1. Kapitel

 

 

»Her heart did whisper

that he had done it for her.«

Jane Austen, Pride and Prejudice

 

 

»Du schaffst das.« Eve nickte mir aufmunternd mit ihrer Bierflasche in der Hand zu. »Was soll schon passieren?«

Was soll schon passieren? In den vergangenen zwei Tagen hatte ich mir mindestens drei Trilliarden verschiedene Horrorszenarien ausgemalt. Von öffentlicher Demütigung über eine Verurteilung wegen Stalkings bis hin zu einem Umzug in einen anderen Bundesstaat, um unter falschem Namen ein neues Leben zu beginnen, war alles dabei gewesen. Warum zur Hölle hatte ich mich auf diesen Quatsch überhaupt eingelassen, nur um meinen Samstagabend unfreiwillig in einer Bar zu verbringen? Die Antwort auf diese Frage war leicht. Zu leicht. Sie lautete: Pech . Oder fehlendes Glück . Wie auch immer man es ausdrücken wollte. Ich hatte das kürzeste Streichholz gezogen und durfte nun die Hauptrolle in diesem akademischen Theaterstück spielen.

»Immerhin tust du es für die Wissenschaft. Also Brust raus, Rücken durchdrücken, und ran an den Feind, Matilda.« Meine Mitbewohnerin Schrägstrich beste Freundin Schrägstrich Cheerleaderin bei diesem Himmelfahrtskommando zupfte an meinen roten Locken, um sie in Form zu bringen. Da mein Haar jedoch grundsätzlich machte, was es wollte, würde sie damit wenig Glück haben. Aber nicht nur meine Frisur lag heute ganz in Eves Händen. Sie hatte auch mein Outfit ausgesucht und mein Make-up überwacht. Nur ihretwegen trug ich ein kurzes, grünes Kleid und mehr Eyeliner als jemals zuvor in meinem Leben. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich wie üblich Jeans, Chucks und irgendein Shirt angezogen. Allerdings hatte ich nach Eves Verwandlungskünsten bei dem abschließenden Blick in den Spiegel zugeben müssen, dass ich hübsch aussah – nur nicht mehr wie ich selbst. Vielleicht war das aber auch das Beste, was mir passieren konnte. Wenn mich niemand in dieser Verkleidung aus Chiffonstoff und dramatisch getuschten Wimpern erkannte, konnte ich abstreiten, diese Irre zu sein, die sich an Männer vollkommen außerhalb ihrer Liga heranmachte.

»Er sieht aus wie im Internet.« Eve lehnte neben mir an der langen Theke und beobachtete neugierig den Barkeeper. »Das Foto hat nicht zu viel versprochen.«

Nein, das hatte es leider wirklich nicht. Nick Beckett war in Natura genauso attraktiv wie auf den wenigen Bildern, die wir online gefunden hatten. Unter Umständen sogar noch attraktiver. Groß, dunkelbraunes Haar, schwarze Jeans und ein graues T-Shirt mit dem Logo des Tipsy Cow auf der Brust. Dieser Kerl hatte den Körper eines Sportlers und das Gesicht eines Models. Ich war von Anfang an nicht von unserem Experiment überzeugt gewesen. Aber ihn nur wenige Meter von mir entfernt in all seiner unerreichbaren Pracht zu bewundern, machte mir noch einmal deutlich, wie irrsinnig meine Mission war. »Ich kann das nicht.«

»Und ob du das kannst.« Als meine Freundin sollte Eve eigentlich die Stimme der Vernunft sein. Stattdessen zog sie unzufrieden eine Augenbraue in die Höhe. »Da ist doch nichts dabei.«

»Für dich vielleicht.« Eve war mein absolutes Gegenteil. Offen, neugierig, extrovertiert. Sie hatte kein Problem damit, fremde Männer anzusprechen. Bei mir sah das ganz anders aus. »Er wird mich auslachen.«

»Warum sollte er das tun?«

Dafür fielen mir mindestens zwei Dutzend gute Gründe ein. Wieso hatte ich nicht einfach Nein gesagt? »Wir stehen seit einer halben Stunde hier an der Theke. In dieser Zeit haben ihm bereits drei Mädchen ihre Telefonnummern zugesteckt.«

