9 Was macht uns zu Menschen?

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Deepak Chopra

Darwin ist ein Monument geworden, der alles überragende Prüfstein, an dem die Religion nie vorbeikam. Die Lehre der Evolution hatte einen so durchschlagenden Erfolg, dass sich die meisten Menschen alternative Erklärungsmodelle nicht einmal vorstellen können. Doch muss es kein Widerspruch sein, alle Fundstücke unserer Vorfahren zusammenzunehmen, den Homo sapiens auf die ersten Primaten zurückzuführen und dennoch eine andere Antwort auf die Frage nach der Entwicklung des Lebens zu geben. Die spirituelle Weltsicht geht davon aus, dass der Ursprung des menschlichen Lebens in einem bloß physikalische Prozesse übersteigenden Bereich zu suchen ist. Wir sind zuerst Geist, dann Materie. Um Erwin Schrödinger zu zitieren: »Was wir als physikalische Körper und Kräfte wahrnehmen, sind nur Formen und Variationen der Raumstruktur.« Wenn dies auf das Universum zutrifft, dann muss es auch für uns gelten, was wiederum bedeutet, dass der Raum nicht leer ist. Im Ursprung ist er menschlich (und noch viel mehr). Jesus sagt dies im Thomas-Evangelium noch deutlicher: »Spaltet ein Holz, ich bin da. Hebt den Stein auf, und ihr werdet mich dort finden.«

Was aber bedeutet »menschlich« in diesem Zusammenhang? Wir Menschen sind so komplex und vielfältig, dass es möglich ist, unsere Spezies aus jedem nur erdenklichen Blickwinkel zu betrachten. So kann ich in meinem Lehnsessel sitzen und Hamlet zustimmen, wenn er sagt:

Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten! In Gestalt und Bewegung wie ausdrucksvoll und wunderwürdig! Im Handeln wie ähnlich einem Engel! Im Begreifen wie ähnlich einem Gott!

Und dabei fühle ich mich in die späte Renaissance zurückversetzt, in eine Welt voller Vertrauen, die immer noch am göttlichen Ursprung des Menschen festhält. Ein anderer mag vielleicht ein Lehrbuch der Anthropologie zur Hand nehmen und sich ins nordöstliche Äthiopien verpflanzt fühlen, wo Paläontologen die ältesten Überreste unserer noch menschlich zu nennenden Vorfahren ausgegraben haben. Der moderne Mensch neigt ohnehin dazu, an materielle Dinge zu glauben – Skelette, fossilisierte Zähne, ein Haarriss im Knochen, der zeigt, dass das Geschöpf, dessen Überreste er betrachtet, von einem Tier angegriffen wurde. All das scheint ihm überzeugendes wissenschaftliches Beweismaterial zu sein. Andererseits widerlegten diese Gebeine Vorstellungen, die lange Zeit als unumstößlich galten. Denn Darwin fegte ja nicht nur religiöse Ideen vom Tisch, sondern auch Jahrhunderte des Anthropozentrismus, den Glauben, der Mensch sei die Krone der Schöpfung. Mit einem Mal sanken wir zu bloßen Gliedern einer Entwicklungskette herab. Lucy, das wohl berühmteste Exemplar von Australopithecus afarensis, ist von Hamlet weit entfernt: etwa 3,2 Millionen Jahre. Jeder Schritt in die Vergangenheit führt uns näher heran ans Tierreich und immer weiter weg von Gottes speziellem Plan.

