krallen trafen ihr Ohr und ihre Wange und rissen sie auf, als Tuco ihr ins Gesicht schlug.
Robins Knie knickten ein. Sie ließ ihn los und schaffte es gerade noch auf die andere Seite des Bettes, ehe er sich mit aufgerissenen Kiefern erneut auf sie stürzte. Eine Explosion zerriss die Luft, und Tuco wirbelte aus dem Fenster, wobei er Glasscherben aus dem Rahmen riss.
Kenway kippte die abgesägte Schrotflinte ab. »Hasta la vista, Chupacabron.«
Wie ein hungriger Falke schoss der Schmerz durch Robins Kopf und zerrte mit seinem scharfen Schnabel bei jedem Herzschlag an ihr. Sie berührte ihr Ohr und zuckte zusammen. Ihre Finger waren mit dickem, hellrotem Blut bedeckt.
Vorn im Wagen zerbrach Glas. Marina stieß einen Schrei aus, der Hitchcock stolz gemacht hätte. Robin rannte an Kenway vorbei durch die Küchenecke. Die Windschutzscheibe war zerschlagen; Tuco hing vom Dach herunter und umklammerte das Lenkrad.
»Lass los!« Marina zerrte an den Händen des Monsters.
Robin stürmte weiter durch den Winnebago und hätte es fast rechtzeitig geschafft. Tuco riss das Lenkrad nach Backbord und schleuderte sie nach Steuerbord, wobei sie in den Türschacht fiel, gegen die Tür prallte und diese aufstieß. Die Nacht griff nach ihr.
Sie erwischte gerade noch den Rahmen mit den Fingerspitzen. Das Schwert entglitt ihr und klapperte funkensprühend über den Asphalt.
Das Wohnmobil schwankte hin und her wie ein Piratenschiff im Sturm, fuhr über die gelbe Linie und wieder zurück. Carlys Mutter ließ das Lenkrad nicht los und kämpfte mit dem Chupacabra um die Kontrolle. Doch nach und nach verlor sie den Kampf. Robin zog sich zwischen Tisch und Küchenzeile zurück. Carly umklammerte den Tisch und schrie.
Die Reifen stießen ein langes, trillerndes Geheul aus; Geschirr fiel aus den Schränken; der Kühlschrank ging auf und spuckte Essenreste auf den Boden. Die Szene war ein wankendes Chaos inmitten ohrenbetäubenden Lärms, eine Küche, in der ein Poltergeist wütete. Kenway erhob sich schwankend und zielte mit der Schrotflinte über Robins Schulter.
Sie schob den Lauf zur Seite. »Nicht! Du triffst Marina!«
Nach einem besonders weiten Schlenker platzte mit Donnerschlag ein Reifen. Der ganze Winnebago ruckte zur Seite und kippte in einem pendelartigen Bogen. Robin glaube – und hoffte – , er würde sich wieder aufrichten, doch er kippte und kippte und nickte dabei wie eine Betrunkener. Das Tuco-Monster rutschte quer über das Loch, wo die Windschutzscheibe gewesen war, kreischte hilflos und riss Glasreste aus dem Rahmen.
Als der Winnebago auf die Seite fiel, wurden alle an die Steuerbordwand geworfen; Dosen und Geschirr folgten und polterten ihnen auf Kopf und Rücken.
Eidechsenblut zog sich über den Asphalt. Tuco brüllte, denn seine Beine verwandelten sich unter dem rutschenden Fahrzeug in Fleisch-Malstifte. Die Seitentür wurde in einem blendenden Lichtspiel abrasiert, und durch das offene Loch sprühte ein Geysir aus Blut herein. Der Winnebago rutschte auf den Randstreifen, und das Blut vermischte sich mit einer Fontäne aus Dreck.
RUMS! Das Geländer einer Brücke bohrte sich in die Kühlerhaube und würgte den Motor ab. Dann fielen sie in die Dunkelheit.
Das einzige Licht kam aus dem vorderen Teil des Wohnmobils, denn die Scheinwerfer strahlten kegelförmig ins Leere. Einer war mit Blut überzogen und erzeugte einen schaurigen roten Schein.
Möbelteile, leere Wasserflaschen, volle Konservendosen, zerbrochenes Geschirr, Abfall aus dem Mülleimer, mittelalterliche Waffen. Robin lag unter einem Haufen Schutt begraben. »Alle okay?«, fragte sie in den Wagen und lallte wegen ihrer dicken Lippe ein wenig. Mühsam richtete sie sich auf. Ein Dutzend Schrammen und Blutergüsse überzogen sie mit drei verschiedenen Arten von Schmerz. Ihr Gesicht fühlte sich an, als habe sie drei Runden gegen Muhammad Ali geboxt.
Eines der Schwerter lag neben ihr. Es war ein Wunder, dass es sie nicht aufgespießt hatte. Kenway grunzte irgendwo links von ihr.
»Doc?«, fragte sie.
»Verdammt, ich glaube, ich habe mir den Arm gebrochen.« Der Curandeiro bewegte sich und Trümmer fielen scheppernd um. »Mein Ring. Wo ist mein Ring?«
»Mooom!«
Carly schrie.
Robin wälzte sich herum, erhob sich auf die Beine und krabbelte um den Beifahrersitz herum. Das Mädchen hatte sich durch die Reste der Windschutzscheibe gebeugt und hielt etwas fest.
