Quinn
Die digitale Uhr in meinem Auto verrät mir, dass mir bis zu meinem Vorstellungsgespräch noch fünfzehn Minuten bleiben. Obwohl es nicht wirklich ein Vorstellungsgespräch ist, eher eine Art zwangloses Treffen und Plausch. Da ich noch Zeit habe, beschließe ich, vorher zu Starbucks zu fahren. Ich parke vor dem Laden und steige aus. Schon beim Eintreten lässt mir der Duft von frisch gemahlenen Kaffeebohnen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Zu Hause habe ich eine Kerze mit demselben Aroma, weil ich einfach nicht genug davon bekomme.
Als ich an der Reihe bin, bestelle ich mir einen fettfreien Karamell-Macchiato. Während ich warte, schaue ich aus dem Fenster und beobachte die vorbeifahrenden Autos. Plötzlich erklingt ein Dröhnen, das immer lauter wird, bevor eine Gruppe von Männern auf Motorrädern vorbeizieht. Im letzten Moment kann ich ihre Lederkluft erkennen. Ich habe noch nie auf einem Motorrad gesessen, aber es scheint eine Menge Spaß zu machen.
Als mein Kaffee fertig ist, gehe ich damit zurück nach draußen und setze mich an einen der kleinen Tische, die im Schatten von ein paar Bäumen stehen. Die Luft ist warm, und es weht eine leichte Brise. Ich kann mir gut vorstellen, hierher zu ziehen. Murfreesboro ist groß, aber nicht annähernd so groß wie Nashville, wo ich momentan lebe. Doch nicht mehr lange, wenn es nach mir geht. Genug Gründe für einen raschen Umzug habe ich.
Nachdem ich meinen Kaffee getrunken und ein paar Partien Candy Crush auf meinem Handy gespielt habe, stecke ich mir einen Kaugummi in den Mund und kehre zu meinem Auto zurück. Ich brauche ein neues oder zumindest eines mit funktionierender Klimaanlage. Hoffentlich läuft das Vorstellungsgespräch heute gut und ich werde eingestellt. Wenn ich gut verdiene, kann ich mir nicht nur einen besseren Wagen, sondern auch ein Sparkonto leisten. Und irgendwann vielleicht ein eigenes Haus.
Ich fahre die Straße zurück und halte auf dem Parkplatz des Teasers . Der Club hat einen sehr guten Ruf, was ich von dem letzten, in dem ich gearbeitet habe, nicht behaupten kann. Nach allem, was dort passiert ist, freue ich mich auf die anstehende Veränderung.
Bevor ich aus dem Auto steige, werfe ich einen Blick in den Spiegel, um mein Make-up zu prüfen, und stelle mein Handy auf lautlos.
Ich betrete das Teasers . Aus versteckten Lautsprechern ertönt leise Musik. Am hinteren Ende der Bar sitzen ein Mann und eine Frau. Sie entdeckt mich zuerst und lächelt mir zu. »Hallo, bist du Quinn?«
Ich nicke. »Ja, Quinn Hughes. Schön, dich kennenzulernen.« Ich strecke ihr meine Hand entgegen. Sie schüttelt sie, während der Mann aufsteht und mich ebenfalls begrüßt.
Sie geht um die Bar herum. »Freut mich ebenso. Ich bin November, und das ist mein Bruder Brandon. Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?«
»Oh, mir geht’s gut, aber danke.«
Brandon deutet auf einen Hocker, und ich nehme Platz. »Du tanzt gerade im Joker’s , richtig?«
»Ja. Ich mag die anderen Mädchen, hatte aber Probleme mit einem übereifrigen Bewunderer. Rick, der Besitzer, hat sich geweigert, etwas zu unternehmen.«
Beide schütteln ungläubig den Kopf. Genauso habe ich mich nach dem Gespräch mit Rick gefühlt, als er mir erklärte, dass das nun mal zu einem Business dieser Art dazugehöre.
»Ich habe deine Videos gesehen. Du bist eine tolle Pole-Tänzerin«, sagt November. »Wir würden dich gerne in die Teasers -Familie aufnehmen.«
Oh mein Gott, das war leicht.