»So sollst du das auch nicht angehen.« Sie warf sich das blonde Haar über die Schulter und stützte das Kinn auf einer Hand ab. »Du brauchst einen wirklich guten Spruch.«

»Einen … Anmachspruch?« Es gab keine Version der Realität, in der ich so etwas cool rüberbringen konnte. »Du weißt schon, dass wir hier über mich sprechen?«

»Ja, ja. Du bist schüchtern. Ist mir durchaus bewusst. Aber es geht doch um nichts. Du willst den Typen nach dem Date nie wiedersehen.« Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Was hast du zu verlieren?«

»Meine Würde?«

Diese Antwort entlockte ihr eine Mischung aus einem Lachen und ungläubigem Schnauben. »Du schaffst das, Tilda. Vielleicht kannst du es als Übung sehen.«

»Übung?« Jetzt war Eve vollkommen übergeschnappt. »Wofür?«

»Na, wie du einen heißen Kerl ansprichst, natürlich.« Sie sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, die mich das Gesicht in den Händen vergraben ließ.

»So ruinierst du dein Make-up.«

»Ist mir egal.« Ich klang trotzig wie ein kleines Kind. Dabei war ich eher panisch. »Er hat Tattoos, Eve. Tattoos.«

»Ja, hat er.« Auch über die Musik hinweg hörte ich ihr Kichern. »Ich mag Männer mit Tattoos.«

»Aber ich nicht.« Was mehr oder weniger eine Lüge war. Dieser Nick Beckett war heiß. Mit Tattoos oder ohne. Aber er entsprach schlicht nicht meinem üblichen Typ Mann. Seit ich an der Ohio State eingeschrieben war, hatte ich in insgesamt fünf Semestern drei Dates gehabt. Mit Kommilitonen, die ich aus Lerngruppen oder gemeinsamen Vorlesungen kannte. Mit netten Kerlen, die weder Tattoos trugen, noch jede Nacht in einer Bar arbeiteten. »Kann ich nicht einfach irgendeinen anderen ansprechen?«

»Das wäre gegen die Regeln des Experiments, das hast du selbst gesagt.«

»Ich habe es mir anders überlegt.« Je länger ich Nick bei der Arbeit beobachtete, desto sicherer war ich mir, nicht ein Wort in seiner Gegenwart herausbringen zu können. »Lass uns bitte nach Hause gehen, Eve.«

Meine Mitbewohnerin drehte sich mit hochgezogener Augenbraue zu mir um. »Willst du das wirklich?«

Ja. Nein. »Keine Ahnung.«

»Du kennst ihn nicht, also kann dir doch egal sein, was er von dir denkt.«

Ich wusste, dass Eve recht hatte. Wenn ich ihn nach einem Date fragte und er nicht darauf einstieg, wäre das kein Weltuntergang. Dieses theoretische Wissen half jedoch nicht, meine Nerven zu beruhigen. »Habe ich dir erzählt, dass ich noch nie einen Mann angesprochen habe?«

»Erst fünfzehnmal in den letzten zwei Tagen.«

»Ich sage das gern auch noch ein sechzehntes Mal.« Seufzend schloss ich die Augen. »Bisher habe ich noch nie einen Mann angesprochen.«

»Und genau deswegen ist dieses Experiment deine große Chance. Wenn du damit fertig bist, machst du so was zukünftig mit links.«