Doch wir würden unweigerlich ins gegenteilige Extrem verfallen, wenn wir nun die Beantwortung der Frage nach unserem Menschsein einzig Fossilien und Skelettüberresten überließen. Den menschlichen Geist anhand von Knochenfunden erforschen zu wollen, ist in etwa so effektiv, als würden wir ein Stethoskop ans Houstoner Baseballstadion halten, um die Regeln des Spiels zu lernen. Natürlich hat die spirituelle Weltsicht nichts dagegen einzuwenden, wenn Paläontologen sich über einen Skelettfund freuen, der noch älter ist als Lucy. (Der letzte Kandidat wurde 2009 gefunden und »Ardi« getauft, kurz für Ardipithecus ramidus. Dieses männliche Skelett ist offensichtlich 4,4 Millionen Jahre alt, mehr als eine Million Jahre älter als Lucy, aber immer noch nicht der gemeinsame Vorfahre aller Hominiden, den man vor etwa 10 Millionen Jahren vermutet.) Die Spiritualität wendet sich nur gegen die Vorstellung, dass solch ein materielles Objekt erschöpfende Auskunft über den frühen oder den heutigen Menschen geben kann. Der Reduktionismus kann den Bau eines Körpers bis auf die molekulare und atomare Ebene analysieren, doch egal, wie tief er dabei gehen mag, er wird keine Erklärung dafür finden, warum wir Menschen schöpferisch, voller Wünsche und Träume sind, einzigartige Individuen, die sich von allen anderen unterscheiden, warum wir ein Gedächtnis und viele andere zentrale menschliche Eigenschaften haben. Ebenso wie wir Theorien für die Welt der physikalischen Phänomene brauchen, brauchen wir eine Theorie für den Menschen.

Bei der Erklärung der Ursprünge des menschlichen Lebens besitzt die Spiritualität gegenüber der Wissenschaft einen doppelten Vorteil. Einmal: Das spirituelle Weltmodell ist offen für das Unvorhersehbare. Das mag sich simpel anhören, ist in Wahrheit aber sehr tiefgründig. Für die Weisen der Veden war das ganze Universum lila, ein Begriff für die spielerische Natur Gottes. Dieses Element der Spontaneität kann aus der Geschichte der Menschheit nicht einfach herausoperiert werden. Im Labor kann man Mäuse glücklich machen, indem man sie füttert. Immer wenn sie etwas zu knabbern bekommen, wird das Vergnügungszentrum im Gehirn aktiviert. Man kann noch einen Schritt weitergehen und Mäuse darauf trainieren, Futter zu erwarten, wenn sie einen Glocken- oder Summton hören (eine Abart des Pawlowschen Hundeexperiments). Wenn die Mäuse dann den Signalton vernehmen, wird ihr Vergnügungszentrum im Gehirn aktiv und zeigt, dass sie eine angenehme Erfahrung erwarten – wie wir, wenn wir an Ferien auf den Bahamas oder ein tolles Weihnachtsgeschenk denken. Die Gehirne von Mäusen und Menschen sind in dieser Hinsicht ähnlich strukturiert, doch solche Parallelen besitzen keine Beweiskraft, denn ein Mensch kann, wenn man ihm einen Teller voll verführerischer Leckerbissen hinhält, immer noch sagen: »Tut mir leid, ich bin auf Diät.« Oder: »Es ist mir zu roh, ich mag es lieber durchgebraten.« Vielleicht auch: »Ich habe keine Zeit zum Essen.« Oder: »Und was ist mit den hungernden Kindern in Afrika?« Wir Menschen können auf ein und denselben Reiz auf vielfältigste Weise reagieren. Kein Modell des menschlichen Gehirns kann tatsächlich vorhersagen, wie ich oder Sie reagieren werden. Das gilt nicht nur in puncto Essen, sondern generell für jeden Reiz. Diese Unvorhersagbarkeit ist es, die alle Formen des Determinismus aushebelt. Das aber ist fatal für die Erklärungsmodelle der Physik, da physikalische Systeme von feststehenden Prozessen gesteuert werden. Ein Kohlenstoffatom kann sich nicht aussuchen, ob es sich mit einem Sauerstoffatom verbindet. Wenn die beiden aufeinandertreffen, müssen sie reagieren. Wenn aber zwei Menschen aufeinandertreffen, dann stimmt die Chemie zwischen ihnen möglicherweise überhaupt nicht!

Stellen wir aber die Frage, welche Rolle diese Art der Unberechenbarkeit im Laufe der Evolution spielte (also wer der erste Mensch war, der sagte: »Du kannst mein Mastodonrippchen haben, ich habe keinen Hunger.«), dann klinkt sich die Wissenschaft wieder ein. Dann hören wir etwas über selbstsüchtige und altruistische Gene, die dafür verantwortlich sein sollen, dass wir uns auf eine bestimmte Weise verhalten. Doch sogar wenn wir ein Gen für Selbstsucht beziehungsweise Altruismus hätten, bräuchten wir dann nicht ein drittes, das steuert, für welche Alternative wir uns entscheiden? Schließlich können wir beides sein: selbstsüchtig und selbstlos. Wo ist das Gen, das mir vorschreibt, welches Wort ich von den mehr als 30.000 in meinem Vokabular auswähle? Welche chemische Reaktion diktiert mir, wo ich zum Mittagessen hingehe, wenn ich unter gut 100 Restaurants in der Stadtmitte wählen kann?