November zeigt mir den Club. Er ist wunderschön: edel, modern und sauber. Die Umkleidekabine für das Personal ist groß und aufgeräumt, während die Arbeitsflächen mit Flaschen, Bürsten, Schminktaschen übersät sind. An den Wänden hängen ansprechende Bilder.
»Das ist dein Spind und das hier dein Tisch. Wir empfehlen allen, das Trinkgeld in einer kleinen Kasse aufzubewahren. Ich will damit nicht sagen, dass wir den Mädchen nicht vertrauen. Aber man weiß nie. Und ihr arbeitet hart für euer Geld.«
Ich nehme mir vor, mir heute noch eine Kasse zu besorgen. Vielleicht eine mit einem Code. Dann muss ich mir keine Gedanken wegen des Schlüssels machen.
Nach dem Rundgang setzen wir uns an die Bar. Brandon reicht mir einige Papiere. »Das oberste Blatt brauchen wir für unsere Buchhaltung. Das darunter ist für die Steuererklärung, falls du eine abgeben willst. Wenn du das ausgefüllt hast, können wir alles andere besprechen. Hast du einen Künstlernamen?«
»Ich nenne mich Q . Das ist zwar nicht sehr kreativ, aber es könnte für Queen stehen«, antworte ich. Mich insgeheim als Königin zu bezeichnen, hat einen gewissen Reiz.
Brandon nickt und verschwindet mit seiner Schwester den Flur hinunter. Nachdem ich die Formulare ausgefüllt habe, setzt er sich wieder zu mir, erklärt mir noch einige organisatorische Dinge, beantwortet meine Fragen und sagt mir, wann ich anfangen kann. Dann bringt er mich zur Tür.
»Nochmals vielen Dank. Ich freue mich darauf, hier zu arbeiten. Ich habe nur Gutes gehört.«
»Wir sind froh, dich in unserem Team zu haben. Wenn dir jemand Ärger machen sollte, sagst du uns Bescheid, und wir kümmern uns sofort darum. Deine Sicherheit ist unser wichtigstes Anliegen«, betont Brandon, öffnet mir die Tür und reicht mir zum Abschied die Hand.
Ich nicke. »Danke. Wir sehen uns in ein paar Wochen.«
Auf der Heimfahrt bebe ich förmlich vor Aufregung. Das könnte große Veränderungen für uns bedeuten, und ich kann es kaum erwarten.
Ich öffne den letzten Karton und hoffe, dass dies unser vorerst letzter Umzug ist. Nachdem klar war, dass ich den Job im Teasers bekommen habe, suchte ich für uns ein kleines Apartment oder ein Haus in der Nähe von Murfreesboros. Zeitgleich kündigte ich unsere Zweizimmerwohnung, die eigentlich ganz nett war, und beauftragte ein Umzugsunternehmen.
Künftig wohnen wir in einem überschaubar großen Schindelhaus, das zwar günstig zu mieten ist, aber ein bisschen Pflege braucht. An der weißen Fassade blättert an einigen Stellen die Farbe ab, ein neuer Rasen wäre auch nicht verkehrt, die Büsche müssen gestutzt werden und der Vorgarten könnte ein paar Blumen vertragen. Meine Vermieterin Susan meinte, die letzten Mieter hätten das Haus verwüstet. Wir haben uns darauf geeinigt, dass ich die notwendigen Reparaturen und die Pflege des Gartens übernehme, und sie mir die dafür entstandenen Kosten von der Miete abzieht.
Nachdem ich die leeren Umzugskartons in die Waschküche gebracht habe, schaue ich nach Maci, meiner zehnjährigen Tochter. Sie sitzt mit ihrem Tablet und Kopfhörern auf der Couch.
»Wir sind fertig mit dem Auspacken. Freust du dich auf deine neue Klasse?« Ich habe sie nur ungern von ihrer alten Schule genommen, da sie nie auf einer anderen war. Doch die Beachwood Academy ist eine der besten privaten Bildungseinrichtungen im ganzen Bundesstaat und hatte zufällig noch einen freien Platz. Und der gehört nun Maci, auch dank der Empfehlungsschreiben von Macis früherem Klassenlehrer und ihrem ehemaligen Schulleiter.