Es fiel mir schwer, Eves Zuversicht zu teilen. »Oder ich werde Nonne.«

»Hm. Dann würden dir aber solche Arme wie die da vorn entgehen.«

Ich drehte den Kopf und folgte ihrem Blick. Nick Beckett hatte unglaublich schöne Arme, das stimmte. Das graue T-Shirt spannte genau im richtigen Maß über seinem Bizeps. Er war trainiert, aber nicht zu sehr. Ein weiterer Beweis dafür, wie absurd diese ganze Sache war. »Da. Siehst du. Nummer vier.« Eine wunderhübsche junge Frau mit langen, dunklen Locken beugte sich über die Theke, bis sie die Aufmerksamkeit des Barkeepers hatte. Sie trug ein bauchfreies Top, in dem ich mich niemals unter Menschen gewagt hätte. Doch im Gegensatz zu mir stand ihr so ein knappes, hautenges Teil. Sie wechselte ein paar Worte mit Nick Beckett, und selbst auf die Entfernung von zehn Metern war unschwer zu erkennen, dass sie mit ihm flirtete. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sie ihm einen Zettel über den Tresen zuschob. Nick lächelte freundlich, nahm das Stück Papier und steckte es in seine Hosentasche. Genau so, wie er es auch mit den drei Zetteln zuvor getan hatte. »Vier Nummern in vierzig Minuten. Das ist beeindruckend.« Und einschüchternd.

»Ich weiß genau, was du jetzt denkst, Tilda. Hör auf damit.« Eves Ton klang, als würde sie ein ungezogenes Kind ausschimpfen. »Du hast unrecht.«

»Du kannst nicht wissen, was ich denke.«

»Wie lange kennen wir uns jetzt?«

»Ja, ja. Schon gut.« Eve war meine älteste Freundin. Wenn sich jemand mit all den verschrobenen und wirren Gedanken in meinem Kopf auskannte, dann sie. Wir waren seit der Highschool so unzertrennlich, dass es für uns beide selbstverständlich gewesen war, an derselben Uni zu studieren und zusammenzuziehen.

Das Leben mit Eve gestaltete sich unkompliziert, wenn man davon absah, dass ich sie mit meiner neu entdeckten Leidenschaft für Zimmerpflanzen in den Wahnsinn trieb und sie mich dafür mit Country-Musik quälte.

Es war kein Wunder, dass die Wahl unserer Studienfächer sehr unterschiedlich ausgefallen war. Eve hatte sich für Jura eingeschrieben, ich für Verhaltensbiologie. Sie würde Menschen vor Gericht verteidigen, nachdem sie Fehler gemacht hatten. Ich wollte verstehen, was sie überhaupt erst dazu brachte, sich falsch zu verhalten. Eve und ich ergänzten uns und waren doch absolut verschieden.

Meinem Studienfach hatte ich den Schlamassel zu verdanken, den ich mir selbst mehr oder weniger freiwillig eingebrockt hatte. In meinem Sozialpsychologie-Seminar behandelten wir die Theorien der Partnerwahl . Angeblich fanden Menschen aufgrund von Gemeinsamkeiten zueinander. Je ähnlicher, desto eher kam die Person als möglicher Partner infrage. Dabei spielten unter anderem das Bildungsniveau, der soziale Status, die Intelligenz und die Attraktivität eine Rolle. In kleinen Arbeitsgruppen sollten wir diese Theorie entweder beweisen oder widerlegen. Ich war mir nicht mehr sicher, wer auf die dumme Idee gekommen war, eine von uns auf Dates zu schicken. Aber letztlich spielte das auch keine Rolle.

Da weder Phoebe, Willow noch ich freiwillig das Versuchskaninchen spielen wollten, hatten wir gelost – und mir war die ehrenvolle Rolle der Serien-Daterin zugefallen. Der Plan lautete, mich mit sechs Männern zu verabreden. Drei von ihnen sollten mir möglichst ähnlich sein, drei mein absolutes Gegenteil.

Die sechs Kandidaten hatten wir gemeinsam ausgesucht. Phoebe, diejenige von uns mit dem aktivsten Nachtleben, hatte Nick Beckett vorgeschlagen. Den Barkeeper des Tipsy Cow .

Ich war davon ausgegangen, dass sie ihn ausgewählt hatte, weil wir sehr verschiedene soziale Hintergründe hatten. Vielleicht auch ein anderes Bildungsniveau. Aber selbst wenn der Kerl nicht einmal die Highschool abgeschlossen hatte, war auf den ersten Blick zu erkennen, worin unser größter Unterschied lag. Er sah aus wie der aufregendste und attraktivste Mann des Planeten und ich war … ich. Matilda Reilly, die stets gute Noten bekam, selbst als Teenagerin nie in Schwierigkeiten geraten war und weder spannende Hobbys noch dunkle Geheimnisse besaß.