Der zweite Vorteil, den das spirituelle Erklärungsmodell gegenüber dem wissenschaftlichen aufweist, ist, dass es offen ist für die ganze Vielfalt unserer Erfahrungen. Sie können jede Gehirnreaktion in Reiz und Reaktion, Aktion und Gegenaktion zerlegen. Stellen Sie sich eine Zitrone vor, neben der ein Messer liegt. Nun sehen Sie vor Ihrem inneren Auge, wie sich eine Hand dem Messer nähert, es aufnimmt und die Zitrone entzweischneidet. Dann beobachten Sie, wie der Saft aus der Frucht gepresst wird. Fast jedem Menschen läuft bei dieser Vorstellung das Wasser im Mund zusammen. Ein Reduktionist würde sagen, dass wir Speichel absondern wie der sprichwörtliche Pawlowsche Hund, wenn er die Glocke hört. Ein Hund jedoch würde nie Speichel produzieren, wenn er an eine Zitrone denkt. Wir aber tun das. Wir tun sogar noch mehr: Wir schaffen in unserer Vorstellung ganze Universen. Der Facettenreichtum unserer inneren Erfahrung umfasst alles Menschliche. Er ist unser hervorstechendstes Merkmal, das uns von anderen Geschöpfen unterscheidet. Wir leben von Sinnhaftigkeit, wir darben, wenn wir unser Leben nicht mit Sinn erfüllen können.

Die Neurowissenschaft sucht nach diesen Qualitäten im Gehirngewebe. Ihr Weltbild und ihre Methoden schreiben dies vor. Das aber führt zu einer seltsamen Blindheit. Meiner Erfahrung nach kann man mit Reduktionisten über eines nicht reden: ihren unerschütterlichen Glauben, dass physikalische Prozesse Phänomene wie Sinn, Bedeutung und so weiter erklären könnten. Dabei müssten sie sich nur eine recht einfache Schlussfolgerung vor Augen halten: Sie können nicht mit einem »sinnfreien« Kosmos starten und dann am Ende beim Bedeutungsreichtum und der Vielfalt der menschlichen Existenz landen. Die Spiritualität hingegen dreht das Fernglas einfach um und richtet den Blick zuerst auf die Erfahrung. Stellt man die Frage nach dem Ursprung des Lebens aus diesem Blickwinkel, lautet die Antwort unweigerlich, dass das, was wirklich zählt, keinen Anfang und kein Ende hat. Das menschliche Leben ist wie alle anderen Phänomene eingebettet in einen Bereich jenseits von Zeit und Raum. Im Thomas-Evangelium steht dazu Folgendes: »Wenn sie zu euch sagen: ›Woher kamt ihr?‹, sagt zu ihnen: ›Wir kamen aus dem Licht, wo das Licht aus sich selbst entstand und sich begründete und sich in ihrem Bild offenbarte.‹« Die Schönheit dieser Worte lässt eine Wahrheit aufblitzen, die für beides, Wissenschaft und Spiritualität, gleichermaßen von Bedeutung ist.

Was macht uns zu Menschen?

