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Quinn

 

Der Mann, der mir gegenübersitzt, ist noch attraktiver als in meiner Erinnerung. Michaels hellbraunes Haar ist oben etwas länger und nach hinten gekämmt. Sein Bart ist fast ein wenig zu lang, aber sexy, und betont seine Lippen, die perfekt zum Küssen sind. Zumindest habe ich sie so in Erinnerung.

Seine braunen Augen haben die Farbe von Milchschokolade. Er hat die längsten Wimpern, die ich je bei einem Mann gesehen habe. Michael ist definitiv kräftiger gebaut als damals, obwohl er mittlerweile nicht mehr bei der Navy ist. Als wir uns kennenlernten, war er vierundzwanzig. Und ich hatte ihm gesagt, ich sei zwanzig, obwohl ich eigentlich erst achtzehn war. Aber das erzähle ich ihm später.

»Maci wurde am achten Juni um halb vier Uhr morgens geboren. Sie war ein klitzekleines Baby und wog keine drei Kilo. In den ersten Monaten hat sie sich gut entwickelt, bis sie etwa zwei Jahre alt war und häufiger krank wurde. Sie hatte viele Ohrentzündungen und mir fiel auf, dass sie nicht mehr so viel sprach. Außerdem musste ich lauter reden, damit sie mich verstand.«

Ich spüre, wie er meine Hände mitfühlend drückt.

»Nach einem schlimmen Fieber schickte man uns zu einem Spezialisten. Erst da erfuhr ich, dass sie auf dem linken Ohr taub war und auf dem anderen nur noch zu fünfzig Prozent hören konnte. Inzwischen hatte ich mit dem Tanzen begonnen und konnte ihr die besten Hörgeräte kaufen. Mir war es wichtig, dass sie die Gebärdensprache erlernt. Deshalb haben wir uns einen Lehrer gesucht, der uns unterrichtet hat. Sie spricht ganz normal. Aber wir gebärden auch oft, vor allem, wenn es um uns herum sehr laut ist. Sie geht auf die Beachwood Academy . Das ist ein Grund dafür, warum ich tanze. Ich habe sie immer auf die besten Schulen geschickt. Maci ist so klug und liebt Bücher. Sie ist mitfühlend, lustig, kreativ und liebevoll.« Ich schüttle den Kopf und wundere mich über meinen eigenen Redeschwall. »Tut mir leid, aber ich liebe mein Mädchen über alles.«

»Das merke ich, und es macht mich glücklich, Babe. Hast du ihr von mir erzählt?«

»Ich wusste, dass du in der Navy warst. Also weiß sie das. Ich habe ihr auch gesagt, dass ich dich nicht finden kann, und du nicht wissen kannst, dass du eine Tochter hast. Maci wird so aufgeregt sein, dich kennenzulernen. Erzähl mir von dir und was du in den letzten Jahren gemacht hast.«

Michael lässt meine Hände los, lehnt sich in seinem Sitz zurück, nimmt seinen Becher und trinkt einen Schluck. »Ich bin mit ein paar Freunden aus der Navy ausgetreten und in diese Gegend gezogen. Einer von ihnen hat Familie in Nashville. Deshalb war ich auf dem Jahrmarkt, als wir uns kennenlernten. Uns allen gefiel der Ort. Und so beschlossen wir, hier unsere Werkstatt und einen Laden für Ersatzteile und Zubehör zu eröffnen und den Broken Eagles MC zu gründen.«

»Als ich für mein Vorstellungsgespräch im Teasers in der Stadt war, habe ich euch wahrscheinlich vorbeifahren sehen.« Ich schaue kurz aus dem Fenster. »Ist das dein Motorrad?«

»Ja, das ist meins. Wenn du willst, kann ich dich mal mitnehmen.« Seine Mundwinkel verziehen sich zu einem stolzen Grinsen, das mich einerseits zum Lächeln bringt und andererseits eine angenehme Wärme in meinem Bauch hervorruft.

»Das wäre großartig.«

»Hast du eine große Familie?«, fragt er.

Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her, während ich darüber nachdenke, was ich über mich erzählen möchte. »Nachdem ich herausgefunden hatte, dass ich schwanger war, erzählte ich es meinen Eltern. Ihre Reaktion war wie erwartet: Sie haben mich rausgeschmissen und meine Konten gesperrt.« Ich zucke mit den Schultern. »Ich habe zwei Wochen gewartet, bevor ich es ihnen gesagt habe. In der Zwischenzeit habe ich mein Sparkonto aufgelöst und genug Geld von der Kreditkarte abgehoben, die sie mir gegeben hatten.« Ich betrachte Michaels Gesicht, der mir aufmerksam zuhört.

»Ich will nicht lügen oder es beschönigen, aber am Anfang war es wirklich schwer. Meine Eltern hatten Geld, also musste ich nie arbeiten. Ich war entschlossen und hartnäckig, bekam einen Job bei McDonald’s , mietete eine winzige Einzimmerwohnung und sparte jeden Cent. Ich konnte mir keine Versicherung leisten und musste Sozialhilfe in Anspruch nehmen.« Ich schüttle den Kopf, weil ich weiß, dass ich eigentlich viel zu viel erzähle. »Am Anfang war es hart, aber als Bessie in unser Leben trat, änderte sich alles. Wir haben jetzt eine große Familie, die wir lieben und die uns genauso liebt.