»Also, wie möchtest du ihn ansprechen? Mit etwas Humorvollem?« Eve ließ ihren Blick von ihm zu mir und wieder zurück wandern. »Kennst du einen lustigen Spruch?«

Wenn ich mit diesem Nick Beckett von Angesicht zu Angesicht reden sollte, würde ich meinen Namen vergessen. Wie sollte ich mir da irgendeinen cleveren Satz zurechtlegen? »Nein.«

»Hm. Du könntest einen Sex on the Beach bestellen. Wenn du dann entsprechend mit den Wimpern klimperst …« Sie grinste so breit, dass deutlich wurde, wie lustig sie sich fand.

»Großartige Idee. Ich wette, mit der Masche wäre ich ganz sicher die Erste. Außerdem will ich keinen falschen Eindruck erwecken.« Keiner meiner sechs Date-Kandidaten sollte annehmen, dass ich auf einen One-Night-Stand aus war. Es war schlimm genug, dass ich ihnen aufgrund der wissenschaftlichen Genauigkeit nicht die Wahrheit sagen konnte. Alle sechs Männer mussten zwingend glauben, ich hätte wirklich Interesse an einer Beziehung mit ihnen, was mir sowieso schon nicht behagte. Es war nicht wirklich fair, ihnen etwas vorzumachen, aber meine Bedenken hatten Phoebe und Willow nicht beeindruckt. Beide waren überzeugt von unserem Experiment und glaubten daran, dass es uns eine hervorragende Note einbringen würde.

»Hast du eine bessere Idee?«

Und ob ich die hatte. »Ich gehe nach Hause, wasche mir die Kriegsbemalung ab und sage morgen den anderen, dass ich aussteige.«

»Wäre das nicht unfair?« Eve appellierte gekonnt an mein schlechtes Gewissen. »Es hängen schließlich achtzig Prozent eurer Gesamtnote von diesem Projekt ab.«

»Warum bist du so scharf darauf, dass ich diesen Kerl anspreche?« Ich musterte meine beste Freundin und suchte in ihrem Gesicht nach Antworten, die ich nicht fand. Eve hatte das perfekte Pokerface. »Du sorgst dich bestimmt nicht um meine Noten.«

»Selbstverständlich sind mir deine akademischen Leistungen äußerst wichtig.« Sie log absichtlich so schlecht, dass sie selbst lachen musste. »Es schadet dir nicht, ein wenig Spaß zu haben.«

»Ich habe Spaß!«

Bei meinem Protest rollte sie mit den Augen. »Wann waren wir das letzte Mal aus? Du sagst mir immer wieder aus einem fadenscheinigen Grund ab.«

»Weil das nicht meine Welt ist.« Das wusste Eve genau. An einem Samstag hübsch zurechtgemacht in einer Bar zu stehen und zu flirten, war nicht meine Definition von Spaß. Im Gegenteil. Ich fühlte mich völlig fehl am Platz.

»Und genau deswegen schadet es nicht, wenn du es einfach mal ausprobierst. Wer weiß, ob du nicht doch Gefallen daran findest?«

»Vielleicht im nächsten Leben.« Hier und jetzt hätte ich fast alles dafür getan, einfach wieder nach Hause gehen zu können. Die Vorstellung, diesen Barkeeper anzusprechen, sorgte dafür, dass meine Hände schweißnass wurden und ich glaubte, mich übergeben zu müssen. Immerhin würde ich damit nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Dass einer Frau bei seinem Anblick schlecht wurde, war Nick Beckett sicher noch nie passiert.

»Du kannst nicht jedes Wochenende im Pyjama auf dem Sofa mit irgendeiner Serie verbringen.« Eve stieß mich mit dem Ellenbogen an, um meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen.

»Natürlich kann ich.« Sie wusste, wie ich meine freien Tage gestaltete.

Eve seufzte leise. »Netflix and Chill . Nur ohne Chill

»Und daran ist nichts auszusetzen.« Ich arbeitete hart für gute Noten und jobbte nebenbei als Campus-Tourguide. Mindestens zweimal in der Woche erklärte ich interessierten Eltern und ihren Sprösslingen alles, was sie über die Ohio State wissen mussten. Der Job war zwar nicht besonders gut bezahlt, aber er machte mir Spaß. Als zusätzlichen Bonus konnte ich mir die Termine so legen, dass sie nicht mit meinem Stundenplan kollidierten. Dass sich Eve um mein Privatleben sorgte, war lieb von ihr, aber unnötig. Ich lebte nicht wie eine Einsiedlerin, aber manchmal brauchte ich einfach Zeit für mich, um meine Akkus wieder aufzuladen.