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Leonard Mlodinow

Im Jahr 1522 entdeckten die Bewohner des Städtchens Autun in Frankreich zu ihrer großen Verärgerung, dass Ratten ihre Gerste gefressen hatten. Die Gerste gehörte den Ratten nicht, also hatten sie auch kein Recht, sie aufzufressen. Die Stadtbewohner zogen vor Gericht, und dieses beschloss, den Ratten den Prozess zu machen. Das mag uns vielleicht seltsam vorkommen, doch im Zweiten Buch Mose steht: »Wenn ein Ochse einen Mann oder ein Weib stößt, dass sie sterben, so soll man den Ochsen steinigen.« Warum sollten also Ratten über dem Gesetz stehen? Tatsächlich finden sich in vielen historischen Dokumenten Aufzeichnungen darüber, dass Tieren vom 9. bis zum 19. Jahrhundert der Prozess gemacht wurde wie Menschen. Ochsen, Schweine und Stiere wurden eingesperrt, gefoltert, um ihnen ein Geständnis abzuringen, und wenn sie zum Tode verurteilt wurden, vollstreckte derselbe Henker das Urteil, der auch Menschen hinrichtete. In Autun jedenfalls wurde der Gerichtsbüttel vors Stadttor geschickt, wo die Übeltäter angeblich hausten, und verlas dort mit lauter Stimme die Ladung. Als die Ratten nicht vor Gericht erschienen, wandte der vom Gericht ernannte Verteidiger ein, sie würden mehr Zeit benötigen, um den Weg zum Gericht zurückzulegen. Die Verhandlung wurde vertagt. Als sie ein zweites Mal nicht erschienen, meinte ihr Verteidiger, sie könnten schließlich nicht riskieren, von den feindlich gesinnten Stadtkatzen gefressen zu werden, nur um vor Gericht erscheinen zu können. Bei diesen Verhandlungen ging es nicht wirklich um Rache an bösartigen Tieren. Ein Rechtssystem erfüllt mehr Funktionen als nur Strafe und Abschreckung. Es dient dazu, die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. Wenn Tiere vor Gericht standen, so war das Bemühen um die soziale Ordnung das höhere Gut, das jeden Zweifel überwog, ob Vögel eine Seele haben, Bienen der Bosheit fähig sind und Feldmäuse in betrügerischer Absicht handeln können.

Die Organisation in sozialen Verbänden ist ein kennzeichnendes Merkmal unserer Art, ist aber nicht auf uns Menschen beschränkt. Auch Tiere wie Ameisen, Termiten und Bienen schließen sich zu Staaten oder Völkern zusammen. Auch ein Säugetier wie der Nacktmull ist Teil einer hochgradig organisierten Gesellschaft. Nacktmulle leben in unterirdischen Kolonien, die von den Arbeitern gebaut werden. Nur die Königin kann Junge bekommen. Ein einzelner Nacktmull könnte sich nicht warmhalten, ernähren oder vor Raubtieren schützen und würde folglich nicht lange überleben. Aber nicht einmal der an das Leben in der Gemeinschaft gut angepasste Nacktmull fragt sich, ob seine Mit-Nacktmulle unter Stress stehen, Angst vor Raubtieren haben oder sich um die Lage der hungernden Nagetiere in Ostafrika Gedanken machen. Ein menschliches Wesen hingegen hilft einer älteren Dame über die Straße, fragt sich, wie es dem anderen geht, und traut keinem Arzt, der einen Nasenring trägt. Außerdem hat der Mensch eine Kultur entwickelt, die andere Lebensformen nur im Ansatz haben. Menschen haben die Gabe, andere Wesen nachzuahmen. Daher lernten wir stets Neues, selbst als wir noch in der Wildnis lebten. Wir lernten Dinge, die über unsere Instinktsteuerung hinausgingen, allein indem wir andere beobachteten. Nur wenige andere Arten verfügten über diese vorteilhafte Eigenschaft. Bären haben vermutlich Tausende von Generationen gebraucht, um ihren dicken Pelz zu entwickeln. Doch es war nur ein Mensch nötig, der auf die Idee kam, einen Bären zu häuten und in dessen Haut zu schlüpfen, um nun ebenfalls einen warmen Balg zu haben. Von diesem Tag an musste unsere Art nicht mehr unter Kälte leiden. Wir Menschen von heute bauen auf den Fortschritten auf, die unsere Art im Laufe von Jahrtausenden machte. Und wir teilen unser Wissen mit der ganzen Welt.

Die Bande, die Menschen miteinander verbinden, sind weit komplexer als die unter Tieren. Sogar im Vergleich zu unseren engsten Säugetierverwandten sind unsere sozialen Fähigkeiten außergewöhnlich ausgeprägt. Rein taxonomisch betrachtet gehört der Mensch zur Familie der Hominiden, unsere Gattung, eine Art »Unterfamilie«, wird mit Homo bezeichnet. Unsere Art ist der Homo sapiens. Er gehört zu etwa einem Dutzend Arten innerhalb der Gattung Homo. Die bestbekannten sind außer unserer der Neandertaler, der Homo habilis und der Homo erectus. Diese Arten sind seit langem ausgestorben – möglicherweise, weil sie über geringere soziale Fähigkeiten verfügten als der Homo sapiens. Viele der vormenschlichen Arten taten Dinge, die der Mensch ebenfalls tut, wie Werkzeuge und Feuer nutzen, Tote bestatten und kulturelle Rituale wie das Bemalen des eigenen Körpers durchführen. Doch keiner unserer Vorgänger lebte auch nur in annähernd so komplexen Gesellschaften wie wir.