»Das tut mir leid. Es muss schwer für dich gewesen sein. Und ich konnte dir nicht helfen.« Michael streicht mit seinem Daumen über meine Fingerknöchel. »Jetzt hast du auch noch meine Familie und meine ältere Schwester mit ihrer Frau.«

Ich spüre, dass er das ernst meint, und muss lächeln. »Maci wird sich freuen, noch mehr Familienmitglieder zu haben.«

Wir gehen Seite an Seite aus dem Café. Er legt seine Hand auf meinen unteren Rücken und führt mich zu meinem Auto. »Babe, ich sage es nur ungern, aber dein Auto sieht aus, als würde es gleich zu Staub zerfallen.«

»Ich weiß, ich … bin nur noch nicht dazu gekommen, mir einen anderen zu besorgen.« Meine Wangen werden heiß, denn es ist nicht das erste Mal, dass ich mich für mein Auto schäme.

Michael kommt näher, legt einen Finger unter mein Kinn und bringt mich dazu, ihn anzusehen. »Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen. Warum fährst du es nicht in meine Werkstatt und lässt es mich reparieren? Das ist das Mindeste, was ich für euch beide tun kann.« Ich will ablehnen, aber er schüttelt den Kopf. »Bitte«, flüstert er.

»O-okay. Danke.«

Er beugt sich vor und küsst mich auf die Wange. »Schick mir eine Nachricht, wann ich morgen bei euch sein soll.«

»Okay, mache ich«, antworte ich nickend. Ich öffne meine Tür und drehe mich noch einmal zu ihm um. »Danke, dass du Maci kennenlernen willst. Und dafür, dass du so ruhig geblieben bist.«

»Natürlich, wie sollte ich sonst reagieren? Sie ist unsere Tochter.« Er zögert einen Augenblick. »Wir sehen uns morgen.«

Erleichtert über den Verlauf des Gesprächs, steige ich in mein Auto und beobachte, wie sich Michael auf sein Motorrad schwingt. Er setzt sich eine Pilotenbrille auf, startet den Motor und fährt davon. Verdammt, er ist so sexy, dass sich mein Inneres lustvoll zusammenzieht.

Jetzt kann ich beruhigt nach Hause gehen und Bessie und meiner Tochter erzählen, dass ich ihren Dad gefunden habe und sie ihn schon bald kennenlernen wird.

 

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Als ich in meine Einfahrt biege, geht auch schon die Haustür auf. Bessie steht in der Tür. Ich habe ihr gesagt, dass ich zu einem wichtigen Treffen fahre, aber ich wollte ihr erst mehr darüber erzählen, wenn es gute Neuigkeiten gibt.

Lächelnd gehe ich auf sie zu.

»Und?«, fragt sie.

»Wo ist Maci?«, entgegne ich und beuge mich hinunter, um Bessie zu umarmen.

»Sie ist vor einer halben Stunde beim Lesen eingeschlafen.« Sie hakt sich bei mir ein, während wir in die Küche gehen.

Ich schenke uns beiden einen süßen Tee ein, setze mich ihr gegenüber und schaue sie eine Weile nur an. »Ich habe Macis Dad gefunden. Er kam gestern Abend mit seinen Freunden ins Teasers . Er hat mich sofort erkannt. Heute haben wir uns auf einen Kaffee getroffen.« Ich greife über den Tisch und nehme ihre Hände in meine. »Er will Maci kennenlernen und kommt morgen zum Abendessen.«

»Oh, Kindchen. Ich habe so oft dafür gebetet, dass dieser Tag kommen würde.« Sie lässt meine Hände los und legt sich vor Freude eine über ihr Herz.

Ich gehe um den Tisch herum, knie mich vor sie und lasse meinen Kopf auf ihrem Schoß ruhen. Sie streicht mir übers Haar. »Ich hoffe nur, er mag sie.«

»Er wird unsere kleine Maci lieben. Ein Blick auf sie und er wird erkennen, wie besonders sie ist. Wenn er das nicht tut, schicke ich all ihre Onkel, um ihm ordentlich in den Hintern zu treten.«

Ich richte mich auf, weil ich bei der Vorstellung lachen muss. Auch Bessie kichert und zieht mich in eine Umarmung.

Wir trinken unseren Tee aus, während sie auf Onkel Marion wartet, der sie abholen will. In der Zwischenzeit erzähle ich ihr alles über Michael, oder zumindest das, was ich bisher weiß.

»Hallo?«, ruft eine tiefe Männerstimme aus dem anderen Zimmer.

»Hier drin«, erwidert Bessie laut, und ihr jüngster Sohn kommt um die Ecke.

»Hey, Mädels.« Er hat die gleiche dunkelbraune Haut wie sie und genauso warme schokoladenbraune Augen mit großen Bernsteinflecken. Ich laufe in seine offenen Arme, und er drückt mich fest an sich. Als ich zurücktrete, sieht er sich um. »Wo ist mein Mädchen?«

»Sie schläft«, antwortet Bessie und steht auf. Für eine Frau Anfang achtzig ist sie immer noch rüstig.

Ich bringe die beiden zur Tür und umarme Marion, bevor er aus dem Haus geht. Bessie legt eine Hand in meinen Nacken und zieht mein Gesicht zu sich hinunter. »Ich möchte, dass du mich sofort anrufst, wenn er gegangen ist.« Sie beugt sich weiter vor. »Und wenn er nicht gehen sollte, schickst du mir eine Nachricht.«

Meine Wangen werden heiß. Sie zwinkert mir zu und geht zu Marions Ford Escape . Als sie wegfahren, winke ich ihnen nach, dann schließe ich die Tür.

Maci schläft noch, als ich ihr Zimmer betrete. Möglichst leise klettere ich auf ihre Matratze und lege meinen Arm um ihre Taille.

Der Geruch ihres nach Erdbeeren duftenden Shampoos weht um mich herum. Ich küsse sie auf den Hinterkopf und schlafe im Handumdrehen ein.