»Ja, aber ich hasse die Uniformen.«
»Nimm mal kurz die Kopfhörer ab«, bitte ich sie, und sie tut wie geheißen. »Dein Schuldress ist schöner als das von Cadbury «, versuche ich sie aufzumuntern und halte den neuen grün karierten Pullover hoch. Bei warmem Wetter trägt sie ein weißes T-Shirt darunter und bei kälteren Temperaturen einen weißen Rollkragenpullover. »Wie geht’s dir mit deinen Hörgeräten?«
Maci hebt eine ihrer schmalen Schultern. »Es hilft mir, wenn viele Leute reden. Außerdem kann ich ja von den Lippen lesen. Das funktioniert auch.«
»Das ist gut, Baby. Ich kann immer noch nicht glauben, wie winzig es ist.« Ich habe etwas mehr Geld dafür ausgegeben und ihr ein roségoldenes wiederaufladbares Gerät gekauft, das direkt hinter ihren Ohren sitzt. Das durchsichtige Kabel, das ins Ohr führt, ist kaum zu erkennen.
»Wann beginnt dein neuer Job?« Ich habe meiner Tochter nie verheimlicht, dass ich Tänzerin bin. Für sie ist meine Arbeit im Club wie jeder andere Beruf und nicht das, was viele Leute darunter verstehen.
»Ich fange Donnerstagabend an.« Das ist einer der Gründe, warum ich tanze. Ich kann Donnerstag, Freitag und Samstag arbeiten und verdiene das Dreifache von dem, was ich bei einem anderen Job an fünf Tagen pro Woche einnehmen würde.
»Wird Mama Bessie bei mir bleiben?«
Mama Bessie war unsere Nachbarin in der alten Wohnung. Ich habe sie an dem Tag kennengelernt, als wir eingezogen sind. Na ja, genauer gesagt, hat Maci sie zuerst getroffen. Meine Tochter war damals zwei Jahre alt. Ich hatte sie aus ihrem Autositz genommen und war noch mit meiner Tasche beschäftigt, als sie direkt zu Mama Bessie gelaufen ist und sich von ihr auf einen Stuhl vor der Haustür setzen ließ. Mehr ist nicht passiert, bevor sie uns in ihre große Familie aufnahm. Ihre Enkelin Lisetta ist jetzt meine beste Freundin.
»Natürlich. Sie kann es kaum erwarten, unser neues Haus zu sehen.«
Mama Bessie kümmert sich an den Tagen, an denen ich arbeiten muss, um Maci. Ich habe ihr Geld dafür geben wollen, weil ich auch einen Babysitter bezahlen müsste. Doch sie hat es nie angenommen. Sie ist schon im Ruhestand und sagt immer, dass sie dadurch etwas zu tun hat. Als sie jünger war, unterrichtete sie Hauswirtschaft an einer Highschool in der Nähe von Knoxville. Meine Tochter liebt es zu lernen, wie man backt, näht und strickt, und Bessie hat ihre Freude daran, sie zu unterrichten.
Bessie ist wie eine Mutter für mich und unterstützt uns in jeder Hinsicht. Deswegen war sie auch sauer, dass ich ein Umzugsunternehmen beauftragt habe und nicht ihre Enkel um Hilfe gebeten habe. Wir sind unter der Woche umgezogen. Ich wollte nicht, dass einer von ihnen meinetwegen Urlaub nehmen muss. Außerdem hatte ich Geld gespart, um eine Firma kommen zu lassen.
»Cool.« Maci gähnt und hält sich die Hand vor den Mund. »Kann ich vor dem Schlafengehen noch etwas essen?«
Sie scheint jeden Tag einen Zentimeter zu wachsen und hat deshalb immer Hunger. »Ja, lass uns eine Kleinigkeit essen gehen.«
Maci steht auf, und ich lege meinen Arm um ihre Schultern. Gemeinsam verlassen wir das Haus – nur ich und mein Mädchen.