Welche einzigartigen Talente haben wir Menschen entwickelt, die uns in die Lage versetzen, effektiv mit so vielen anderen Menschen zu interagieren, in Städten zu leben, die Millionen Bewohnern eine Heimstatt bieten? Da ist zum einen die Entwicklung der Sprache. Sprache erleichtert nicht nur den sozialen Austausch, auch über Generationsgrenzen hinweg. Sie erlaubt auch Wissensvermittlung innerhalb der Gesellschaft oder zwischen einzelnen Gesellschaften. Delphine und Affen mögen Signale austauschen, doch nur der Mensch hat die Gabe, seinen Kindern komplexe Zusammenhänge zu vermitteln. Eine weitere wichtige Funktion ist die Entwicklung eines Moralkodex. Unsere Primatenvorfahren mussten sich zwar nicht damit herumschlagen, dass ihre Gesellschaft an den Rand des Abgrunds gerät, weil einige Banker Hasard spielen, doch im Allgemeinen kommen Menschen besser zurecht, wenn sie sich gegenseitig nicht die Schädel mit dem Faustkeil einschlagen. Natürlich mag es uns scheinen, als seien wir Menschen ständig auf dem Kriegspfad, doch unser Widerwille gegen das Töten ist so stark, dass eine Studie, die die US-Armee während des Zweiten Weltkriegs durchführte, ergab, dass 80 Prozent der Soldaten es nicht über sich brachten, auf den Feind zu schießen, selbst wenn sie angegriffen wurden.

Der Mensch widmet sich auch viel umfassender und aus freiem Willen humanitären Zielen als andere Arten. Bestimmte Gehirnstrukturen, die auf Belohnung reagieren, schalten sich automatisch ein, wenn wir mit anderen zusammenarbeiten. Schon Kinder von nur sechs Monaten beurteilen andere aufgrund ihres sozialen Verhaltens. In einem Experiment sahen Kinder einem »Kletterer« zu. Dieser Kletterer war eine Holzscheibe mit großen Augen auf dem kreisrunden »Gesicht«. Er stieg einen Berg hinauf und versuchte mehrfach, den Gipfel zu erklimmen, was er jedoch nicht schaffte. Nach einer gewissen Zeit kam ein »Helfer-Dreieck«, das ebenfalls aufgeklebte Augen hatte, und gab dem Kletterer einen ordentlichen Schubs, damit er es auf den Gipfel schaffte. Manchmal aber machte sich auch ein »Behinderer-Quadrat« bemerkbar. Es stieg vom Gipfel herab und schubste den runden Kletterer nach unten. Die Forscher, die das Experiment durchführten, wollten wissen, ob die Kinder – die in den Klettervorgang ja nur als Zuschauer involviert waren – auf das Quadrat wütend reagieren würden. Da die Kinder danach sehr viel öfter nach dem »Helfer-Dreieck« griffen als nach dem Quadrat, sah man diese Annahme bestätigt. Später wurde das Experiment mit einem Helfer-Dreieck und einem unbeteiligten Rechteck beziehungsweise mit einem Behinderer-Quadrat und einem unbeteiligten Rechteck wiederholt. Die Kinder bevorzugten die »netten« Dreiecke auch gegenüber dem neutralen Rechteck und das neutrale Rechteck gegenüber dem »bösen« Quadrat. Lange bevor wir Anziehung oder Ablehnung mit Worten ausdrücken können, haben wir also ein Gefühl für Ethik und Moral – wir fühlen uns von dem angezogen, was nett ist, und abgestoßen von dem, was nicht nett ist.