»Wann war noch mal dein letztes Date?«

»Vor drei Monaten, wie du sehr genau weißt.«

»Siehst du.« Aus ihrem Mund klang es, als hätte ich mich lebenslangem Zölibat verschrieben. »Es ist dringend an der Zeit, wieder auszugehen.«

»Aber doch nicht mit ihm.« Nick Beckett nahm in diesem Augenblick eine Flasche Wodka von einem der hohen Regale hinter der Bar. Dabei zeichneten sich unter seinem Shirt deutlich trainierte Bauchmuskeln ab. Natürlich musste der Kerl auch noch ein Sixpack haben.

»Er steht auf deiner Liste.« In Eves Gesicht las ich viel zu viel Freude über mein Elend. Als gute Freundin sollte sie mir eigentlich helfen, einen Ausweg zu finden, und mich nicht in mein Verderben laufen lassen. »Also ja, mit ihm. Es gibt echt schlimmere Schicksale.«

Darüber konnte man sich streiten. Aber danach war mir nicht zumute. Ich wollte es einfach nur hinter mich bringen, um Phoebe und Willow morgen zu berichten, dass ich gnadenlos gescheitert war. Vielleicht hatte ich Glück und sie würden einsehen, dass ich als Testperson vollkommen ungeeignet war und wir uns eine andere Strategie für diese furchtbare Hausarbeit überlegen mussten. »Okay, Yoda. Hilf mir. Was sage ich zu ihm?«

 

Ich strich mir zum wiederholten Mal eine imaginäre Haarsträhne aus dem Gesicht, während ich darauf wartete, dass er mich bemerkte. Nachdem Eve mich instruiert hatte, als wäre ich eine Geheimagentin vor einer wichtigen Mission, fühlte ich mich nicht mehr komplett hilflos. Wie viel ihre Tipps wert waren, würde sich herausstellen, sobald er mir seine Aufmerksamkeit schenkte.

Das Tipsy Cow hatte sich in der letzten halben Stunde merklich gefüllt, sodass an der Bar Hochbetrieb herrschte. Nick und ein zweiter Barkeeper, der vor wenigen Minuten zu ihm gestoßen war, wirbelten in atemberaubender Geschwindigkeit hin und her, um alle Kunden so schnell wie möglich zu bedienen. Ein bisschen erinnerte mich ihre perfekte Choreografie an ein Ballett. Okay, langsam drehte ich wirklich durch. Das hier war eine Studentenbar, nicht die Metropolitan Opera .

Ich hatte mich strategisch günstig in Nicks Bereich positioniert. Hier konnte er mich nicht übersehen und würde früher oder später …

»Was kann ich dir bringen?« Mit einem Mal stand er vor mir und lächelte mich an. Hatte ich vorhin noch gedacht, dass der Typ einfach nur furchtbar gutaussehend war, sorgte sein Lächeln dafür, dass meine Knie weich wurden. Ihn aus zehn Metern Entfernung zu beobachten, war etwas vollkommen anderes, als von ihm um den Verstand gelächelt zu werden.

»Ich kann gern wiederkommen, wenn du noch Zeit brauchst.« Seine Stimme war warm, weich und stand im Kontrast zu dem regen Treiben um uns herum. Nick klang, als hätte er alle Zeit der Welt. Als würde ich ihm nicht wertvolle Sekunden stehlen, in denen er andere Kunden bedienen könnte.

»Ähm.« Ich räusperte mich leise. »Was empfiehlst du denn?« Eve hatte mir aufgetragen, genau das zu fragen. Sie glaubte fest daran, dass ich ihn so in ein Gespräch verwickeln könnte.