Das Einzige zwischen Marina und einem langen Sturz in eine Felsenschlucht war ihre Tochter Carly, die sie verzweifelt festhielt. Unter ihnen gähnte ein lichtloses Nichts, als würden sie am Rand der Welt stehen.
Here there be monsters.
»Halt durch, Mom«, sagte Carly. »Helft mir doch! Bitte!«
Robin beugte sich über Carlys Rücken und streckte die Hand nach Marina aus. »Hier, geben Sie mir Ihre andere Hand«, sagte sie und reckte ihre Hand noch weiter nach unten. Die Frau packte Robins Handgelenk, und Robin packte ihres.
Links von ihnen bewegte sich etwas.
Zwischen das Ende des Geländers und den Kühlergrill des Winnebago war der schuppige Chupacabra geklemmt. Der transfigurierte Biker war nur noch ein Wrack und hing halb aus dem Metallgewirr heraus. Nur sein abscheuliches Raptor-Gesicht und sein Arm waren frei. Tuco bemerkte die anderen und griff langsam und schwach nach Robins Gesicht.
Fiese sichelförmige Krallen kratzten über die Haube, als er Halt suchte und sich heranziehen wollte. Frisches Blut ergoss sich über das verbeulte Metall. Er hustete, aber der Laut ging in ein bestialisches Zischen über. Robin reckte sich weiter nach unten und strengte sich an, Marina hochzuheben, doch die Krallen kamen bis auf wenige Zentimeter an sie heran.
Unter ihren Knien knirschte Sicherheitsglas. Robin packte Marina mit beiden Händen und versuchte, die Frau nach oben zu ziehen. Sie zitterte dabei, und ihre Arme brannten.
Haken gruben sich in ihre Schulter. Tuco hatte sie erreicht. Die Spitzen bohrten sich in ihre Haut. Zu stark, zu scharf. Ihre Haut gab nach wie nasses Papier, und seine Krallen rutschten nutzlos auf die Haube zurück. Wieder zog er sich näher, wobei seine Rippen hörbar knirschten.
Blut aus den Löchern in ihrer Schulter rann den Arm hinunter und machte ihre Hände glitschig. Marina entglitt ihr.
»Nein, nein, nein, nein!«, schrie Robin.
Carly schlang eine Hand in die Bluse ihrer Mutter und ergriff mit der anderen ihren Hosenbund. Tuco reckte sich erneut, und eine Kralle bewegte sich kurz vor Robins Auge.
»Hab diiich«, schnarrte er stolz.
Eine riesige Faust mit blonden Haaren ging dazwischen und erwischte das Handgelenk des Eidechsendings. »Einen Scheiß hast du.« Kenway saß rittlings auf Robins Rücken und zerrte an Tucos Arm. Das Monster schrie vor Schmerzen, als Knochen brachen und Muskeln rissen. Frisches Blut rann über die Haube und spritzte auf die Frauen. Kenway riss die Überreste von Tuco von dem Geländer los und ließ ihn fallen.
Der schuppige Torso verschwand in der Tiefe, wurde von Schatten umschlungen und schlug volle drei Sekunden später auf den Felsen auf. Platsch.
»Hier.« Kenway griff über Robin hinweg.
Dabei musste er sein Gewicht auf ihr abstützen. Sie spürte, wie sie die Balance verlor und sich Richtung Loch bewegte. »Runter von mir! Sonst falle ich!«
Er stieg von ihr herunter und versuchte, sich neben ihr nach vorne zu schieben, zwischen ihrem Körper und dem Armaturenbrett, doch es war zu eng. »Augenblick«, sagte er und schlang die Arme um sie, als wollte er sie in den Würgegriff nehmen. »Ich ziehe dich, du ziehst sie.« Seine Beinprothese drückte gegen ihre Hüfte, und er setzte sich wieder rittlings auf sie.
Mit seinen schweren Armen presste er den Atem aus ihrer Lunge. Sie konnte nicht sprechen, aber trotzdem ließ sie Marinas Arm nicht los. Glitschiges Blut. Marina rutschte weiter. Die Frau murmelte ein Gebet auf Spanisch. Der Blick in ihren dunkelbraunen Augen war eindeutig – sie litt Todesängste.
»Ich verliere sie.« Robin fasste nach, suchte einen besseren Griff.
Unter ihr konnte Carly sich nicht aufrichten und sich abstützen, daher hing das ganze Gewicht der Frau an Robins Armen.
Das Mädchen grunzte. »Ich habe ihre Bluse.«
Marinas Hände flutschten durch Robins, und plötzlich hing ihr ganzes Gewicht an Carly. Aus dem Gleichgewicht geraten, stieß Robin Kenway mit dem Kopf unter das Kinn.
»Unnh!«, sagte er und wankte.
Knöpfe rissen wie Schnellfeuer ab, pop-pop-pop-pop. »Mom, ich habe dich, Mom, ich habe dich.« Die Fäuste des Mädchens ballten sich um den Kragen von Marinas Bluse. Ihre Mutter hing über dem Abgrund, die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen.
Nähte rissen. Robin beugte sich wieder über Carly und griff nach ihrer Mutter.
Als Marina die Arme nach oben ausstreckte, um Robins Hände zu packen, löste sich die Spannung ihrer Achselhöhlen, und sie rutschte aus den Ärmeln, zack, und ihre Tochter hielt nur noch eine leere Bluse. Starr vor Entsetzen schauten sie zu, wie Marina in den Cañon stürzte.