Eine weitere Eigenschaft, die unsere Art von den Vertretern anderer Arten unterscheidet, ist, dass wir die Fähigkeit und den Wunsch besitzen zu verstehen, was in unseren Artgenossen vor sich geht. Man bezeichnet diesen Vorgang als »Theory of Mind«, kurz ToM. ToM erlaubt uns, das frühere Verhalten anderer Personen zu interpretieren und Vorhersagen über ihr Verhalten angesichts aktueller oder künftiger Umstände zu treffen. Nur Menschen verfügen über einen sozialen Organisationsgrad und über Beziehungen, in denen ein hoher ToM von Nutzen ist. Die Wissenschaft ist sich noch nicht sicher, ob auch nicht menschliche Primaten darüber verfügen. Sollte dies aber der Fall sein, dann tun sie dies nur in sehr eingeschränkter Form. Beim Menschen allerdings entwickeln sich einfache Formen bereits im ersten Lebensjahr. Im vierten Jahr dann ist jedes Menschenkind in der Lage, Einschätzungen über den Gemütszustand anderer Menschen zu geben. Eben dies versetzt uns in die Lage, große und stark gegliederte soziale Verbände zu bilden, von der Kolchose bis zum Großkonzern. Ist diese Funktion im Individuum gestört, wie dies beispielsweise bei autistischen Kindern der Fall ist, hat der Betroffene enorme Schwierigkeit, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden.

Die Fähigkeiten, die ich hier angesprochen habe, sind der Kern dessen, was uns menschlich macht. Und wir erzielen immer größere Fortschritte beim Bemühen, ihre Lokalisierung im Gehirn festzustellen. Deepak aber will das Wesen des Menschseins unbedingt außerhalb der materiellen Welt suchen, in einem Reich, das nicht fassbar ist.

Deepak meint, die spirituelle Weltsicht biete zwei große Vorteile: Sie lasse Raum für das Unvorhersehbare und Spontane des Menschen. Er meint, es habe wenig Sinn, eine materielle Basis für die »Essenz« des Menschseins zu suchen, weil wir letztlich unvorhersehbar sind und diese wesensmäßige Unvorhersehbarkeit »alle Formen des Determinismus aushebelt«. Das aber sei »fatal für die Erklärungsmodelle der Physik«. Das stimmt nun gar nicht. Die Quantentheorie beispielsweise ist gerade deshalb berühmt geworden, weil sie der Vorhersehbarkeit enge Grenzen auferlegte. Die Physik kommt damit ganz wunderbar zurecht. Selbst wenn wir uns nicht auf die mitunter esoterisch anmutenden Gesetze der Quantentheorie stützen, gibt es viele Beispiele dafür, dass das Unvorhersehbare nicht unbedingt gegen die Naturgesetze verstößt. Ein Beispiel dafür ist der Zwergplanet Pluto, der einer chaotisch verlaufenden Bahn folgt. Das bedeutet, dass man sie langfristig nicht vorhersagen kann – das heißt aber noch lange nicht, dass er Newtons Gesetzen zuwiderhandelt. Sehen wir uns einen einfachen Stein an, der von einem Berg herabkullert. Kein Physiker würde je denken, er oder sie könne seinen Pfad vorhersagen. Aber natürlich bedeutet das noch nicht, dass dieser Pfad nicht von den Gesetzen der Physik gesteuert wird. Der Weg eines Hurrikans ist absolut unvorhersehbar. Er scheint seinen eigenen Willen zu haben, aber dem ist nicht so.

Worum es bei Deepaks Argumentation in Wirklichkeit geht, ist der freie Wille. Dieser ist für unser Selbstbild zwar bedeutsam, praktisch gesehen allerdings von geringem Erklärungswert. Ob der Mensch über freien Willen verfügt oder nicht, ist letztlich gar nicht wichtig. Auf jeden Fall hat es den Anschein, als besäßen wir einen freien Willen, eben weil unser Verhalten nicht vorhersagbar ist. Außerdem ist es ja kein Widerspruch, dass unsere Entscheidungen zwar durch die Gesetze der Physik gelenkt werden, unser Verhalten aber trotzdem nicht vorhersagbar ist. Der Mensch ist – wie die Umlaufbahn des Zwergplaneten Pluto – so komplex, dass unsere Handlungen und Entscheidungen immer bis zu einem gewissen Grad nicht berechenbar sein werden. Doch wenn wir sagen, dass wir das Verhalten von Menschen nicht vorhersagen können, ist das eine Aussage über unsere Fähigkeit zur Vorhersage, nicht darüber, ob wir einen freien Willen besitzen.