»Unser Craft-Beer ist gut.« Er lehnte sich nach vorn, stützte sich mit den Unterarmen auf der Theke ab und betrachtete mich stirnrunzelnd. »Bist du schon einundzwanzig?«

Nick Beckett war definitiv älter als ich. Ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Sollte ich zugeben, dass ich erst in einigen Wochen einundzwanzig werden würde? Weil ich die weltweit schlechteste Lügnerin war, nickte ich lediglich.

»Okay, ich brauche trotzdem deinen Ausweis.« Er glaubte mir nicht, was ich ihm nicht einmal verübeln konnte. Ich hätte mir mein zaghaftes Nicken auch nicht abgenommen.

»Vielleicht nehme ich doch lieber ein Bud Light.« Alkoholfreies Bier durfte man in Ohio ab achtzehn kaufen. Damit war ich auf der sicheren Seite.

»Auch dafür brauche ich einen Nachweis.« Wenn ich ihn aufhielt, ließ er sich das nicht anmerken. Nick stand seelenruhig vor mir und beobachtete mich dabei, wie ich in meiner Tasche nach meiner Geldbörse suchte.

Als ich sie endlich gefunden hatte, zog ich meinen Führerschein heraus und hielt ihn ihm entgegen.

Erst dachte ich, dass er ihn genau prüfen würde, aber er warf nur einen kurzen Blick darauf. »Nächsten Monat an deinem Geburtstag geht dein erstes Craft Beer auf mich.« Er zwinkerte mir zu, eher er sich umdrehte und ein Bier aus dem Kühlschrank unter der Theke nahm.

Flirtete er etwa mit mir? Vermutlich verhielt er sich einfach nur freundlich, weil ich eine zahlende Kundin war.

»Ein Bud Light.« Nick stellte die Flasche vor mir ab, öffnete sie geschickt und lächelte. Schon wieder.

Seine Gegenwart war eindeutig nicht gut für meinen Puls. Der überschlug sich fast, so nervös war ich. »Danke. Was bekommst du?«

Bei meiner Frage nickte er in Richtung der meterhohen Tafel links von uns, auf der in großen Buchstaben stand, dass jedes Getränk am heutigen Abend fünf Dollar kostete.

Oh.

Oh!

Ich zog einen Zehndollarschein aus der Tasche und legte ihn auf die Theke. Wenn ich mir nicht schnell etwas Kluges einfallen ließ, würde er sich umdrehen, die nächsten Gäste bedienen, und meine Chance wäre vertan. Meine nicht existente Chance, wie mir mein in seiner Gegenwart jämmerlich geschrumpftes Selbstbewusstsein zu verstehen gab. Unter normalen Umständen brachte ich ein Gespräch mit Männern zustande, doch in Nick Becketts Gegenwart schaltete mein Gehirn einfach ab. Es mussten die Tattoos sein. Diese bunten Bilder auf seiner Haut, die sich bei jeder Bewegung seiner Muskeln anspannten und mich damit durcheinanderbrachten. Nicht an seine Muskeln denken, Matilda. Seine Unterarme waren wenig hilfreich, wenn ich mich nicht wie eine Irre aufführen wollte.

»Dein Wechselgeld.« Nick hielt mir einen Fünfdollarschein hin, den ich mit zitternden Fingern annahm.

Er hatte sich bereits halb umgedreht, als es panisch aus mir herausplatzte. »Arbeitest du hier?«

Mit dieser Frage hatte ich seine volle Aufmerksamkeit. Er legte den Kopf schief und musterte mich eingehend. Oh Gott, jetzt ging er davon aus, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte. Ganz und gar nicht stimmte.

»Ich meine, ob du schon lange hier arbeitest?« Das war keiner der Sätze, die Eve mir aufgetragen hatte. Dummerweise konnte ich mich an die jedoch nicht erinnern. Es waren die Tattoos, das Lächeln, die Muskeln … und einfach alles. »Hier im Tipsy Cow . Also, ob du schon lange hier arbeitest?«

Bevor Nick mir antworten konnte, trat der zweite Barkeeper an ihn heran und wollte wissen, ob irgendein Scott oder er in den Keller gehen sollte, um neues Eis zu holen. Nick antwortete ihm, dass er sich in zwei Minuten selbst um das Eis kümmern würde.

Meine Zeit lief. Zwei Minuten. Länger hatte ich nicht, um einen Mann von mir zu überzeugen, in dessen Nähe ich mich idiotisch aufführte.

Wie er es bereits vorhin getan hatte, stützte er sich mit den Unterarmen auf der Theke ab, sodass uns nur maximal ein halber Meter trennte. »Seit etwa zwei Jahren.«

»Das ist … gut.« Was redete ich da bloß? »Gut, wenn man Barkeeper sein will. Und das ist es natürlich. Also gut. Das ist ein guter Job.« Ich biss mir auf die Unterlippe, ehe ich noch mehr Schwachsinn von mir gab. Vielleicht hatte Eve recht und ich sollte wirklich öfter ausgehen. Meine Versuche, Nick in ein Gespräch zu verwickeln, waren erbärmlich.

»Ja, das ist gut . Ich mag den Job.« Dass er mir antwortete und noch nicht geflüchtet war, machte ihn vermutlich zu einem sehr freundlichen Menschen. »Und du? Ohio State

»Hm.« Ich nickte. »Fünftes Semester.«

»Welcher Studiengang?«

Der zweite Barkeeper war zurück und bedachte mich mit einem genervten Blick. Solange sich Nick mit mir unterhielt, vernachlässigte er seine Pflichten. Ich konnte seinem Kollegen den offenkundigen Unmut nicht übelnehmen. Unter normalen Umständen hätte ich mich spätestens jetzt aus dem Staub gemacht, aber es galt, eine Mission zu erfüllen. Ich würde nicht eher aufgeben, bis ich Nick Beckett gefragt hatte, ob er mit mir ausgehen würde.

»Nick, wir brauchen dich. Travis ist ausgefallen, und an der anderen Theke ist die Hölle los.«

»Eine Minute. Sag Charlie, dass sie kurz aushelfen soll.«

»Alles klar.« Der zweite Barkeeper verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war.

Ich fühlte mich wie ein furchtbarer Störenfried. »Wenn du zu tun hast, dann …«

»Du wolltest mir noch sagen, was du studierst.« Wieder machte Nick den Eindruck, als könnte ihn rein gar nichts aus der Ruhe bringen. Weder das brechend volle Tipsy Cow noch sein Kollege.

»Biologie.« Immerhin besaß ich so viel Geistesgegenwart, ihm nicht direkt auf die Nase zu binden, dass ich Verhaltensbiologin werden wollte. Besser, ich stellte keinerlei Verbindung zu meinem Projekt und dem Grund her, aus dem ich wie ein Reh im Scheinwerferlicht vor ihm stand.

»Willst du Lehrerin werden?«

»So was in der Art.« Das war zwar nicht die Wahrheit, aber auch keine richtige Lüge. Auch Verhaltensbiologen durften theoretisch unterrichten.

»Ich bin Nick.« Er streckte mir die Hand entgegen, die ich wie in Trance schüttelte. Nicks Haut war angenehm warm, der Druck seiner Finger fest und irgendwie männlich, auch wenn das keinerlei Sinn ergab.

Ich wollte keine dieser Frauen sein, die in der Gegenwart eines gutaussehenden Mannes zu einem stotternden Super-GAU wurden, doch ich konnte nichts dagegen tun. Mit Nick zu sprechen, überforderte mich schlicht – und das lag nicht nur daran, dass er attraktiv war. Zu beobachten, wie ihm mehrere Frauen in kurzer Zeit ihre Nummern zugesteckt hatten, ließ mich an meinem Plan zweifeln. Sehr. Er würde niemals mit mir ausgehen. Ich wäre lediglich die fünfte Telefonnummer in seiner Hosentasche.

»Und du?« Seine Stimme riss mich aus meinen Telefonnummern-Hosentaschen-Albträumen.