Deepak meint, ein Kohlenstoffatom könne sich nicht entscheiden, mit einem anderen Kohlenstoffatom eine Verbindung einzugehen, wir Menschen aber zeichneten uns eben dadurch aus, dass wir Wahlmöglichkeiten, ja einen freien Willen haben. Letztlich wird der freie Wille maßlos überschätzt. Die Neurowissenschaften und die moderne Psychologie rücken diesem Thema mit einer Reihe neuer Techniken zu Leibe: direkte elektrische Stimulierung der Gehirnzellen, neueste bildgebende Verfahren und neurophysiologische Untersuchungen an Tieren. Tatsächlich zeigt sich die Wissenschaft mit unserem intuitiven, traditionellen Verständnis des freien Willens nicht ganz einverstanden. Zahlreiche Experimente weisen darauf hin, dass unsere Entscheidungen weit automatischer ablaufen, als wir bislang dachten. Nehmen wir beispielsweise Ihr Schönheitsempfinden, was Gesichter angeht. Ist dies nicht etwas sehr Individuelles? Kommen hier nicht unsere höchst individuellen Vorlieben, vielleicht gerade noch beeinflusst von der Kultur, in der wir leben, zum Ausdruck? Doch unzählige Studien belegen, dass Männer und Frauen, ganz egal, welcher Kultur und Rasse sie angehören, so ziemlich die gleichen Dinge für attraktiv halten – und dass sich diese Vorlieben schon recht früh im Leben bemerkbar machen. Und worauf läuft das alles nun hinaus? Ganz einfach: Gesichter, die am ehesten dem Durchschnitt entsprechen, werden als die schönsten betrachtet. Wenn Sie also eine Castingshow aufziehen und einen Star brauchen, müssen Sie nur etwa hundert Gesichter ins Grafikprogramm eines Computers eingeben und ihren Durchschnitt herausrechnen. Das ist vielleicht nicht besonders romantisch, aber es funktioniert – die Gesichter, die durch solche Manipulationen entstehen, empfinden wir als schön. Auch unser Sinn für Moral scheint irgendwie eingebaut zu sein. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass moralische Entscheidungen für oder gegen ein bestimmtes Verhalten sehr schnell, beinahe unbewusst getroffen und erst später rational gerechtfertigt werden: unter Rückgriff auf praktische oder religiöse Argumente.

Die bislang gewonnenen Belege scheinen darauf hinzudeuten, dass die physikalische Anordnung von Atomen und Molekülen sowie die Naturgesetze, die sie steuern, unsere Zukunft ebenso beeinflussen wie sie das Strahlen der Sonne oder das Wachstum einer Rosenblüte beeinflussen. Allerdings hat die Wissenschaft keineswegs bewiesen, dass es kein immaterielles Bewusstsein gibt, das unsere Entscheidungen trifft. Bislang ist auch nicht klar, ob es je einen Beweis geben kann, dass Phänomene ohne äußere materielle Manifestation wie die Seele nicht existieren. Die Wissenschaft kann nur sagen: Wenn es sie gäbe, dann hätten wir wohl ihre Wirkung auf die materielle Welt beobachten können. Bis jetzt allerdings gibt es auch dafür keinen glaubwürdigen Beweis.

Es mag schwierig sein zu akzeptieren, dass die Natur und nicht irgendeine Spielart eines immateriellen Selbst jenseits von Raum, Zeit und Naturgesetzen unser Handeln bestimmt. Und es ist sehr schwierig, uns selbst objektiv und präzise wahrzunehmen. Unsere Urteile werden ja stets vor dem Hintergrund unserer Glaubenssätze und Erwartungen getroffen, die wiederum meist von unseren Wünschen beeinflusst sind. Al Seckel, der Illusionsspezialist, zeigte mir auf beeindruckende Weise, wie Erwartungen unsere Wahrnehmung beeinflussen. Es ging los mit ein paar Textzeilen aus Stairway to Heaven, einem Song von Led Zeppelin:

If there’s a bustle in your hedgerow, don’t be alarmed now,

It’s just a spring clean for the May queen.

(Erschrecken Sie nicht, wenn es in Ihrer Hecke raschelt.

Das ist nur der Frühjahrsputz der Maikönigin.)