»Ich?«

»Dein Name.« Es war unverkennbar, dass er sich über mich amüsierte. Aber nicht auf eine unangenehme Art. Sein Lächeln war nach wie vor freundlich und offen. »Er stand auf deinem Führerschein, aber es ist höflicher, danach zu fragen.«

»Matilda.«

»Nick, wir brauchen dich wirklich.« Der zweite Barkeeper hatte die dunklen Augenbrauen zusammengezogen, spielte nervös mit der Zunge an seinem Lippenpiercing herum und klang schrecklich gestresst. »Charlie fehlt vorne, wenn sie bei uns hinten aushilft, und …«

»Ich komme sofort.«

Meine Zeit war abgelaufen. Wenn ich jetzt nichts sagte … »Würdestdumitmirausgehen?« Das Blut in meinen Ohren rauschte so laut, dass es die Musik im Tipsy Cow übertönte.

Der zweite Barkeeper schüttelte lachend den Kopf, klopfte Nick auf die Schulter, drehte sich um und ließ uns damit so viel Privatsphäre, wie man sie in einer vollgestopften Bar erwarten konnte.

Mit jedem Augenblick, in dem Nick stumm vor mir stand, schwand ein Stückchen meiner Hoffnung auf ein Wunder. Natürlich wollte er nicht mit mir ausgehen. Das war mir von vornherein klar gewesen. Aber er hatte mich nach meinem Namen gefragt und nach meinem Studienfach. Ich zog den vorbereiteten Zettel mit meiner Telefonnummer aus der Tasche und legte ihn wie ein Mahnmal zwischen uns.

»Matilda, das ist sehr schmeichelhaft, aber …«

»Steck ihn einfach zu den anderen.« Ich versuchte mich an einem Lächeln. »Auch wenn du nicht anrufst, wollte ich wenigstens fragen.« Es fühlte sich an, als wäre dies der erste ehrliche Satz in den vergangenen zehn Minuten. Ich hatte es in der Tat versuchen müssen. Weil Nick Beckett einer der Kandidaten für mein Projekt war und Phoebe ihn ausgesucht hatte – und vielleicht gab es da auch einen kleinen Teil von mir, der wissen wollte, was hinter den Tattoos und dem Lächeln steckte.

Nick griff wortlos nach dem Zettel und schob ihn in seine Hosentasche. Genau, wie ich es erwartet hatte. Ich war Nummer fünf. Wie viele es wohl an diesem Abend noch werden würden? Ob die Anzahl manchmal zweistellig war?

»Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Matilda.« Im nächsten Augenblick ließ er mich stehen, um am anderen Ende der Bar eine Kundin zu bedienen.

 

»Wie ist es gelaufen?« Eve sah mich erwartungsvoll an, als ich mit angeschlagenem Ego zu ihr zurückkehrte. »Was hat er gesagt?«

»Die Hochzeit ist schon morgen und in spätestens zwei Monaten starten wir die Familienplanung.« Mit einer Mischung aus peinlicher Verlegenheit und dem Gefühl, alles falsch gemacht zu haben, setzte ich mich auf den Hocker neben ihr. »Was denkst du denn, wie es gelaufen ist?«

»Er wollte nicht mit dir ausgehen?«

»Nope.« Frustriert nahm ich einen Schluck von meinem Bier. Alkohol wäre mir nach dieser peinlichen Vorstellung lieber gewesen. Ein Filmriss, der mich diesen Abend vergessen ließ, war mit Bud Light eher unwahrscheinlich.

»Wie hast du ihn denn gefragt?« Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass Eve mich besorgt musterte. »Hast du den Spruch benutzt?«

»Nope.« Und ich bezweifelte stark, dass ein Hey, mit meinem Handy stimmt etwas nicht. Deine Nummer ist nicht eingespeichert Nicks Antwort verändert hätte. »Aber dafür habe ich ihn gefragt, ob er hier arbeitet.« Bei der Erinnerung spürte ich, wie meine Wangen erneut warm wurden.

»Autsch.« Nur mit Mühe unterdrückte Eve ein Lachen, als sie mir den Arm um die Schultern legte. »Ich bin trotzdem stolz auf dich, Tilda.«

»Weil ich mich vor einem gutaussehenden Typen gedemütigt habe?«

Seufzend stupste Eve mich an. »Du warst mutig. Das ist ein guter Grund, um stolz zu sein.«

Mut. Verzweiflung. Gruppenzwang. Was auch immer mich dazu gebracht hatte, diesem Irrsinn zuzustimmen, musste aufhören. »Morgen sage ich den anderen, dass ich aussteige.«

 

 

 

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