In den nächsten Zeilen heißt es, dass man sein Leben auf unterschiedlichste Weise leben könne, doch man könne es ändern, wann immer man dazu bereit sei. Nachdem Seckel mir den Song vorgespielt hatte, spielte er ihn mit einem der neuen Sound-Editoren noch einmal ab, dieses Mal von rückwärts. Es scheint absurd, dass ein Lied sowohl von vorne als auch von hinten abgespielt einen Sinn ergibt, und so kam mir das Ganze auch vollkommen sinnlos vor, sooft ich auch hinhören mochte. Seckel aber behauptete, das Lied ergebe sehr wohl einen Sinn, wenn man es rückwärts abspiele, und Led Zeppelin habe dies beabsichtigt. Dann erbot er sich, mir auf die Sprünge zu helfen. Er gab mir einen Ausdruck dessen, was das Lied von rückwärts sage. Dann könne ich sozusagen »mitlesen«. Der Text lautete wie folgt:

Oh here’s to my sweet Satan. The one whose

Little path would make me sad, whose power is Satan. He’ll

give those with him 666, there was a little tool shed where

he made us suffer, sad Satan.

(Das ist für meinen süßen Satan. Der, dessen

schmaler Weg mich traurig machte, dessen Macht Satan ist. Er wird allen, die mit ihm sind, 666 geben. Dort, wo er, der traurige Satan, uns leiden ließ, stand ein kleiner Werkzeugschuppen.)

Ich erwartete, dass sich das Lied rückwärts abgespielt immer noch wie Nonsens anhören würde, doch als ich den Text mitlas, schienen die Worte unglaublich gut zu passen. Nun war ich davon überzeugt, dass Seckel recht haben müsse, und konnte gar nicht verstehen, dass mir das bei den ersten paar Malen nicht aufgefallen war! Ich war verblüfft. Dann aber meinte der Illusionskünstler zu mir, Led Zeppelin hätten ihrem Song keine satanistische Botschaft unterlegt. Diese Botschaften seien im Nachhinein hineingelesen worden. Man hätte auch andere Worte finden können, die zu dem undifferenzierten Lautsalat passten, meinte er, und ich hätte wieder geglaubt, diese Worte tatsächlich zu hören, sobald ich sie schwarz auf weiß gelesen hätte.

Wenn wir die Welt also ohne vorgefasste Meinung betrachten, wie ich das zu Anfang mit dem Lied getan hatte, beurteilt unser Verstand die Dinge anders, als wenn er sie in den Kontext eines Glaubens oder einer Erwartung stellt, wie ich das getan hatte, nachdem Seckel mir den Text in die Hand gedrückt hatte. Das gilt natürlich auch für unsere Selbstwahrnehmung. Unser »Ich« ist der grundlegendste Baustein unserer Welt. Wir können uns diesem Thema nicht ohne Voreingenommenheit nähern. Ist unsere intuitive Auffassung über den speziellen Platz, den unsere Art im Universum einnimmt (und den freien Willen, der uns zu etwas ganz Besonderem macht), richtig wie unser ursprüngliches Verständnis des Songtextes? Oder ist sie eine subjektiv gefärbte Illusion wie das Verständnis des rückwärts gespielten Songs nach Lektüre des Textes?

Wie würden wir uns selbst und die Menschheit von außen beurteilen, wenn wir nicht dazugehörten? Hoch entwickelte Aliens würden uns vielleicht in eine Reihe mit Mäusen und Eichhörnchen stellen – entwicklungsgeschichtlich niederen Wesen, die wie Automaten agieren. Sie würden sich selbst vermutlich als andersgeartet empfinden, als die einzig intelligente Art im Universum, die einzige Art, die über freien Willen verfügt. Doch nach den jüngsten Entdeckungen der Wissenschaft würden sie damit ebenso falsch liegen wie wir. Wir sind alle den Gesetzen der Physik unterworfen, den Naturgesetzen unserer materiellen Welt. Ich gebe ja zu, dass es seltsam anmutet, sich als biologische Maschine zu sehen, die von denselben Gesetzen gesteuert wird wie die Bahn des Pluto. Und doch beeinträchtigt meine Einsicht in mein wahres Wesen meine Freude am Geschenk des Lebens kein bisschen. Ganz im Gegenteil, ich weiß es eher noch mehr zu schätzen. Und das ist kein physikalisches Prinzip. So empfinde ich nun einfach.